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Etwa zur selben Stunde gingen die „Pommern“ und die „Caribian Queen“ im westlichen Bereich der „Jardines de la Reina“, einer langgestreckten Inselgruppe im Süden von Kuba, vor Anker. Das mühsame Kreuzen gegen den Wind aus Osten wurde somit unterbrochen. Die Crews an Bord beider Schiffe atmeten auf.

Im Nachlassen des Sturmes war es Dan O’Flynn gelungen, näher an die „Pommern“ heranzusegeln und Hasard zu informieren. Dan hatte ein Problem. Die „Caribian Queen“, mit Proviant und Trinkwasser ohnehin nur mangelhaft versorgt, hatte im Sturm auch ihr letztes Wasserfaß eingebüßt. Es hatte sich aus seinen Zurrings gelöst und war an der Wand des Vorratsraumes zerschmettert. Somit wurde Nachschub dringend erforderlich. Ohne Essen konnten es die Männer eine Weile aushalten – ohne Wasser nicht.

Auf einem winzigen Eiland begaben sich Dan und vier seiner Männer auf die Suche. Nach gut einer Stunde wurden sie tatsächlich fündig: Im Inneren der Insel gurgelte und sprudelte eine Süßwasserquelle, deren Naß angenehm kühl und erfrischend war. Sofort knieten sie sich hin, schöpften es mit den Händen und tranken. Dann kehrten sie mit dem Beiboot zur „Caribian Queen“ zurück und holten die leeren Weinfässer.

Während die Fässer gefüllt und wieder an Bord des Zweideckers gemannt wurden, unternahm der Seewolf mit dem Beiboot der „Pommern“ einen Abstecher zur Nachbarinsel. Dan wollte hinter dem dicht wuchernden Dschungel, der sich im Zentrum der Insel über einige flache Hügel hinzog, Mastspitzen entdeckt haben. Durch das Spektiv ließ sich jedoch nichts Genaues erkennen. Deshalb hatte sich Hasard entschlossen, eine Inspektionsfahrt durchzuführen.

Seine Begleiter waren Renke Eggens, Ferris Tucker, Big Old Shane, Carberry und Smoky. Sie hatten Musketen, Tromblons, genug Munition, Flaschenbomben und Hasards Radschloß-Drehling an Bord und glaubten, somit gegen jede Art von unangenehmen Überraschungen gewappnet zu sein. Hasard als Bootsführer bediente die Ruderpinne, die beiden anderen pullten kräftig durch die schmale Passage zwischen den beiden Inseln.

Die „Pommern“ hätte hier nicht passieren können. Das Wasser war zu flach, wie sie durch Ausloten feststellten. Außerdem gab es Korallenriffs und Sandbänke in reichlicher Zahl, die das Manövrieren mit einem Schiff ebenfalls nicht zuließen. Man hätte nur die ganze Gruppe im Nordwesten runden und sich von der nördlichen Seite her der Insel nähern können, aber das hätte wiederum zuviel Zeit erfordert.

„Dan hat sich bestimmt nicht getäuscht“, sagte Hasard. „Aber ich glaube nicht, daß wir auf die Queen und Caligula mit ihren letzten Kumpanen stoßen. Das wäre denn doch ein zu großer Zufall.“

„Ich halte das auch für unwahrscheinlich“, sagte Shane. „Aber wir sollten dennoch nachsehen, um was für ein Schiff es sich handelt.“

„Vielleicht ein Geisterkahn“, brummte Carberry. „Wir nehmen eine Spiere davon als Andenken für Old O’Flynn mit. Er kann sie sich in seine Rutsche hängen, damit er was zum Spintisieren hat.“

Sie rundeten die westliche Seite der Insel und stießen wenig später in einer kleinen, idyllisch wirkenden Bucht an der nordöstlichen Seite auf das fremde Schiff. Es entpuppte sich als das Wrack einer Dreimast-Galeone.

Vorsichtig pullten sie in die Bucht. Hasard hatte den Radschloß-Drehling jetzt in den Händen und hielt ihn schußbereit. Aber nichts ereignete sich. Kein Mensch befand sich an Bord des Wracks, das halb nach Backbord gekrängt auf einer Sandbank festsaß. Es war verrottet und verlassen, tatsächlich haftete ihm etwas Unheimliches an, wie der Profos schon richtig vermutet hatte.

Die Untersuchung ergab, daß es sicherlich schon seit Jahren hier lag.

