Читать книгу Was du niemals tun solltest, wenn du unsichtbar bist - Ross Welford - Страница 14

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Granny hat mir erzählt, dass Mum in meinem Alter auch Akne gehabt hatte und dennoch eine »so hübsche junge Frau« geworden war.

Das war sie tatsächlich. Auf dem Foto in meinem Zimmer hat sie kurzes rotblondes Haar und große, etwas traurige Augen. Manchmal glaube ich, sie wusste, dass sie jung sterben würde, doch wenn ich sehe, wie sie auf anderen Bildern lacht, denke ich, dass sie gar nicht traurig war. Nur – keine Ahnung – vielleicht ein wenig … durchgedreht?

Ich kann mich kaum an sie erinnern. Ihr braucht euch also keine Sorgen zu machen, dass mich das aufregt. Ich war drei, als sie starb. An Krebs.

Mein Dad war da schon weg. Einfach nicht mehr da, verschwunden. »Drei Kreuze, dass wir den los sind.« Das ist Grannys Meinung. Sie kann es kaum ertragen, seinen Namen auszusprechen (er heißt Richard, aber für mich sieht er mehr aus wie Rick), und das einzige Bild, das ich von ihm habe, ist ein grobkörniger Schnappschuss kurz nach meiner Geburt, auf dem Mum mich im Arm hält und Dad lächelnd danebensteht. Er ist dünn, hat einen Bart und längere Haare als Mum und er trägt eine dunkle Sonnenbrille wie ein Rockstar.

»Er kam betrunken ins Krankenhaus«, sagte Granny bei einem unserer (sehr) seltenen Gespräche über ihn. »Das war er meistens.«

Mum und Dad waren noch nicht verheiratet, als ich geboren wurde, das haben sie erst später gemacht. Ich trage Mums Nachnamen, Leatherhead, genau wie Granny. So steht es auf meiner Geburtsurkunde.

Geburtsdatum: 29. Juli

Geburtsort: St. Mary’s Hospital, London

Name der Mutter: Lisa Anne Leatherhead

Beruf: Lehrerin

Name des Vaters: Richard Michael Malcolm

Beruf: Student

Und so weiter.

Das ist die Kurzfassung. Viel mehr weiß ich sowieso nicht. Granny redet nicht gern darüber, wahrscheinlich regt es sie zu sehr auf.

Granny kam noch als Kind nach London und ist dort aufgewachsen. Großvater und sie haben sich irgendwann in den Achtzigerjahren getrennt. Er lebt jetzt in Schottland mit seiner zweiten Frau (Morag? Hab ihren Namen vergessen). Mum hat mich mit dreiundzwanzig bekommen. Dad und sie wollten gar keine Familie gründen, sagt Granny. Ich bin einfach so passiert.

Mein Dad ist verschwunden, als ich ganz klein war. Es wurde keine Polizei eingeschaltet oder so. Es gab keinen Fall, der aufgeklärt werden musste. Er ist »einfach von der Bildfläche verschwunden« und laut Granny gab es kürzlich ein Lebenszeichen aus Australien.

Erst vor ein paar Wochen haben wir das letzte Mal beim Tee über ihn gesprochen.

Seit ich sieben bin, trinken Granny und ich immer Tee, wenn ich aus der Schule komme. Ich weiß, die meisten Siebenjährigen trinken eher Saft oder Milch, ich aber eben nicht. Tee und richtigen Kuchen, keine Kekse. Und nicht etwa aus einem Becher, nein, auf dem Tisch stehen eine Teekanne aus Porzellan, Teetassen, Untertassen und sogar eine Zuckerdose, obwohl wir beide keinen Zucker nehmen. Nur, damit es gut aussieht. Am Anfang mochte ich keinen Tee, er war mir zu heiß. Aber jetzt mag ich ihn.

Wir hatten an dem Tag in Gemeinschaftskunde bei Mr Parker über Berufe gesprochen. Wie immer hatte ich ganz still in der letzten Reihe gesessen, als von den Berufen der Eltern die Rede war und dass manche dieselbe Laufbahn wählen. Von meinem Vater wusste ich nur, dass er »Student« gewesen war, denn so stand es ja in meiner Geburtsurkunde.

Zwei Tage überlegte ich, wie ich herausbekommen könnte, was er denn studiert hat. Als Aufhänger fragte ich Granny beim Teeeinschenken, warum Dad damals verschwunden war.

Sie ging nicht direkt auf die Frage ein, sondern sagte: »Dein Vater hatte ein wildes Leben.«

Ich nickte, obwohl ich nicht wusste, was das bedeutete.

»Er hat schlimm getrunken. War immer viel zu waghalsig. Er wollte wohl frei von jeder Verantwortung leben.«

»Aber warum?«

»Das weiß ich wirklich nicht, Liebling. Vielleicht eine Charakterschwäche. Er war schwach und verantwortungslos. Manche Männer sind den Anforderungen der Vaterschaft einfach nicht gewachsen.« Grannys Brille war etwas heruntergerutscht und sie sah mich über den Rand an. »Vielleicht gehörte dein Vater auch dazu.«

Das war das Netteste, was sie je über ihn gesagt hatte. Meist nannte sie ihn nur »den Trinker« oder »Kindskopf«. Ihre Schultern wurden steif, die Lippen ganz schmal, und ich wusste genau, dass ihr jedes andere Thema lieber gewesen wäre als mein Dad.

Zur Frage, was er denn studiert hatte, sind wir gar nicht erst gekommen, denn Granny hat sofort das Thema gewechselt und mir erzählt, wie sie einen jungen Mann in der U-Bahn zusammengestaucht hat, weil er seine Füße auf den Sitz gestellt hatte.

Auf alle Fälle gibt es nun nur noch Granny und mich, wieder an Grannys Geburtsort, in Whitley Bay an der Nordostküste Englands. Sie besteht aber darauf, dass wir nicht in Whitley Bay wohnen, sondern in Monkseaton, das ein wenig schicker ist und für die meisten Leute erst drei oder vier Straßen weiter westlich beginnt. Für mich ist es weiterhin Whitley Bay. So leben wir glücklich miteinander in demselben Haus, aber offensichtlich an unterschiedlichen Orten.

Und außer uns beiden gibt es auch noch meine Uroma, die Mutter von Granny. Sie ist eigentlich nicht mehr richtig hier. Hundert ist sie schon und »bereits im Feenland«, sagt Granny. Aber das ist nicht fies gemeint. Uroma hatte vor ein paar Jahren einen Schlaganfall. Da blutet einem das Gehirn, und es gab »Komplikationen«, von denen sie sich nicht mehr richtig erholt hat. Sie lebt in Tynemouth, etwa zwei Meilen von hier. Sagen tut sie nie viel. Als ich das letzte Mal bei ihr war, waren die Pickel richtig schlimm, da hat sie ihre kleine Hand gehoben und mein Gesicht gestreichelt. Ihre Lippen öffneten sich, als wollte sie etwas sagen, doch es kam nichts.

Manchmal frage ich mich, was wohl wäre, wenn sie tatsächlich etwas gesagt hätte. Hätte es etwas geändert an dem, was kurz darauf geschah?

Was du niemals tun solltest, wenn du unsichtbar bist

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