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6.

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Gegen drei Uhr morgens ging Edwin Carberry seine Runde auf der „Isabella“. Zu dieser Zeit hatten Al Conroy und Jeff Bowie die Wache übernommen, Jeff Bowie an der Gangway und Al Conroy auf der „Isabella“ selbst, wo er vor allem die gesamte Seeseite zu überwachen hatte.

Ed Carberry, die Hände in den Hosentaschen und den massigen Schädel etwas eingezogen – es war empfindlich kühl um diese Zeit –, schob über die Kuhl, lehnte sich ans Schanzkleid und peilte zu Jeff Bowie auf der Pier.

„Alles klar, Jeff?“ fragte er.

„Aye, alles klar, Ed.“

„Landgänger alle zurück?“

Jeff Bowie grinste zu dem Profos hoch. „Smoky, Gary, Pete und Luke schon – voll bis zum Süll. Mein lieber Mann, die hatten vielleicht einen in der Hacke, so was hast du noch nicht erlebt. Und keinen Cent haben sie beim dicken Plymson ausgegeben.“

„Wie das?“ fragte der Profos.

„Plymson begrüßte sie als die Seehelden Englands, und das hat Smoky ausgenutzt. Seehelden hätten Saufen frei, hat er erklärt. Später hat der dicke Plymson mitgesoffen und ist dann umgefallen. Da hat Smoky den Tresen übernommen und ausgeschenkt. Die müssen dem Dicken ganz schön was weggetrunken haben.“

„Seehelden Englands – phhh!“ Carberry schüttelte den Kopf. „So einen Schmus kann auch nur der dicke Plymson verzapfen, diese vollgefressene Kanalratte. Hm, fehlen also noch Matt, Sten und Sam. Matt Davies, na ja, der gibt auch nicht eher Ruhe, bis alle Fässer leer sind. Das nimmt noch mal ein schlechtes Ende mit diesem Saufloch. Wann sind denn Smoky und die anderen an Bord getrudelt?“

„Nicht lange nach Mitternacht.“

Carberry zuckte etwas zusammen. „Mann, jetzt ist es nach drei Uhr. Da sollen Matt, Sten und Sam noch drei Stunden weitergesoffen haben? Und Smoky und die anderen waren schon bis zum Süll voll, sagtest du?“

„Richtig, Ed.“

„Jetzt überleg mal, Jeff“, sagte Carberry. „Smoky kann eine ganze Menge hinter die Gurgel gießen, er ist da ziemlich standfest, so wie Matt. Aber Sten und Sam, die halten doch nicht drei Stunden länger durch als Smoky.“ Er schob das Rammkinn vor. „Da stimmt was nicht, Junge.“

Jeff Bowie zweifelte. „Vielleicht sind sie bei den Ladys geblieben. Könnte doch sein, oder?“

„Total voll? Das glaubst du doch selbst nicht. Waren Kerle von der ‚Revenge‘ in der ‚Bloody Mary‘?“

„Das mußt du Smoky fragen“, erwiderte Jeff Bowie.

Das tat Ed Carberry auch.

Smoky fuhr aus der Koje und lallte: „Und auf was trinken wir jetzt, Männer?“

„Auf gar nichts, du stinkendes Whiskyfaß“, knurrte der Profos. „Was hast du denn da auf dem Kopf, verdammt noch mal?“

„Haare“, sagte Smoky undeutlich.

„Quatsch!“ Carberry langte sich das Pudelfell. „Sind das deine Haare, du Idiot?“

„Weiß ich nicht“, erklärte Smoky und legte sich wieder lang.

Carberry feuerte die Perücke in eine Ecke und zerrte Smoky wieder hoch.

„Hör zu“, sagte er grollend. „Matt, Sten und Sam sind noch nicht zurück.“

Smoky stöhnte. „Schrei mich doch nicht so an, du Ochse. Was meinst du, wo mein Kopf ist? Was sagst du, wer ist zurück? Wo ist wer zurück?“

Jetzt stöhnte zur Abwechslung mal Carberry – vor Wut. Erstens roch die ganze Bude nach Schnaps, zweitens schielte Smoky und drittens war der noch völlig vernagelt.

Carberry purrte Bill aus dem Schlaf. Jetzt wurde er ziemlich rücksichtslos.

„Mister Carberry?“ fragte Bill gähnend.

„Hol ’ne Pütz Seewasser, Junge, hopp-hopp!“

Bill kriegte Telleraugen, sagte aber nichts, stieg in die Hose und sauste ab.

„Ein Mief ist das hier“, knurrte Edwin Carberry.

„Es lebe die Königin“, murmelte Smoky und streckte sich wieder.

