Читать книгу Seewölfe Paket 28 - Roy Palmer, Burt Frederick - Страница 24
1.
ОглавлениеMit elf Jahren verlor Ahmed seinen Vater. Sie lebten damals in dem Inselgewirr von Abu Dhabi und waren einfache Fischer. Morgens fuhren sie mit einer winzigen Nußschale aufs Meer hinaus, und gegen Abend kehrten sie mehr oder minder erfolgreich vom Fischfang zurück. Meist reichte es gerade aus, um ein karges Leben zu fristen.
Dann, als sie eines Tages wieder draußen waren, begegneten sie einer unheimlichen schwarzen Sambuke. Dieses Schiff war mit einer wilden Horde übler Kerle bemannt.
Ahmeds Vater wurde blaß und fing an zu zittern.
„Es sind die Piraten des ehemaligen Beduinenstammes der Beni Yas“, sagte er. „Hoffentlich lassen sie uns in Ruhe. Wir haben ja nichts weiter als ein paar Fische.“
Aber die grausamen Männer ließen sie nicht in Ruhe. Mit langen Haken zogen sie den Fischernachen zu sich heran und lachten roh.
Ahmed blickte in die unrasierte Fratze eines wilden Mannes, der ihn höhnisch angrinste. Es war Ali Ben Chufru, ein grausamer Mann, der den Küstenstrich von Abu Dhabi beherrschte, der mit Sklaven handelte, plünderte, mordete und brandschatzte. Er war bis weit hinaus an der Küste Quatar gefürchtet, und er war berüchtigt dafür, daß er mit Vorliebe die Perlenfischer ausplünderte.
Aber zum Glück hatten sie keine Perlen, nur ein paar Fische, eine karge Ausbeute, die knapp zum Überleben reichte.
„Ihr habt Perlen gefunden“, sagte Ali. „Ihr habt sie versteckt, ihr Halunken.“
„Wir haben keine Perlen, Sidi“, beteuerte Ahmeds Vater. „Wir sind arme Fischer, die ihr täglich Brot verdienen. Das Perlenfischen überlassen wir anderen.“
„Bastarde seid ihr“, sagte Ali kalt. „Außerdem fischt ihr in meinen Gewässern, und das hat euch niemand erlaubt.“
„Allah hat die Seen und Gewässer für alle geschaffen, Sidi, damit jeder davon leben kann.“
„Hat Allah dir das selbst gesagt, oder ist das deine eigene Weisheit?“
Der Fischer schluckte hart, als sie ihn verhöhnten. Sie hielten das kleine Boot immer noch mit ihren mörderischen Haken fest.
„Also, wo sind die Perlen?“ fragte Ali herrisch. „Heraus damit, und ihr könnt weiterziehen.“
Als Ahmeds Vater erneut beteuerte, sie hätten keine Perlen, sprangen auf Alis Befehl zwei Mann in das Boot. Rücksichtslos drängten und stießen sie die beiden Fischer zwischen die Duchten.
Dann nahmen sie sich den Krug mit Oliven vor und zertrümmerten ihn mit dem Knauf einer silberbeschlagenen Pistole. Sie gossen das Öl aus und warfen die Scherben ins Meer. Einer der Kerle stopfte sich eine Olive in den Mund und kaute darauf herum. Dann spie er sie angewidert aus. Den Rest der Oliven warf er gleich hinterher.
Dabei lachten sie ununterbrochen. Aber es war ein böses und gefährliches Lachen, das Ahmed zutiefst erschreckte.
Auch die paar Datteln und Feigen, die sie mithatten, wurden zermatscht und zerdrückt und schließlich ins Meer geworfen.
„Die Hundesöhne haben ganz sicher Perlen!“ rief Ali. „Seht überall genau nach!“
Viel nachzusehen gab es in dem winzigen Boot nicht. Sie fanden auch keine einzige Perle.
Einer von Alis Unterführern deutete auf das außenbords hängende Netz, in dem sie ihren kargen Fang hatten. Sie ließen die Fische immer außenbords im Netz, damit sie frisch blieben.
