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7.

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Was die kleine Crew der „Empress“ nicht wissen konnte: Dunkle Augenpaare beobachteten sie schon seit Stunden aus dem dichten, verfilzten Buschwerk der Insel Nordandros. Halbnackte Gestalten huschten durch den Dschungel, getuschelte Worte wurden gewechselt. Kanus glitten lautlos durch das Wasser der Creeks.

Nordandros war nicht unbewohnt. Indianer lebten hier. Am Morgen hatte ein Späher das fremde Schiff gesichtet und seine Entdeckung dem Häuptling des Stammes mitgeteilt.

Coanabo, der Häuptling, hatte seine Männer ausgeschickt. Sie sollten das Schiff auf seinem Kurs verfolgen und nicht mehr aus den Augen lassen. Er wollte wissen, was die Männer, die sich an Bord befanden, taten. Er traute ihnen nicht. Keinem Weißen durfte man trauen, hatte ihn die Erfahrung gelehrt, und die Gestalten an Bord des seltsamen Dreimasters hatten sich den scharfen Augen seiner Späher bereits als weiße Männer entpuppt.

Coanabo saß vor seiner Hütte und verarbeitete innerlich die Nachrichten, die ihm von seinen Spähern überbracht wurden. Acht Fremde waren auf dem kleinen Schiff: ein alter Kerl mit weißem Haar, der sich humpelnd bewegte, ein Riese mit einem großen Kinn, zwei Jungen, die sich wie ein Vogelei dem anderen ähnelten, ein sehr schlanker, fast hagerer Mann sowie drei andere Männer, die die Späher nicht genauer zu beschreiben wußten. Es waren eben ausgewachsene Männer – der eine blond, der andere dunkelblond, der dritte dunkelhaarig. Ja, und einen großen Hund hatten sie auch an Bord.

Spanier, dachte Coanabo, und sein Gesicht verfinsterte sich.

Das Schiff segelte von Norden her an der Ostküste von Nordandros entlang, dann bog es in den großen Meeresarm ein. Auch diese Botschaften wurden Coanabo übermittelt. Schließlich traf ein Kanu ein, dessen Späher ihm berichtete, das Schiff mit den drei Masten säße jetzt fest.

Gut so, dachte Coanabo. Dann beschloß er, sich das Schiff selbst anzusehen. Er kletterte in das Kanu und ließ sich von dem Späher zum Südufer bringen. Dort kauerten drei Posten im Dickicht, die das Schiff und seine Besatzung keinen Moment aus den Augen ließen.

Coanabo war ein reinblütiger Arawak-Indianer – genauer gesagt ein Lucayaner. Dieses Wort bedeutete soviel wie „Insel-Leute“ und bezeichnete einen bestimmten Stamm der Arawaks. Über sechzig Jahre alt war Coanabo, doch man sah ihm sein Alter nicht an. Er war schlank und drahtig und außerordentlich zäh. Sein Gesicht war von Wind, Wetter und mannigfachen Erfahrungen gezeichnet. Pechschwarz waren seine Augen, leicht gekrümmt die Nase, etwas aufgeworfen seine Lippen. In seiner Jugend war er ein sehr gutaussehender Mann gewesen, doch auch jetzt vermittelten seine Züge noch den Ausdruck von Stolz, Kühnheit, Klugheit und Würde. Er war ein Mann, der dazu auserkoren zu sein schien, Häuptling eines Stammes zu sein.

Vor über dreißig Jahren war es ihm mit ein paar Stammesbrüdern gelungen, von Bord eines spanischen Sklavenseglers zu fliehen. Sie riskierten ihr Leben. Sie setzten alles aufs Spiel. Doch die Götter, so war Coanabo überzeugt, waren ihnen damals wohlgesonnen gewesen. Sie hatten sie gerettet und sicher an Land geführt. Die Kerle des Sklavenfängers hatten sie nicht wiedergefunden, und auch die Haie hatten sie nicht verschlungen.

Doch die Arawaks gerieten vom Regen in die Traufe. Auf Cat Island – Gigatio Gatas Gotas – wurden sie von den Spaniern gefangengenommen und verschleppt. Nun waren sie wieder Sklaven, zur Zwangsarbeit verurteilt. Man brachte sie nach Hispaniola, und dort mußten sie in einem Bergwerk schuften.