Carberry grinste grimmig. „Warte, du Säufer, was du gleich leben wirst, erleben!“

Bill brachte die Pütz Seewasser. Carberry nahm sie in Empfang, holte Schwung und klatschte das Wasser Smoky ins Gesicht.

Der schoß aus der Koje und brüllte: „Wassereinbruch!“

Bill kicherte.

Die Schläfer ruckten hoch, von der Smoky-Landcrew allerdings nur Pete Ballie. Luke Morgan und Gary Andrews träumten weiter.

Carberry hatte bereits Smoky am Wickel und schüttelte ihn. Und jetzt brüllte er: „Von wegen Wassereinbruch, du Stint! Das war ’ne Pütz Seewasser, um dir den Suff aus dem Schädel zu treiben. Jetzt ist Schluß mit dem Gefasel. Matt, Sten und Sam sind noch nicht zurück. Habt ihr Krach beim dicken Plymson geschlagen? Habt ihr euch mit Kerlen von der ‚Revenge‘ herumgeprügelt? Heraus mit der Sprache!“

„Laß mich los, Ed Carberry!“ fauchte Smoky allmählich etwas wacher und holte aus, um einen Schwinger zu landen.

Carberry blockte ihn lässig ab und nagelte den stämmigen Decksältesten an ein Schapp, daß da drin das Backsgeschirr schepperte.

„Ich hab dich was gefragt, Mister Smoky, und ich will eine Antwort haben, sonst tunke ich dich solange in die Mill Bay, bis du aufhörst, mich anzuschielen.“

„Ja, doch“, knurrte Smoky, „Mann, brummt mir der Schädel! Was hast du mich gefragt? Ob wir Krach mit Plymson gehabt hätten? Nicht die Bohne. Das war ’ne richtige schöne Feier, ganz friedlich. Kerle von der ‚Revenge‘ waren nicht da, nur so’n paar Vögel von den anderen Schiffen. Was soll denn diese dämliche Fragerei?“

„Matt, Sten und Sam sind noch nicht zurück!“ brüllte ihn Carberry an. „Hast du das immer noch nicht begriffen?“

Smoky zog den Kopf etwas ein. „Noch nicht zurück? Versteh ich nicht. Die waren doch auch schon ziemlich voll. Wie spät ist es denn?“

„Halb vier, verdammt.“ Und damit sauste Carberry ab. Sie hörten ihn über die Gangway poltern.

Smoky kratzte sich hinter dem Ohr und murmelte: „Verdammt, verdammt, ich glaube, da ist was im Busch, Leute. Ich hab so ’ne dumpfe Ahnung.“

Bill bückte sich und hob verwundert die Perücke auf.

„Was ist das denn?“ fragte er stirnrunzelnd.

„Weiß ich auch nicht“, brummte Smoky geistesabwesend. „Zieht euch an, Männer. Ich schätze, wir werden Matt, Sten und Sam suchen müssen.“

Inzwischen hatte Carberry im Laufschritt die „Bloody Mary“ erreicht und brach in die Kneipe ein wie ein wildgewordener Bulle. Mit einem Rundblick erfaßte er die Situation. Hier gab’s nur schnarchende Schläfer, auf den Bänken, unter den Bänken, unter den Tischen.

Über ein paar Schnapsleichen stieg er zum Tresen vor, umrundete ihn, trank ein noch volles Whiskyglas aus, peilte zu dem dicken Plymson hinunter, der ohne Perücke genauso schlitzohrig aussah, und begann zunächst systematisch die Kellergewölbe abzusuchen.

Dazu gehörte, daß er ein paar der Schnapsleichen umdrehen mußte. Oder er mußte sie unter Bänken hervorzerren. Mollybaby, das schwarzhaarige Satansweib, fand er auch. Mit der hatte er schon verschiedene Male mächtig herumgeturtelt, alles was recht ist.

„Du Starker“, gurrte Mollybaby und umhalste den Profos.

„Jetzt nicht, Mollybaby, schlaf schön weiter“, sagte der Profos und löste sich aus Mollybabys Umschlingung.

Fluchend suchte er weiter. Mollybaby quengelte etwas, schlief dann aber wieder ein. Sie nach Matt, Sten und Sam zu fragen, hatte wohl keinen Zweck. Das hätte nur ein Handgemenge gegeben. Mollybaby war ein bißchen liebestoll, wie man so sagt.

Jedenfalls waren Matt Davies, Sam Roscill und Stenmark verschwunden, und dem Profos schwante mehr denn je Unheil.

In Plymsons Küche pumpte er Wasser hoch, füllte einen Krug und leerte ihn über dem Dicken aus. Beim vierten Krug lag Nathaniel Plymson in einer mächtigen Pfütze und wurde wach.

Als er über sich in Carberrys graue Augen blickte, fuhr er hoch, als habe ihn jemand gepiekt. Carberry langte zu und hievte ihn vollends hoch.