„Ich weiß, wo die Perlen sind!“ brüllte er. „Sie haben sie den Fischen in die Mäuler gesteckt, damit sie keiner findet.“
Er holte mit einem Ruck das Netz hoch und schüttete den zappelnden Inhalt auf die Gräting.
Es waren nur acht kleinere Fische, manche davon nicht länger als eine Hand, und sie zappelten wild durcheinander.
Die rohen Kerle nahmen ihre Messer und schlitzten den Fischen Köpfe und Bäuche auf. Als sie nichts fanden, warfen sie die Fische zurück in Meer.
„Sidi“, rief Ahmeds Vater flehentlich, „laßt uns bitte die paar Fische! Es ist unsere Nahrung für zwei Tage.“
Die Kerle lachten nur. Als auch der letzte Fisch über Bord geflogen war, packte Ali den Fischer an den Haaren.
Ahmed sah voller Entsetzen die grinsenden Fratzen, die schmutzigen Gesichter, die vielen Messer und Pistolen. Die Horde bereitete sich einen Spaß daraus, sie zu quälen.
„Du hast also keine Perlen, du Stinktier“, sagte Ali kalt. „Aber du hast einen Bastard von Sohn, der dir beim Klauen hilft. Das ist doch dein Sohn, oder?“
„Mein einziger Sohn, Sidi. Er hat keine Mutter mehr, wir beide sind ganz allein.“
„Es geht ihm also schlecht bei dir?“
„Es reicht für uns gerade zum Leben, Sidi.“
„Na schön. Dann soll er es besser haben. Ich werde ihn zu mir aufs Schiff nehmen, denn wir brauchen einen Schiffsjungen. Dem letzten hat man leider den Hals durchgeschnitten.“
Das Gelächter der Kerle wurde noch lauter. Ahmed zog sich angstvoll auf die hintere Ducht zurück.
„Mein einziger Sohn ist die Versorgung meines Alters, Sid“, sagte der Vater leise. „Ohne ihn kann ich nichts anfangen.“
„Das ist deine Sache. Ich brauche einen Schiffsjungen. Los, rüber mit dir!“ schrie er den Jungen an.
Ahmeds Angst wurde noch größer. Er hatte mal gehört, wie die Piraten Schiffsjungen behandelten. Nicht nur, daß sie den übelsten Dreck tun mußten, sie wurden auch mißhandelt und geschlagen, und nicht selten passierte es, daß man sie einfach ins Meer warf und sich selbst überließ. Daran mußte Ahmed jetzt denken. Er wollte mit diesen wilden und brutalen Gesellen nichts zu tun haben, die Schiffe überfielen, ausplünderten und die Mannschaften ermordeten.
„Ich will nicht“, sagte Ahmed heiser und angstvoll. Ganz plötzlich standen ihm dicke Schweißperlen auf der Stirn.
Aber was Ahmed wollte oder nicht, das interessierte die barbarischen Kerle nicht. Einer zog einen Krummdolch aus dem Hosenbund, faßte sich unters Kinn, hob es ein wenig an und demonstrierte, wie man einem den Hals durchschnitt, der nicht parieren wollte.
„Hinüber jetzt mit dir!“ brüllte ein narbiger Mann wild.
Er griff nach Ahmed, doch der Junge wich aus.
„Laßt mir meinen Sohn!“ rief Ahmeds Vater. „Er ist mein ein und alles, ich habe nur ihn! Ihr dürft ihn mir nicht wegnehmen. Außerdem will er doch gar nicht zu euch.“
Ali Ben Chufru sah den alten Fischer mit böse funkelnden Augen an. Sein Gesicht war häßlich verzogen.
„Es müßte deinem räudigen Sohn eine Ehre sein, mir dienen zu dürfen“, sagte er wütend. „Noch niemand hat es ausgeschlagen, in meine Dienste zu treten. Das dulden die Söhne der Beni Yas nicht. Das ist eine unverschämte Beleidigung.“
„Ich habe dich nicht beleidigt, Sidi!“ rief der Alte.