Nie würde Coanabo diese Zeit vergessen. Er war ein an Leib und Seele gebrochener Mann gewesen, hatte sich nur noch dahinschleppen können. Seinerzeit war er überzeugt gewesen, sein Leben in der Mine zu beenden. Zwei. Jahre brachte er dort zu, war dem Tode näher als dem Leben und lernte die Spanier hassen.

Aber noch einmal meinte das Schicksal – oder der oberste Gott der Arawaks – es gut mit Coanabo. Als die Mine auf Hispaniola unergiebig wurde, sollten die überlebenden Sklaven nach Kuba verschifft werden. Auf dieser Fahrt konnte Coanabo mit seinen Stammesbrüdern noch einmal fliehen. Dieses Mal gelang es ihnen sogar, eine Jolle mitzunehmen.

Sie erreichten Cat Island und fanden dort noch Frauen und Kinder ihres Stammes vor. Mit ihnen siedelten sie nach Andros über, wo sie sich sicher fühlten – vor Spaniern, Sklavenjägern und anderen Weißen.

Auf Nordandros fanden die Lucayaner eine neue Heimat. Hier bauten sie ihre Pfahlhütten und lebten vom Fischfang und Ackerbau, unbelästigt von den Spaniern. Der Stamm mehrte sich. Coanabo wurde ihr Häuptling.

Das Kanu war am Ziel. Coanabo stieg aus und schlich mit dem Späher zu den drei Posten. Sie bewegten sich geräuschlos. Die Männer an Bord des Schiffes konnten sie weder sehen noch hören.

Vorsichtig teilte Coanabo mit seinen Händen die Zweige und sah durch die entstehende winzige Lücke die „Empress of Sea II.“. Er hörte die Stimmen der Männer, doch sie waren zu weit entfernt. Er konnte nichts von dem, was sie sagten, verstehen. Dabei beherrschte er die spanische Sprache einigermaßen gut und hätte sie belauschen können, wenn er dichter bei ihnen gewesen wäre.

„Sie sitzen fest“, murmelte einer der Posten.

„Und sie kommen nicht wieder frei“, raunte Coanabo. „Recht so.“

„Sind es Spanier?“ fragte ein anderer Indianer flüsternd.

„Noch weiß ich es nicht“, wisperte der Häuptling. „Aber bald erfahren wir es. Wir besuchen sie. Wir warten nur die Dunkelheit ab. Heute nacht kriegen wir sie.“

Carberry fluchte vor sich hin und stocherte mit einem langen Bootshaken den Grund seitlich der „Empress“ ab.

„Weich“, sagte er plötzlich. „Na, so was!“

Hasard junior hatte sich bis auf eine kurze Hose entkleidet. Er lief zum Schanzkleid, sprang über Bord, landete im Wasser und tauchte. Sein Bruder und die Männer konnten verfolgen, wie er den Rumpf der „Empress“ genau untersuchte.

Hasard junior tauchte wieder auf, hob seine rechte Hand und ließ nassen weißen Sand ins Wasser rieseln. An Bord der „Empress“ war ein allgemeiner Seufzer der Erleichterung zu vernehmen.

„Hölle und Teufel“, sagte Old O’Flynn. „Wenn das ein Korallenriff gewesen wäre, hätten wir den Kahn abschreiben können.“

„Ja, wir haben noch mal Glück gehabt“, sagte der Profos.

„Das muß gefeiert werden“, sagte der Alte. „He, Mister Larsen, hol mal die Rumbuddel aus der Pantry!“

Nils Larsen verschwand in der Pantry.

„Was feiern wir denn?“ fragte Sven Nyberg.

„Na, die Tatsache, daß es kein Riff ist“, erwiderte Old Donegal. „Hast du das nicht kapiert?“

Nils war wieder zur Stelle. Old Donegal nahm die „Buddel“ von ihm entgegen, entkorkte sie und nahm einen tüchtigen Schluck zu sich. Dann reichte er die Flasche weiter.

Der Kutscher verkniff sich ein Räuspern. