Читать книгу Was du niemals tun solltest, wenn du unsichtbar bist - Ross Welford - Страница 15

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Er klebte mir an den Fersen. Schon wieder. Das dritte Mal in dieser Woche.

(Das war nur ein paar Tage, bevor ich unsichtbar wurde, wir sind also fast schon wieder am Anfang der Geschichte.)

»Alles in Ordnung, Essa?«, fragte er mit seinem Londoner Akzent. »Auf ’m Weg nach Hause? Gehn wir zusammen?«

Er ließ mir keine andere Wahl, wie er da plötzlich vor mir stand, als hätte er nur darauf gelauert, dass ich den Spind abschließe.

(Übrigens habe ich »blasiert« nachgeschlagen. Es bedeutet »aufgeblasen«, was Elliot Boyd ziemlich gut beschreibt. Es gibt noch mehr, was mich an ihm aufregt. Zum Beispiel, wie er meinen Namen sagt, es klingt wie »Essa«. Ich weiß, dass es an seinem Akzent liegt, aber wenn man schon wie ich mit einem Namen geschlagen ist, der vor hundert Jahren modern war, wäre es ganz schön, wenn die Leute ihn wenigstens richtig aussprechen würden.)

Wir gingen also zusammen nach Hause. Boyd quatschte quasi ununterbrochen über sein augenblickliches Lieblingsthema: den Leuchtturm von Whitley Bay. Zumindest eine willkommene Abwechslung zu den Kartentricks, die er mir im vergangenen Monat dauernd gezeigt hatte.

Der Leuchtturm steht am Ende des Strands. Und abgesehen davon, dass er auf Postkarten erscheint, tut er rein gar nichts. Er leuchtet nicht oder sonst was und das macht Elliot Boyd kirre. (Nur ihn, soweit mir bekannt ist.)

Und daher weiß ich nun Folgendes, ohne dass ich es jemals hätte wissen wollen:

1.Der Leuchtturm wurde achtzehnhundert-und-noch-was gebaut, aber eigentlich gab es da schon immer einen Leuchtturm.

2.Früher einmal war er der hellste Leuchtturm Englands. (Könnte sein, dass das irgendwen interessiert.)

3.Man kommt durch eine Hintertür hinauf, die niemals verschlossen ist.

Elliots Begeisterung ist schon irgendwie rührend. Vielleicht liegt es daran, dass er nicht von hier ist. Für alle anderen ist es bloß ein stillgelegter Leuchtturm am Ende des Strands. Er ist einfach … da.

Doch für Elliot Boyd ist es eine Chance, sich beliebt zu machen. Ich glaube, er tut nur so, als wäre es ihm egal, was die anderen denken, und heimlich ist es ihm gar nicht egal, und er hofft, sein Interesse an hiesigen Dingen könnte ein Weg sein, ihnen näherzukommen.

Mit der Vermutung könnte ich natürlich auch falschliegen. Er könnte ebenso gut:

a)nur ein langweiliger Nerd sein. Oder

b)versuchen, hinter dem Geschwafel irgendwas zu verbergen. Er redet nie von sich oder seinen Eltern, immer nur über irgendwelche Dinge. Vielleicht täusche ich mich auch. Es ist nur so ein Gefühl. Ich werde ihn bei nächster Gelegenheit nach seinen Eltern fragen. Mal schauen, wie er reagiert.

Auf alle Fälle habe ich seinem Gequatsche irgendwann nicht mehr zugehört, weil rechts vor uns ein Laden auftauchte, den ich schon seit Wochen im Auge hatte.

Auf der Whitley Road liegt eine ganze Reihe halb leerer Cafés, Dritte-Welt-Läden, Nagelstudios (»ziemlich gewöhnlich« laut Granny) und direkt nebeneinander noch zwei Bräunungsstudios: Geordie Bronze und der Whitley Bay Tanning Salon, der eindeutig den Preis für den fantasielosesten Namen verdient.

Mich zog das Schaufenster von Geordie Bronze an. Auf einem großen handgeschriebenen Schild stand: RÄUMUNGSVERKAUF. Wenn Läden lächeln könnten, dann hätte man ein fettes Grinsen auf dem der Konkurrenz gleich nebenan gesehen.