„Eine spanische Galeone“, sagte Hasard. „Wahrscheinlich hat sie seinerzeit in einem Sturm Zuflucht in dieser Bucht gesucht.“

„Dabei ist sie dann aufgebrummt“, fügte Ferris hinzu. Er war an Bord geentert und hatte sich die unteren Schiffsräume angesehen. „Sie ist dabei ziemlich ramponiert worden und in der Mitte auseinandergebrochen. Es lohnte wohl nicht mehr, sie zu bergen, die Reparatur wäre zu aufwendig gewesen.“

„Aha“, sagte Renke Eggens. „Darum hat der Kapitän sie aufgegeben. Er ist mit seinen Leuten in Beibooten nach Kuba übergesetzt. Später hat man wohl die Ladung abgeborgen.“

„Auch die Kanonen“, erklärte Ferris. „Und alles, was noch brauchbar war. Nur den hohlen Schiffsrumpf haben sie hier zurückgelassen.“

„Schlampig, die Dons“, sagte Carberry. „Sie hätten diesen Schandfleck ruhig ganz beseitigen können. Man läßt Galeonen nicht einfach so herumliegen.“

Hasard mußte unwillkürlich lachen. „Den Rest besorgt die Natur. Das Holz ist faulig und von Würmern zerfressen. Es ist nur noch eine Frage von Wochen oder Monaten, dann zerfällt der Kahn.“

Sie legten wieder von dem Wrack ab und landeten am weißen Sandstrand der Insel. Der Gründlichkeit halber suchten sie auch hier alles ab und drangen ziemlich weit ins Innere vor. Danach stand es fest: Die Insel war unbewohnt.

„Keine Spur von der Queen also“, sagte Smoky. „Es wäre ja auch zu schön gewesen. Ich würde was drum geben, zu erfahren, wo sie sich verkrochen hat.“

„Wir erfahren es schon noch“, sagte Hasard. „Vielleicht früher, als uns lieb ist.“

„Oder wir stoßen irgendwo auf ihre Leiche“, sagte der Profos. „Sie ist am Ende. Sie kriegt kein Bein mehr an Land, Sir. Wir wissen doch jetzt, wie es um sie bestellt ist.“

„El Tiburons Schuß hat sie nicht getötet, aber er hat sie für immer gezeichnet“, sagte auch Shane. „Davon erholt sie sich nicht mehr. Vielleicht geht ihr auch Caligula von der Fahne. Wen hat sie dann noch? Nur die vier zerlumpten, müden Halunken, die zu faul zum Kämpfen sind.“

Hasard war anderer Ansicht. Die Queen war zäher als alle anderen Gegner, mit denen der Bund der Korsaren bisher aneinandergeraten war. Und sie war unberechenbar. Früher oder später würde sie doch wieder auftauchen, davon war er überzeugt. Andererseits aber hatte es wenig Sinn, sich mit den abenteuerlichsten Vermutungen über das Schicksal der Queen abzugeben. Auf die Zukunft hatten sie ohnehin keinen Einfluß.

Die Männer verließen die Insel und pullten zur „Pommern“ und zur „Caribian Queen“ zurück. Hier berichteten sie, was sie gesehen hatten. Dan O’Flynn und die Männer des Zweideckers hatten unterdessen das An-Bord-Mannen der vollen Wasserfässer abgeschlossen. Die Reise konnte fortgesetzt werden.

Kurze Zeit darauf wurden die Anker gelichtet. Die Schiffe gingen wieder in See – mit Kurs auf die Schlangen-Insel.

Analog zu den Geschehnissen an Bord der „San Sebastian“ hatten sich auch auf der „Almeria“ die Dinge dramatisch entwickelt. Die Meuterer hatten Schußwaffen, und ihre Horde hatte sich inzwischen etwas vergrößert, weil auch einige Seeleute die Gelegenheit nutzten, sich gegen die Schiffsführung aufzulehnen. Wieder waren es, wie auf der „San Sebastian“, die Ex-Sträflinge aus dem Kerker von Cadiz. Im dichten Pulk stürmten sie auf das Achterdeck zu und feuerten. Die Schüsse knallten, aber Alentejo ließ sofort zurückschießen.

Zehn Musketen krachten auf dem Achterdeck, die Garbe traf voll in den Trupp der Meuterer. Zwei, drei Gestalten stürzten, andere brüllten vor Schmerz und hielten sich ihre blutenden Wunden. Marcela Buarcos blieb wie durch ein Wunder unversehrt und warf sich hin. Sie robbte auf den Planken wieder zum Vorschiff zurück und suchte hinter dem Fockmast Deckung.