Ali holte blitzschnell aus. Sein mit dem Handrücken geführter Schlag traf den Fischer hart. Von seinen Lippen quollen Blutstropfen.
Trotz seiner Angst vor den Kerlen ging Ahmed dazwischen, als die Hand zum nächsten Schlag ausholte. Mit seinen kleinen Fäusten trommelte er auf Alis Unterarm.
Dann rissen ihn zwei grobe Pranken mit einem Ruck aus dem Boot. Sie warfen ihn einfach auf die Planken der schwarzen Sambuke.
Die Angst um seinen Sohn verlieh dem Fischer ungeahnte Kräfte. Er wischte sich mit zitternden Fingern das Blut von den Lippen und starrte zu Ahmed, der mit schrecklich verzogenem Gesicht auf den Planken der schwarzen Sambuke lag.
„Gebt mir meinen Sohn zurück!“ schrie er mit überkippender Stimme.
„Hol dich der Scheitan!“ rief der Pirat hohnlachend. Erneut schlug er nach dem Fischer, der die Arme hob, um den Schlag abzuwehren.
Der Fischer packte den Arm und hielt ihn fest. Der Pirat lief vor Wut knallrot an.
„Du wagst es, du Bastard“, keuchte er, „du Hundesohn von einem dreckigen Fischer …“
Blitzschnell fuhr seine linke Hand zum Gürtel. Im Sonnenlicht blitzte einen Lidschlag lang eine schmale Klinge auf. Ahmeds Vater sah den scharfen Krummdolch auf sich zurasen. Es war nur ein winzig kleiner Blitz, der durch die Luft zuckte, und dieser Blitz verschwand von einem Augenblick zum anderen in seinem Brustkorb.
Der Fischer sank tot in seinen Nachen zurück. Die Klinge des Krummdolches hatte sein Herz getroffen.
Ahmed schrie gellend auf, als er seinen Vater zusammensinken sah. Sein Schrei klang wie der Todesschrei eines Tieres. Wie von Sinnen sprang er auf die Beine und stürzte sich auf Ali Ben Chufru, der vor dem wilden Angriff des schmalen Jungen überrascht zurückwich. Fingernägel fuhren ihm wie Pantherkrallen in das Gesicht und hinterließen blutige Striemen. Ahmed verbiß sich regelrecht in ihn und schlug voller Haß auf ihn ein.
Zwei Kerle rissen ihn unter Aufbietung all ihrer Kräfte fort. Ein harter Schlag trieb ihn bis ans Schanzkleid.
Ali Ben Chufru hielt noch den blutigen Krummdolch in der Faust. Aus seinen Augen liefen Tränen, Blutspuren rannen über die Wangen in seinen Bart. Mit dem Dolch in der Faust stürzte er sich auf Ahmed.
„Du räudiger Sohn einer Mißgeburt!“ schrie er, außer sich vor Wut. „Dir werde ich es zeigen!“
Drei andere Kerle stürzten sich ebenfalls auf ihn. Ahmed wußte, daß sie ihn jetzt genauso töten würden, wie Ali seinen Vater heimtückisch getötet hatte. Ali Ben Chufru ließ diese Schande, daß ihn ein Junge geschlagen hatte, nicht auf sich sitzen. In seinen Augen funkelte blanke Mordlust.
„Ich schwöre dir Rache, du Hundesohn!“ schrie Ahmed. Noch bevor die zupackenden Fäuste ihn erwischten, sprang er mit einem wilden verzweifelten Satz über Bord.
Er hörte nicht mehr, wie Ali zu toben begann.
„Schießt den Bastard ab!“ rief er seinen Leuten zu. „Wenn er auftaucht, knallt ihn sofort ab!“
Mit einem heftigen Ruck stieß er das kleine Boot weg. Der tote Fischer kippte zur Seite und rollte auf den Rücken. Aus weitgeöffneten Augen starrte er in den wolkenlosen Himmel.