Ich brachte es einfach nicht übers Herz, Elliot Boyd zu sagen, er solle die Klappe halten/abhauen/mich mit dem Leuchtturm und seinen Plänen in Ruhe lassen.

Wen. Kümmert. Das?

»Ohne Scheiß, Essa, wär gar nicht schwer. Müssen uns nur zusammentun, eine Seite ins Netz stellen, all so was. Die nennen wir: Light the Light. Den Song kennste doch.«

Er fing tatsächlich an zu singen. Mitten auf der Straße und keineswegs leise. »Light up the light. I need you tonight! Lalalala oder so … love you tonight

Die Leute drehten sich um.

»Is doch ein Wahrzeichen, oder? Der sollte leuchten, Signale in die Welt senden. Wozu steht er sonst da?«

Und so weiter und so fort. Er hatte das Leuchtturm-Ding schon vor ein paar Tagen im Unterricht vorgestellt. Niemand hatte sich groß dafür interessiert. Allgemein hielt und hält man ihn für bekloppt.

Im Geordie Bronze brannte kaum Licht, aber am Tresen saß eine Frau und las in einer Zeitschrift.

»Ich geh da rein«, sagte ich. »Musst nicht auf mich warten.«

»Ach, schon gut. Ich warte. Ist was … für Mädchen, oder?«

Ich wusste genau, was er meinte. Bräunungsstudios sind ebenso wie Nagelstudios oder Friseursalons nicht der natürliche Lebensraum eines Jungen.

Was mich betrifft, so glaubt Granny, dass es ungemein wichtig ist, mit Fremden reden zu können. Zwar hat sie nie gesagt, dass sie Schüchternheit für »gewöhnlich« hält, so verrückt ist sie auch wieder nicht, aber auf jeden Fall meint sie, man sollte »sich ihr nicht hingeben«.

»Mit zehn«, sagte sie mir an meinem zehnten Geburtstag, »sollte jeder gelernt haben, hocherhobenen Hauptes klar und deutlich zu sprechen, auf diese Weise bist du jedem ebenbürtig.«

Also streckte ich den Rücken durch und trat ein. Als die Türglocke läutete, sah die Frau auf.

Sie hatte superblonde Extensions und kaute Kaugummi. Ihr weiß(licher) Kittel war an der Seite geknöpft wie bei Zahnarzthelferinnen und gegen das Weiß wirkte ihr gebräuntes Gesicht noch dunkler.

Lächelnd ging ich zum Tresen. »Hallo.«

(Grannys Vorschlag für Begrüßungen ist zwar: »Wie geht es Ihnen?«, aber sie ist auch über sechzig und ich nicht.)

Auf dem Anstecker am Kittel stand der Name der Frau: Linda. Sie nickte und hörte kurz mit dem Kauen auf.

»Sie verkaufen die Einrichtung?«, fragte ich.

Sie nickte wieder. »Ja.«

Darauf folgte ein kurzes Gespräch, bei dem ich erfuhr, dass drei Bräunungskabinen verkauft wurden, weil Geordie Bronze in einen »Preiskampf« mit dem Salon nebenan getreten war und verloren hatte. Geordie Bronze war aus dem Geschäft ausgestiegen oder so was in der Art.

Die Kabinen könnte ich für »zweitausend pro Stück« erwerben. Zweitausend Pfund.

»Aha«, sagte ich. »Vielen Dank.« Ich ging zur Tür.

»Warte, Süße«, sagte Linda. »Ist für dich, oder?«

»Ähm … ja.«

»Für die …?« Und sie beschrieb mit dem Zeigefinger einen Kreis um ihr Gesicht, was bedeuten sollte: »Für deine Pickel?«

Ich nickte und dachte: Frechheit!

Sie schenkte mir ein schmales Lächeln, und erst in dem Augenblick bemerkte ich unter dem dicken Make-up und der Bräune, dass ihre Wangen so hubbelig waren wie die Schale einer Grapefruit. Aknenarben.