Denn inzwischen hatten Alentejo und seine Männer das Achterdeck verlassen und warfen sich den Aufrührern mutig entgegen. Verstärkung erhielten sie von den loyalen Seeleuten und den Auswanderern, die inzwischen durch eine der Luken auf das Hauptdeck gestiegen waren. Was unten geschehen war, hatte die meisten davon überzeugt, daß es an der Zeit war, mit dem Gesindel aufzuräumen. Ramón Vega Venteja hatte für alle Passagiere gehandelt und entschlossen sein Leben eingesetzt. Und auch der alte Seemann hatte versucht, den Aufstand zu verhindern. Jetzt lagen sie wie leblos auf den Planken. Es brach sowohl den Frauen als auch den Männern das Herz, wie Sabina und Pablito um ihren Vater weinten. Die Wut auf Marcelas Bande war größer als alle Bedenken.

So kämpfte ein starker Trupp gegen die Meuterer, und Alentejo ließ sofort Musketen und Pistolen an alle verteilen, die keine Waffen hatten. Es krachte und knallte, und die Kugeln flogen den Meuterern um die Ohren.

Mit einer derart schnellen und heftigen Reaktion hatte selbst Marcela nicht gerechnet. Sie kauerte mit verkniffenem, haßerfüllten Gesicht hinter dem Fockmast. Langsam hob sie die Muskete. Die Situation war verzweifelt, aber noch nicht aussichtslos. Sie wußte, was sie zu tun hatte.

Sie war nicht nur eine ausgekochte und mit allen Wassern gewaschene Hafenhure, sondern auch ein skrupelloses Flintenweib. Ihre Erfahrungen waren mannigfach. Sie war bereits mit Philipps II. Soldaten mitmarschiert und wußte, wie man in einem Kampf vorging. Auch kannte sie sich mit allen Waffen aus.

Ihr ursprüngliches Vorhaben, das Achterdeck mit dem Ziel zu stürmen, in die Waffenkammer zu gelangen, war an dem erbitterten Widerstand von Kapitän und Schiffsführung gescheitert. Hinzu kam die Unterstützung durch die Mannschaft und die Auswanderer – auch das hatte sie in ihre Berechnungen nicht mit einbezogen. Sie verfluchte Ramón und alle anderen, die zum Achterdeck hielten. Dann zielte sie mit der Muskete auf Kapitän Alentejo.

Die Meuterer hatten unterdessen das Vorschiff geentert und verschanzten sich. Wie Rascón an Bord der „San Sebastian“ ließ Alentejo die Schotten zum Achterdeck verriegeln und verrammeln. Der Hohn der Situation wollte es, daß auf der „Almeria“ nahezu alles genauso verlief wie auf der „San Sebastian“, wo jetzt eine Kampfpause eingetreten war.

Aber etwas war doch anders – dafür sorgte Marcela. Noch hatte man sie nicht hinter dem Fockmast entdeckt.

Alentejo enterte in diesem Moment auf das Achterdeck zurück, verharrte an der Schmuckbalustrade und rief den Meuterern zu: „Ergebt euch! Es hat keinen Sinn, daß ihr euch auflehnt! Euer Unternehmen ist zum Scheitern verurteilt! Seid vernünftig!“

Die Kerle im Vordeck lachten nur. Marcela schob den Lauf der Muskete fast behutsam noch ein Stück weiter vor. Sie hielt die Waffe gegen den Mast gepreßt und hatte auf diese Weise mehr Sicherheit beim Zielen, etwa so, als habe sie eine Gabelstütze zum Auflegen der Muskete zur Verfügung.

Alentejo stand hochaufgerichtet da, die Chance war günstig. Marcela drückte ab. Der Schuß krachte, eine Feuerlanze fuhr aus der Mündung, und die Kugel erreichte Kapitän Juan Alentejo, bevor er sich in Deckung werfen konnte.

Stöhnend brach er hinter der Balustrade zusammen und hielt sich mit einer Hand die blutende Schulter. Im Vordeck lachten und grölten die Kerle. Sie pfiffen schrill und schrien „Hurra“, und Marcela grinste wie der Teufel persönlich. Sie ließ die Muskete sinken und zog sich langsam zurück, flach auf die Planken gepreßt, damit sie kein Schußziel bot.

Der Erste Offizier stieß einen Fluch aus und stürzte an eine der achteren Drehbassen. Er schwenkte sie in ihrer Gabellafette herum und zielte auf das Vordeck.

„Feuer her!“ brüllte er. „Jetzt schieße ich das Vorkastell kurz und klein!“

Alentejo hatte sich halb aufgesetzt und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Balustrade. Er hatte gewaltige Schmerzen, es brauste in seinem Kopf, schwarze Schleier wallten vor seinen Augen auf und ab. Doch er war noch halbwegs bei Besinnung. Er hob die Hand und winkte ab.