„Guten – guten Abend, Sir“, sagte Plymson unsicher und schielte auf die Faust unter seinen vielen Wabbelkinns. Diese Faust drehte langsam den Hemdausschnitt herum, so daß sich der Hemdkragen eng und enger um des Dicken Hals legte.

„Guten Morgen, Plymmy“, sagte Edwin Carberry so freundlich wie ein gereizter Wildeber. „Ich suche drei Arwenacks – Matt Davies, Stenmark und Sam Roscill. Du hast sie nicht zufällig gesehen, oder?“

Nathaniel Plymson bibberte. „Nein, Sir, die – die waren doch bei Mister Smoky, Sir, wenn ich mich richtig erinnere, Sir.“

Die eisenharte, mächtige Faust drehte den Hemdausschnitt erbarmungslos weiter um.

„Du hast die drei Arwenacks nicht zufällig an gewisse Schweinehunde verkauft, Plymmy?“ fragte Carberry und fletschte die Zähne.

„Niemals!“ schrie Nathaniel Plymson schrill. „Ich schwör’s beim Leben meiner Mutter, Gott hab sie selig!“

Carberry erklärte, was er von „Plymmys“ Mutter hielte und fragte beharrlich weiter.

„Die drei sind hier zuletzt gesehen worden, Plymmy“, sagte er. „Da haben sie friedlich einen gebechert …“

„Mehr als einen“, sagte Nathaniel Plymson erbittert, „und ich mußte einen nach dem anderen ausgeben.“

„Für Englands Seehelden, nicht wahr?“

„Jawohl.“

„Du hast es doch gern getan, oder?“

„Na-natürlich, Sir.“ Der Dicke ächzte. „Ich kriege keine Luft mehr, Sir.“

„Sollst du auch nicht, Plymmy. Ich frage dich noch einmal: Hast du ein schmutziges Spielchen mit den drei Arwenacks gespielt? Überleg dir die Antwort gut, Dickerchen. In deinem verdammten Loch hier sind schon zu viele brave Männer auf Nimmerwiedersehn verschwunden, nicht wahr? Wir wissen das. Wir wissen das sehr genau. Und du weißt, daß wir es wissen. Solltest du deine Wurstfinger im dreckigen Spiel haben, dann rettet dich jetzt nur die Wahrheit. Also?“

„Ich – ich spreche die Wahrheit, Mister Carberry, Sir, bei meiner Ehre, ich schwöre bei Gott, daß ich wirklich nichts weiß und auch nie gewagt hätte, mit den Arwenacks so etwas zu tun, wie Sie andeuteten. Dazu habe ich vor den Seewölfen viel zuviel Respekt und Angst, jawohl, Angst. Und dann bin ich auch irgendwann umgefallen und erst wieder aufgewacht, als Sie mich weckten, Mister Carberry, Sir. Das ist die reine Wahrheit, ich kann nichts anderes sagen. Bitte, glauben Sie mir.“

Carberry ließ den Dicken los, der sich aufatmend den Hals rieb. Der Dicke, so schlitzohrig er auch sein mochte, hing dieses Mal nicht in der Sache drin. Das klang echt, was er gesagt hatte.

Carberry fluchte vor sich hin.

„Ich – ich kann Ihnen wirklich nicht helfen, Mister Carberry, Sir“, sagte der Dicke. „Vielleicht waren sie so betrunken, daß sie sich irgendwo im Hafen verlaufen haben.“

„Unsinn“, brummte Carberry, „die finden noch zur ‚Isabella‘ zurück, wenn sie auf dem Kopf rückwärts gehen müßten.“

Nathaniel Plymson nickte. Das brachten die glatt fertig. Er sagte: „Dann muß ganz was Schlimmes passiert sein.“

„Richtig“, sagte Carberry. Ohne sich weiter zu äußern, verließ er die „Bloody Mary“ und stürmte zur „Isabella“ zurück.

Smoky empfing ihn an der Gangway.

„Na?“ fragte er überflüssigerweise.

„Nichts, verdammt.“ Carberry funkelte Smoky an. „Ihr vier seid zu früh abgehauen. Jetzt weiß kein Aas, was in den Stunden nach Mitternacht passiert ist. Du säufst dir die Hucke voll, haust ab, legst dich pennen und kümmerst dich einen Dreck um deine Kameraden, denen du dazu verholfen hast, sich genauso vollaufen zu lassen.“

„Ich bin ja nicht deren Kindermädchen“, sagte Smoky in einem Anflug von Trotz.