An Deck rannten Chufrus Kerle durcheinander. Einige hatten sich mit Musketen bewaffnet, die anderen trugen Pistolen und suchten das Wasser um die Sambuke ab.
„Da sind Luftblasen!“ brüllte einer.
Mit Musketen und Pistolen feuerten sie auf die Luftblasen, doch den schmächtigen Jungen sahen sie nicht.
Ali Ben Chufru rannte wütend von einer Seite zur anderen. Immer wieder blickte er in das Wasser und schüttelte den Kopf, als der Junge nicht mehr auftauchte.
Fast zehn Minuten vergingen, dann winkte er herrisch ab.
„Der Bastard ist ersoffen“, erklärte er. „Wir segeln weiter. Mögen die Haie seinen erbärmlichen Kadaver fressen.“
Dem toten Fischer gönnte er keinen einzigen Blick, der in seinem Nachen langsam davontrieb. Für Ali zählte ein Menschenleben nicht. Die Sorgen und Ängste eines kleinen Jungen interessierten ihn erst recht nicht.
Unbekümmert segelten die Schnapphähne weiter.
Ahmed konnte sehr gut schwimmen und tauchen und auch sehr lange die Luft anhalten. Aber er hatte ständig Angst vor der fürchterlichen Tiefe, in der die schlimmsten Ungeheuer hausten. So war es ihm jedenfalls immer erzählt worden. Andere Fischer hatten von gigantischen Seeschlangen und Meeresdrachen erzählt, von Fischen, die so groß waren, daß sie ein ganzes Boot auf einmal verschlingen konnten.
Die Angst vor der Tiefe verdrängte er jetzt gewaltsam, denn was da oben vor sich ging, das war fürchterlicher als alles andere.
Die Piraten hatten seinen Vater getötet, und jetzt suchten sie ihn, um auch ihn umzubringen.
Unter Wasser schwamm er auf die Sambuke zu, bis er sich dicht unter dem muschelbewachsenen Kiel befand. Er vernahm dumpfe Laute und sah zweimal hintereinander, wie schnelle silberne Schatten durchs Wasser rasten.
Sie schossen auf ihn!
Seine Angst wurde noch größer. Er regte sich so auf, daß er nicht mehr die Luft anhalten konnte. Mit einem sprudelnden Schwall stieß er sie aus, schwamm etwas höher und holte tief Luft. So schnell er konnte, ging er dann wieder auf Tiefe.
Das Wasser war hell und warm, und er konnte ziemlich weit sehen. Um ihn her war es dämmrig grün. Er sah auch ganz deutlich den Tang und die Muscheln, die das Schiff auf der Unterseite trug. Manche waren zu wilden Bärten verwuchert.
Zitternd vor Angst schwamm er zum Heck der Sambuke, wo wie ein riesiger Schatten das Ruderblatt zu erkennen war. Dort steckte er vorsichtig den Kopf aus dem Wasser und schaute sich um. Er konnte nicht viel sehen, nur einen Teil des Hecks, das beim Unterwasserschiff in einem Spitzgatt endete und sich oberhalb der Wasserlinie zu einem Plattgatt verbreiterte. Das hatte für ihn den Vorteil, daß sie ihn von oben aus nicht entdecken konnten, es sei denn, jemand würde sich weit hinauslehnen.
Er hielt sich am Ruderblatt fest und wartete. In tiefen Zügen sog er Luft ein und tauchte dann wieder so tief, bis sich das Ruderblatt über seinem Kopf befand.
Das ging Ewigkeiten so, und er hatte das Gefühl, als würde die Sambuke mit den Piraten nie mehr Fahrt aufnehmen.
Als er wieder einmal kurz auftauchte, schrak er zusammen. Das Ruderblatt bewegte sich mit einem dumpfen Geräusch und glitt langsam nach Steuerbord hinüber. Gleichzeitig wurden auch wieder Geräusche von oben hörbar, die sich wie dumpfes Trommeln anhörten.