»Ach, Süße, dich hat’s aber schwer getroffen, oder? Ging mir auch so in deinem Alter.« Sie legte den Kopf schräg, musterte mich und sagte: »Allerdings … ganz so schlimm war’s nicht.«

Toll, vielen Dank. Sie bat mich, ihr nach hinten zu folgen. Dort zog sie ein Laken von einer weißen Sonnenbank und hob den Deckel.

Ihr habt doch bestimmt schon mal eine Sonnenbank gesehen? Man legt sich rein, zieht den Deckel runter und ist dann in einer Art riesigem Toaster eingesperrt. Über und unter einem helle UV-Leuchtstoffröhren, das ist alles.

»Alt und etwas kaputt«, sagte Linda und rieb über einen Kratzer im Deckel. »Geht aber noch. Wir dürfen sie nur nicht mehr im Geschäft benutzen. Neue Vorschriften. Verkaufen dürfen wir sie auch nicht. Morgen kommt das Teil auf den Müll.«

Um es kurz zu machen, ich bekam das alte Modell umsonst (jaja, ich weiß!) und fünf Minuten später trug ich das Ding mit Elliot Boyd die Straße runter. Auf halbem Weg machten wir eine Pause. Er keuchte viel mehr als ich.

»Ich war noch nie braun«, sagte er. »War noch nie aus England weg.«

Falls das eine Andeutung war, dass er gern kommen und die Sonnenbank benutzen würde, stellte ich mich lieber dumm. Nicht mal er war so krass drauf, direkt darum zu bitten.

»Ich meine, da ich dir nun schon dabei helfe, das Ding nach Hause zu kriegen, könnte ich vielleicht mal vorbeikommen und mich drauflegen.«

Hmm. Wie subtil. Ich konnte nicht einfach Nein sagen. Das wäre unhöflich gewesen, und er freute sich so und brabbelte weiter – schlug sogar Zeiten vor, an denen er kommen konnte, und beschrieb, wie braun er werden würde – ich schaltete einfach ab und schleppte die schwere Sonnenbank.

Fünfzehn Minuten später schaffte ich Platz in der Garage. Ich stellte die Sonnenbank aufrecht hin und deckte sie ab, sodass sie neben dem alten Schrank und dem Stapel Kisten und anderem Ramsch für den Kirchenbasar nicht weiter auffiel.

Granny war mit Lady unterwegs. Die Garage haben wir immer nur als Lagerraum benutzt. Und da Granny so gut wie nie in die Garage ging, hoffte ich, dass ich ihr vielleicht gar nichts erzählen musste. Denn ich wollte bestimmt nicht, dass sie mir die Benutzung der Sonnenbank verbot, weil es in ihren Augen entweder zu »gewöhnlich« oder zu gefährlich war oder zu viel Strom verbrauchte oder zu … was weiß ich. Granny kann manchmal recht sonderbar sein. Da weiß man nie.

Boyd schwitzte und hatte ein hochrotes Gesicht.

»Da wirst du schön braun werden«, sagte er.

Er wollte ein Gespräch anfangen, und es war ja auch nett von ihm gewesen, mir zu helfen, also sagte ich: »Ja. Ähm … danke für, du weißt schon …«

Es trat eine dieser unangenehmen Pausen ein.

Dann sagte er: »Okay, ähm … ich werd … ähm … bis dann.«

Und weg war er.

Als Granny die Vordertür aufschloss, war ich gerade dabei, im Bad meine tägliche Dosis Dr. Changs Haut-So-Klar zu schlucken, ohne mich zu übergeben (in drei Wochen hatte es nicht die kleinste Spur einer Veränderung gegeben).

»Hallo, Granny«, sagte ich, als ich zu ihr in die Küche kam.

Sie sah mich mit einem Blick an, den man gut als misstrauisch deuten konnte. Hatte ich zu euphorisch geklungen?

Aber vielleicht machte ich mir auch zu viele Gedanken.

Später fiel mir Elliot Boyds rundes, schweißbedecktes Gesicht wieder ein, und da ging mir auf, dass ich ihm ganz nah gewesen war, ohne was Unangenehmes zu riechen.

Was du niemals tun solltest, wenn du unsichtbar bist

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