„Señor“, sagte der Steuermann zum Ersten. „Der Capitán will nicht, daß Sie feuern.“

Der Erste ließ von der Drehbasse ab und eilte zu Alentejo. Er kniete sich neben ihn, sah die Schulterwunde und sagte: „Señor, es ist die einzige Möglichkeit, mit diesem Pack aufzuräumen. Lassen Sie mich schießen.“

„Nein.“ Alentejos Gesicht war schmerzverzerrt.

„Wo steckt der Feldscher?“ schrie der Erste Offizier.

„Hier!“ Der Mann enterte in diesem Augenblick aufs Achterdeck. Er untersuchte Alentejos Wunde nur kurz, dann sagte er: „Sie haben Glück gehabt, Señor Capitán. Kein Knochen ist verletzt. Aber die Kugel steckt. Ich muß sie herausholen.“

„Gut“, sagte Alentejo gepreßt. Er blickte zu seinem Ersten. „Sie übernehmen in der Zwischenzeit das Kommando. Aber es wird nicht mit den Stücken gefeuert. Das ist ein Befehl. Ich will nicht mein eigenes Schiff zerstören.“

Wie Gomez Rascón gehörte er zu jenen Kapitänen, denen es eine Qual war, wenn ihr Schiff in irgendeiner Weise beschädigt wurde. Sturmschäden und Brüche von Masten und Spieren nahmen sie hin, weil es in ihren Augen höhere Gewalt war, etwas Unabwendbares also. Das Schiff aber mit eigener Hand zu zerschießen – das gab es für sie nicht.

Der Erste Offizier, der Feldscher und zwei andere Männer hoben Alentejo vorsichtig hoch und transportierten ihn in die Kapitänskammer des Achterkastells. Musketenschützen an der Querbalustrade sicherten mit ihren Waffen zur Back hin und waren bereit, auf alles zu feuern, was sich dort bewegte.

Marcela hatte sich jedoch inzwischen ganz in Sicherheit gebracht. Sie war zum vorderen Geländer der Back gekrochen, hatte sich zwischen zwei Traljen hindurchgezwängt und ließ sich auf die Galionsplattform fallen. Von hier aus betrat sie durch das Schott das Vorkastell. Die Kerle empfingen sie mit großem Hallo, ließen sie hochleben und reichten ihr einen Becher Wein.

Sie trank, ließ den Becher wieder sinken und sagte: „Der Kapitän ist erledigt. Er überlebt die Blessur nicht. Wenn er krepiert ist, haben wir gute Chancen, das Achterdeck zu erobern, denn dann herrscht dort mehr Verwirrung.“

„Es ist nur eine Frage der Ausdauer“, sagte einer der Meuterer.

„Und wir haben Zeit genug“, sagte ein anderer.

„Eben“, sagte Marcela. „Von der ‚San Sebastian‘ kriegen wir auch keinen Ärger. Dort scheinen die Meuterer gewonnen zu haben. Sonst wäre der Kahn bereits bei uns längsseits gegangen, und Capitán Rascón hätte seinem werten Kollegen Alentejo geholfen.“

„Das stimmt“, sagte der Kerl, der den alten Seemann niedergeschlagen und auf Ramón Vega Venteja gefeuert hatte. Er hieß Moreno. „Und wenn wir Glück haben, kriegen wir von den anderen sogar noch Unterstützung.“

„Dann wäre der Sieg endgültig unser“, sagte Marcela. „Aber auch so brauchen wir uns nicht zu sorgen. Wir schaffen es schon, das hochnäsige Pack zu erledigen. Wir haben zwar nicht viele Waffen, aber wir haben den Proviant und das Wasser.“

Die Kerle lachten und füllten wieder die Becher. Sie hatten ein Faß Wein ins Logis gerollt und angestochen. Sie feierten ihren Triumph – etwas voreilig zwar, aber doch mit berechtigtem Optimismus.

Juan Alentejos Appell an die Vernunft der Meuterer war völlig sinnlos gewesen, das erkannten auch die Männer und Frauen, die sich im Achterdeck verschanzt hatten. Die Bande würde sich durch nichts entmutigen lassen, sie war weit davon entfernt, aufzugeben oder auch nur einen Kompromiß mit dem Kapitän anzustreben.

Darauf aber hätte sich Juan Alentejo ohnehin nicht mehr eingelassen. War er kurz vorher noch bereit gewesen, die Meuterer zu bestrafen und dann irgendwo auszusetzen, falls sie kapitulierten, so stand jetzt für ihn fest: Sie mußten sterben. Sobald sich auch nur die geringste Möglichkeit dazu bot, mußte das Achterdeck das Vordeck angreifen und zurückgewinnen. Wer von den Aufrührern dann nicht im Kampf starb, würde an der Großrah aufgehängt werden.