Stimmen konnte er nicht unterscheiden, nur dumpfe Laute. Und dann war da ein Murmeln, das immer lauter wurde, bis es zu rauschen begann. Blasen stiegen hinter dem Ruderblatt aus der See, quirliger Schaum entstand in einer langen blasenwerfenden Bahn.
Die Sambuke glitt unter Vollzeug durchs Wasser und segelte weiter. Offenbar nahmen die Schnapphähne an, daß er ertrunken war.
Als die Blasen dichter und schaumiger wurden, löste er seine Finger vom Ruderblatt und tauchte tief unter. Ein gigantischer Schatten entfernte sich von ihm und verblaßte nach kurzer Zeit im Wasser.
Ahmed hielt so lange die Luft an, bis es ihn schmerzte. Erst dann tauchte er auf.
Sein erster Blick galt den finsteren Gestalten. Sie waren schon sehr weit weg und kümmerten sich nicht weiter um ihn.
Die Gefahr schien so gut wie vorbei zu sein.
Dann sah er sich nach dem Fischernachen um. Einen Augenblick hoffte er, die vertraute Gestalt des Vaters würde auf der Ducht sitzen. Aber der Nachen war scheinbar leer und trieb weit entfernt von ihm in der See.
Als er jetzt weiterschwamm, stürzten ihm Tränen aus den Augen, und er schluchzte laut. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie es ohne den Vater weitergehen sollte.
Er war völlig ausgepumpt, als er den Nachen endlich erreichte. Bevor er sich über das Dollbord zog, warf er noch einen Blick zu der immer kleiner werdenden Sambuke.
„Du Hund“, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme, „du dreckiger, räudiger Hundesohn. Verflucht sollst du sein für alle Zeiten. Ich schwöre, daß ich meinen Vater rächen werde.“
Danach hockte er still im Boot. Seinem toten Vater hatte er die Augen zugedrückt.
Um ihn her war alles still, ruhig und friedlich, als hätte es nicht den geringsten Zwischenfall gegeben. Hinten am Horizont segelte die Sambuke ebenfalls friedlich ihren Kurs. Ahmed konnte immer noch nicht glauben, daß die Halunken so kaltblütig seinen Vater umgebracht hatten.
Mehr als eine Stunde lang hockte er auf der Ducht und ließ seinen Tränen freien Lauf.
Als von der Sambuke nichts mehr zu sehen war, setzte er das kleine Segel und kehrte traurig zum Ufer zurück. Dort schwor er den grausamen Piraten noch einmal Rache.
Etwas später hob er zwischen zwei Dattelpalmen, die einsam dicht am Ufer standen, eine Grube aus. Er nahm das kleine Segel ab und umhüllte damit die Gestalt im Boot. Danach trug er mühsam und immer wieder verschnaufend die Leiche seines Vaters zu der Grube. In dem Segeltuch begrub er sie und schaufelte das Grab zu. Anschließend sammelte er Steine, um das Grab zu markieren.
Als er sich ausgeweint hatte, kehrte er zu der winzigen Hütte zurück, die sie zusammen bewohnt hatten. Er nahm eine Pfanne, zwei Töpfe und etwas Kleinkram mit. Viel mehr hatten sie nicht besessen.
Das alles trug er ins Boot. Dann setzte sich Ahmed vor den steinernen Hügel und dachte darüber nach, wie es weitergehen sollte.
Onkel Selim fiel ihm ein, ein Bruder seines Vaters, der irgendwo in der Nähe von Quatar hauste. Selim war früher auch einmal Fischer gewesen, aber dann hatte er sich auf die Perlentaucherei verlegt, weil sie mehr einbrachte, wenn man etwas Glück hatte.
Sie hatten sich lange nicht gesehen, und er wußte nicht einmal, ob er Selim überhaupt erkennen würde. Mindestens fünf Jahre lagen dazwischen. Vielleicht erkannte der Onkel ihn selbst auch nicht mehr.
