Читать книгу Was du niemals tun solltest, wenn du unsichtbar bist - Ross Welford - Страница 16

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Am nächsten Tag war Samstag, und ich brannte darauf, die Liege auszuprobieren, doch das ging nicht, weil ja Uromas 100. Geburtstag war und in ihrem Altenheim eine kleine Party stattfand.

Party klingt jetzt wild, aber das war es natürlich nicht, schließlich sind Granny und ich die einzigen Verwandten. Es gab einen Kuchen, ein paar Leute von der Kirche waren da und auch die Mitbewohner und das Personal vom Klosterblick. Das war’s auch schon.

Uroma ist in dem Heim, solange ich denken kann. Als Granny wieder herzog, wohnte Uroma aber noch ganz allein in dem großen alten Haus in Culvercot. Mein Uropa war da schon ein paar Jahre tot und eines Tages fiel Uroma in der Küche hin. (Granny sagt immer »sie stürzte zu Boden«, was ich seltsam finde. Wenn ich hinfalle, stürze ich nicht zu Boden, ich falle einfach nur hin.)

Das Haus wurde verkauft und Uroma zog ins Heim. Von dort blickt man auf einen kleinen Strand und eine Klosterruine am Rand der Klippen.

Es ist sehr still und sehr warm im Heim. Sobald man durch die große Eingangstür kommt, wird aus der kühlen Seebrise schwüle, stickige Luft, die sowohl supersauber als auch ein bisschen schmutzig riecht. Das Saubere sind Desinfektionsmittel, Holzpolitur und Lufterfrischer; das weniger Saubere riecht nach Schulkantine und etwas anderem, von dem ich nicht genau weiß, was es ist, und es vielleicht auch gar nicht wissen will.

Am Ende des mit dickem Teppichboden ausgelegten Flurs liegt Uromas Zimmer. Die Tür stand einen Spalt auf. Von drinnen hörte ich die laute fröhliche Stimme einer Schwester in breitem Dialekt.

»So, alles schick, Lizzie-Schätzchen. Nun kommt der Besuch fürs Geburtstagskind. Schön brav sein, hörst du? Ich pass auf wie’n Schießhund.«

Die Schwester winkte uns zu, als sie aus der Tür kam. Warum durften die hier so mit Uroma reden? Ich wollte der Frau nach und sie fragen: »Meine Uroma ist hundert. Warum reden Sie mit ihr wie mit einer Sechsjährigen?«

Aber genau wie die vielen Male zuvor tat ich das natürlich nicht.

Uromas voller Name ist Mrs Elisabeth C. Freeman. Granny hat allen gesagt, dass niemand Uroma je Lizzie genannt hat und dass sie Mrs Freeman als Anrede sicher vorziehen würde, aber ich glaube, die Leute hier halten Granny für arrogant.

Ich weiß, dass ich meine Uroma gern besuchen sollte, aber ich komme nicht gern hierher. Es liegt nicht an ihr. Sie ist eine nette, harmlose alte Dame. Aber ich mag mich nicht, wenn ich da bin. Ich finde es schrecklich, dass der Besuch nur eine unangenehme Pflicht für mich ist, die mich langweilt.

Noch schlimmer war es an diesem Tag, weil es etwas Besonderes sein sollte. Hundert Jahre. Das ist ziemlich beeindruckend. Ich wünschte mir damals ein wenig mehr Begeisterung meinerseits.

Granny eröffnete das Gespräch. Der größte Teil läuft meist als Monolog ab. Uroma sagt nur sehr selten was, schaut eher aus dem Fenster und nickt ab und zu, manchmal lächelt sie auch oder schläft sogar ein. In dem großen Sessel, gestützt von vielen Kissen, wirkt sie ganz klein; aus der Wolldecke schaut nur der winzige Kopf mit dem feinen weißen Schopf heraus.

»Wie geht es dir, Mum? Warst du heute schon draußen? Es ist ziemlich stürmisch, nicht wahr, Esther?«

»Ja, sehr windig.«

Normalerweise muss ich nicht viel sagen, sitze nur auf einem Stuhl am Fenster, schaue hinaus auf die Wellen und zähle die Minuten auf der tickenden Uhr am Bett. Ab und zu gebe ich einen Kommentar ab und manchmal setze ich mich neben meine Uroma und halte ihre Hand. Ich glaube, sie mag das, denn ich spüre den schwachen Druck ihrer Finger.

So war es auch dieses Mal, nur dass am Ende etwas Seltsames passierte.

Nach ein paar Minuten meinte Granny, die Brötchen müssten aufgebacken werden, und dann ging sie in die Küche, um dort Bescheid zu sagen.

Uroma wandte sich mir zu; die verschwommenen grauen Augen blickten plötzlich ganz klar und sahen mich prüfend an. Zuerst dachte ich, sie sähe auf meine Pickel, und ich wollte mich schon wegdrehen, aber sie hielt meine Hand fest. Da ging mir auf, dass sie gar nicht meine Haut anschaute, sondern mir direkt in die Augen sah. Noch mehr überraschte mich, dass sie einen ganzen Satz sagte.

»Wie alt bist du, Hinny?«

(So nennt sie mich immer. Das ist ein altes Kosewort. Uroma ist wohl die einzige noch lebende Person, die es benutzt. Sie nennt mich nie Esther. Nur Hinny.)

Ihr Stimme war ein leises Krächzen; es waren die ersten Worte, die sie an diesem Morgen sagte.

»Ich bin fast dreizehn.«

Sie nickte kurz. Granny war gerade hereingekommen, aber Uroma hatte es noch nicht bemerkt.

»Tiger«, sagte Uroma.

Nichts weiter.

Dann sammelte sie noch einmal alle Kraft und wisperte: »Pss-cat.«

Ich beugte mich vor. »Wie bitte?«

»Tiger. Pussycat.« Sie zeigte auf mich und lächelte schmal.

Ich sah zu Granny, die ganz weiß im Gesicht wurde. Alle Farbe war daraus verschwunden. Dann riss sie sich zusammen und sagte superlaut und superenergisch: »Okay, es geht gleich los. Wollen wir, Mum? Ich hab gesagt, dass sie mit den Würstchen noch warten sollen … « Es folgte ein langer Monolog der Geschäftigkeit, der offensichtlich nur von dem ablenken sollte, was Uroma gesagt hatte.

Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Keinen blassen Schimmer. Ein Tiger? Hatte sie wirklich Pussycat gesagt? Oder etwas anderes? Denn Uroma ist nun mal hundert, da funktioniert nicht mehr alles, wie es sollte – aber senil ist sie nicht.

Uroma wandte sich um. Ihr Blick war immer noch klar, und einen Augenblick lang war es, als würde man eine Person sehen, die nur halb so alt war.

»Dreizehn«, sagte sie. Irgendwas entging mir da, aber ich hätte es nicht weiter verfolgt, wenn Granny nicht urplötzlich so schroff und sachlich reagiert hätte.

»Sie wird schnell groß, nicht wahr?« Grannys Lachen klang ein wenig gequält. »Wie schnell die Zeit vergeht … Ach du meine Güte, die Zeit! Wir sehen wohl besser zu, dass wir in den Gemeinschaftsraum kommen. Die Leute warten schon.«

Was du niemals tun solltest, wenn du unsichtbar bist

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