Alentejo hatte jetzt doch das Bewußtsein verloren. Der Feldscher entfernte mit großem Geschick die Musketenkugel aus seiner Schulter, dann gab er seinem Gehilfen die Anweisung, die Blessur sorgfältig zu waschen, zu desinfizieren und zu verbinden.

Der Feldscher eilte zu Ramón Vega Venteja. Der alte Seemann – er hatte sich von Morenos Hieb wieder erholt –, Sabina, Pablito und ein weiterer Helfer hatten Ramón aus dem Frachtraum in eine der Achterdeckskammern getragen und auf die Koje gebettet. Sie hockten mit Leichenbittermienen da, keiner wußte, wie er sich verhalten sollte. Sabinas Tränen waren versiegt, nur Pablito schluchzte haltlos.

Der Feldscher unterzog Ramón einer kurzen, aber gründlichen Untersuchung.

„Er ist nicht tot“, sagte er und drehte sich zu den Kindern um. „Er hat viel Blut verloren. Aber ich glaube, wir können ihn retten.“

„Wirklich? Ist das – wahr?“ stammelte Sabina. Dann griff sie nach der Hand des Feldschers. „Bitte, Señor, helfen Sie unserem Vater. Er ist doch alles, was wir auf der Welt haben. Wir – dürfen ihn nicht verlieren.“

Der Feldscher, ein rauher Mann, der alle Härten des Lebens zur See am eigenen Leib erfahren hatte, fühlte sich tief in seinem Herzen berührt. Er strich über ihren Arm, es war eine beruhigende Geste.

„Hör zu“, sagte er mit etwas heiser gewordener Stimme. „Ich brauche dich als Assistentin. Und auch dein Bruder kann etwas tun. Kocht Wasser und besorgt saubere Tücher.“

„Wir helfen auch mit“, sagte eine der Frauen, die eben die Kammer betreten hatte. „Hoffentlich können wir den tapferen Mann am Leben erhalten.“

„Er hat einen Durchschuß“, erklärte der Feldscher. „Aber – soweit ich bis jetzt erkennen konnte – es scheint nur eine Rippe angebrochen zu sein. Die inneren Organe wie Herz und Lunge sind meiner Meinung nach unversehrt.“

„Dann hat er wirklich alle Chancen, zu überleben“, sagte die Frau und fuhr zu den anderen herum, die sich im Gang zusammengedrängt hatten. „Steht nicht herum! Kocht Wasser ab! Bringt Leinentücher! Bewegt euch!“

Die nächsten zwei Stunden verstrichen für die Achterdecks-Bewohner wie im Flug. Alle nahmen Anteil an der Operation, die der Feldscher an Ramón Vega Venteja durchführte. Auch Kapitän Alentejo, der inzwischen wieder bei Bewußtsein war, verlangte ständig über den Fortgang des Eingriffs informiert zu werden. Sein Erster Offizier hatte ihm berichtet, daß Ramón unter Einsatz seines Lebens die Meuterei zu verhindern versucht hatte.

Auch mit dem alten Seemann sprach Juan Alentejo, und als er alles vernommen hatte, sagte er mit leiser, aber fester Stimme: „Das werde ich euch nicht vergessen. Ihr habt euch vorbildlich verhalten. Das rechne ich euch hoch an – sehr hoch.“

„Danke, Señor“, sagte der alte Seebär verlegen. Er kehrte zu den anderen zurück, die im Gang vor der Kammer von Ramón Vega Venteja standen.

Der Feldscher nähte Ramóns klaffende Brustwunde. Es gelang ihm, den Blutfluß zu stoppen. Lange Zeit verwendete er darauf, alles sorgfältig zu verbinden.

Dann trat er aus der Kammer und sagte: „Er muß jetzt lange schlafen. Der Blutverlust hat ihn geschwächt. Aber ich glaube, daß er wieder gesund wird.“

Alle atmeten auf. Pablito umarmte den Feldscher und stammelte: „Danke, Señor, du bist – ein feiner Kerl.“

Sie schöpften wieder Hoffnung. Doch noch hatte keiner eine Vorstellung davon, wie man gegen die Meuterer vorgehen sollte. Auch Kapitän Alentejo grübelte darüber herum. Wenn seine Männer die Back stürmten, mußte das Risiko so gering wie möglich gehalten werden. Es galt, eine kluge, wirksame Strategie zu entwickeln.

Seewölfe Paket 20

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