Lange Zeit hockte er vor dem Grab, grübelte und überlegte. Irgendwie mußte er sich jetzt allein durchbeißen.
Als die Sonne blutrot im Westen an der Kimm stand, begann es langsam abzukühlen. Er legte sich auf den Rücken und sah zu, wie sie allmählich kleiner wurde und verblaßte. Doch bevor sie unterging, schickte sie noch einmal einen bunten Reigen von Strahlen über den Himmel. Dann verschwand sie.
In dieser Nacht blieb Ahmed bei dem Grab seines Vaters. Er brauchte sehr lange, bis er endlich einschlief.
Am anderen Morgen zog der Fischerjunge Ahmed los. Sein Herz lag schwer in der Brust, ein dumpfes Gefühl der Beklemmung lastete auf ihm. Vor ihm lag ein völlig ungewisses Schicksal.
Er hatte noch ein kleines, hundertmal geflicktes Ersatzsegel, das er jetzt aufzog, als die Sonne aufging. Außerdem befanden sich im Fischernachen noch zwei Riemen.
Nach einem letzten abschiednehmenden Blick auf das Grab seines Vaters segelte er los. Er segelte zunächst nach Westen in Richtung Dhannar, immer an der Küste entlang. Eine frische Brise schob ihn weiter.
Bei Ebbe suchte er zwischen Korallen und in Wasserlöchern nach Fischen und Krebsen, die nicht rechtzeitig entkommen waren. Sie bildeten tagelang die einzige Nahrung für ihn. Wasser erhielt er von anderen Küstenfischern, die Mitleid mit ihm hatten und ihm seinen Ziegeniederschlauch wieder auffüllten. Hin und wieder besorgte er es sich aber auch bei den Oasen.
Zwischendurch hielt er nach der schwarzen Sambuke Ausschau, doch er sah sie nicht mehr.
Fast einen Monat lang trieb er sich an der Küste herum. Wenn er einen Fischer traf, dann fragte er ihn nach Selim Ibn Abdalah, aber immer wieder schüttelten die Fischer mitleidig die Köpfe. Niemand schien Selim Ibn Abdalah zu kennen.
Nach weiteren zwei Wochen hatte er Glück.
„Selim kenne ich“, sagte der Fischer, den er ansprach. „Einer der Söhne von Abdalah, das stimmt. Du mußt bis in die Nähe von Quatar segeln, mein Junge. Dort brauchst du nur nach Selim, dem Perlenfischer, zu fragen. Hm, er ist ein bißchen merkwürdig, weißt du.“
„Er ist mein Onkel, der Bruder meines Vaters.“
„Trotzdem, mein Junge, er ist ein bißchen sonderlich, dieser Selim. Er sucht die Schwarzen Tränen Allahs, und er fängt auch längst keine Fische mehr.“
Ahmed hörte mit offenem Mund zu. Von den Schwarzen Tränen Allahs hatte er noch nie etwas gehört.
„Was ist das?“ wollte er wissen.
Der Fischer erklärte es ihm geduldig.
„Vor langer, langer Zeit war Allah so traurig, daß er Tränen vergoß. Sie fielen ins Meer, wurden ganz schwarz und sanken auf den Grund, wo sie heute noch liegen. Die großen Muscheln verbargen die Tränen vor den Blicken der Menschen und hüllten sie ein, damit niemand Allahs Trauer jemals sah. Seither versucht man, diese Schwarzen Tränen zu finden, denn sie sind sehr kostbar, und sie sind mit den anderen Perlen überhaupt nicht zu vergleichen.“
„Hat Onkel Selim denn welche gefunden?“ fragte Ahmed.
„Nein, ganz sicher nicht. Er sucht schon jahrelang danach, und im Laufe der Zeit ist es bei ihm zu einer Wahnvorstellung geworden, eine der schwarzen Tränen zu finden.“
Ahmed bedankte sich höflich und segelte weiter. Dieser Onkel Selim schien ein merkwürdiger Mann zu sein.