„Nein, bist du nicht!“ brüllte Carberry und geriet in Fahrt. „Aber der Decksälteste bist du! Decksälteste haben bei Sauforgien bis zuletzt an Deck zu stehen. Und wenn sie früher als ihre Deckscrew die Flagge streichen, dann taugen sie nichts. Dann sind sie Waschlappen, aber keine Decksältesten. Und wenn sie zu mickrig sind, ein Faß Whisky zu verkraften, dann sollten sie besser Milch saufen, verflucht noch eins. Aber groß die Luke aufreißen und den Seehelden markieren, was, wie? Das schmeckt mir vielleicht, Mister! Glotz mich nicht so dämlich an, du versoffener Riesenrammler, du …“

„Was ist los, Ed?“ Das war Hasards scharfe Stimme vom Achterdeck her. Mit ein paar Schritten war er auf der Kuhl.

„Matt, Sten und Sam sind abgängig, Sir“, stieß Carberry hervor. „Kein Schwanz weiß, wo die stecken. Haben wie die Irren bei Plymson gesoffen. Dieser Affenarsch von Decksältester ist volltrunken mit Gary Andrews, Pete Ballie und Luke Morgan nach Mitternacht in die Koje gewankt – ohne Matt, Sten und Sam. Die sind in Plymsons Kneipe geblieben und seitdem verschwunden.“

Smoky schrumpfte unter Hasards Blick zusammen.

Dann sagte Hasard ohne weiteren Kommentar zu Carberry: „Old O’Flynn und Will Thorne bleiben an Bord zurück. Alle anderen Männer kämmen das Hafengelände durch – sofort.“

„Aye, aye, Sir.“ Carberry wollte sich in Bewegung setzen.

„Moment, Ed“, sagte Hasard. „Plymson hat nicht seine Finger drin?“

„Nein, Sir, dieses Mal nicht. Ich hab ihn in die Mangel genommen. Der hat viel zuviel Angst vor uns.“

„Wenigstens etwas“, murmelte Hasard.

Nur vier Minuten später schwärmte die „Isabella“-Crew aus und begann, das Hafengelände zu durchsuchen. Sie ließen keinen Schuppen, keinen Speicher, keine Werkstatt, kein Gewölbe aus. Sie schauten in leere Fässer, krochen unter Holzstapel und umgedrehte Boote, krempelten eine Reepbahn um, pirschten durchs Dock und streiften an den Kais, Anlegestellen und Stegen entlang.

Sie verscheuchten Ratten und stießen auf streunende Katzen. In einem vergammelten Bretterverhau entdeckten sie zwei schnarchende Kerle, aber das waren verluderte Landstreicher, die auch noch rabiat wurden, als rauhe Fäuste sie hochrüttelten.

Big Old Shane und Dan O’Flynn waren in den Verhau eingedrungen, der aus zersplitterten Bootsgerippen, verfaulten Schiffsplanken und verrottetem Segeltuch bestand.

Der eine der Kerle hatte sofort ein Messer in der Hand, der andere einen Knüppel. Sie spuckten Gift und Galle, rochen nach Jauchegrube und waren so bösartig wie gereizte Hornissen.

Nur mit einer blitzschnellen Körperdrehung konnte Dan O’Flynn dem Messerstich des einen entgehen. Und Big Old Shane duckte sich in letzter Sekunde vor dem Knüppelhieb, der einen Ochsen gefällt hätte.

Aber dann legten sie los.

Das Messer verschwand zwischen dem verrotteten Segeltuch, von einem Fußtritt Dan O’Flynns dorthinbefördert. Der Kerl schlenkerte seine rechte Hand und brüllte wie am Spieß. Dann brüllte er nicht mehr, weil ihm Dan O’Flynns Faust unter das Kinn gefahren war. Er kippte zurück zwischen die zerlumpten Dekken.

Der andere hing inzwischen in den Teilen eines Bootsgerippes und zappelte wie eine Fliege im Spinnennetz.

„Sind das zwei Giftzähne!“ keuchte Dan O’Flynn.

Als sie draußen waren, brach der Verhau zusammen. Eine Staubwolke breitete sich aus, und das Gebrüll der beiden Kerle wechselte in ersticktes Fluchen über. Die hatten eine Weile zu tun, um sich aus den Trümmern ihrer Behausung herauszuarbeiten.

Big Old Shane und Dan O’Flynn suchten weiter.

Aber Matt Davies, Sam Roscill und Stenmark wurden nicht gefunden. Nacheinander kehrten die Männer bei Morgengrauen an Bord der „Isabella“ zurück. Sie waren verschmutzt und hatten enttäuschte Gesichter. Zu der Enttäuschung gesellte sich jetzt echte Sorge. Am trübsinnigsten war Smokys Miene. Er quälte sich zu allem noch mit Selbstvorwürfen. Ed Carberry hatte ihm ganz schön die Leviten gelesen.

Seewölfe Paket 9

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