Nach ein paar weiteren Tagen hatte er ihn endlich gefunden. Als sie sich begrüßten, fiel Ahmed die starke Ähnlichkeit mit seinem Vater auf. Onkel Selim unterschied sich nur dadurch, daß er einen schwarzen Bart mit Silberfäden trug. Er war zwei Jahre älter als sein Bruder. Aber manchmal redete er recht krauses Zeug.
„Natürlich kannst du bei mir bleiben“, sagte Selim. „Du bist ja mein Neffe, und ich habe meinen Bruder sehr geliebt. Leider haben wir uns sehr lange nicht mehr gesehen, und leider ist er jetzt tot. Das betrübt mich sehr, mein lieber Ahmed.“
Der Onkel gab ihm zu essen und zu trinken. Er hatte eine winzige Tartane, mit der er Perlen suchte, meist weit draußen vor Quatar.
„Eigentlich bin ich sehr froh, daß du hier bist“, sagte er später. „Mein Gehilfe ist nämlich von mir gegangen. Er hieß Ali und war ein unerschrockener Mann, aber er hat nie eine der Schwarzen Tränen Allahs gefunden.“
„Warum hat er dich verlassen, Onkel Selim?“
Selim räusperte sich verlegen und strich seinen Bart mit den silbrigen Fäden darin. Das tat er immer, wenn ihm eine Frage nicht gefiel und er nicht gleich antworten wollte.
„Ja, weißt du, Ali, nun – er tauchte immer sehr tief an den Riffen, wo die großen Fische sind. Die bewachen nämlich die Schwarzen Tränen, damit niemand sie heraufholt.“
„Haie?“ fragte Ahmed zaghaft.
„Nun ja, Haie. Wie das eben so ist.“
„Sie haben Ali getötet?“ fragte Ahmed schaudernd.
„Möglich, daß es Haie waren“, sagte der Onkel. „Ich fand von Ali später nur ein Bein, mehr nicht. Ja, und sein Messer noch, das lag auf dem Meeresgrund.“
Dem Jungen mit den braunen Augen lief ein eisiger Schauer über den Rücken.
„Das Perlenfischen ist gefährlich, nicht wahr?“
„Nicht so schlimm. Man lernt es schnell und leicht. Man muß nur lange genug die Luft anhalten können. Ich selbst bin schon zu alt dazu, ich kann nicht mehr so lange tauchen wie früher. Aber ich werde es dir beibringen, Ahmed, und eines Tages, da bin ich ganz sicher, wirst du eine der Schwarzen Tränen Allahs finden, und dann sind wir reich. Ich werde sie dem Sultan verkaufen. Du mußt dich nun entscheiden, ob du bei mir bleiben oder weiter deiner Wege ziehen willst.“
Ahmed überlegte nicht lange. Er hatte nichts zu verlieren, er hatte keine Eltern mehr, aber der Onkel war da und würde für ihn sorgen. Warum sollte er nicht den Beruf des Perlenfischers erlernen, zumal es dem Onkel gar nicht so schlecht ging? Er hatte genug zu essen, zu trinken und ein Dach über dem Kopf. Allein hätte er das nie geschafft.
Also sagte er zu.
Schon am anderen Tag begann Selim damit, ihn auszubilden. Sie tauchten immer zusammen, und Ahmed erwies sich als sehr geschickt.
Er hatte nur immer Angst vor dieser grenzenlosen schrecklichen Tiefe, wenn es immer dunkler um ihn herum wurde, wenn Schatten auftauchten, die ihn belauerten.
Aber nach und nach verlor sich die Angst vor der Tiefe, nur die Angst vor den Ungeheuern war geblieben, denn die waren wirklich unberechenbar, und Ahmed mußte immer an den armen Ali denken, von dem Selim nur noch ein Bein gefunden hatte.
Mit der Zeit wurde er ein sehr geschickter Perlentaucher.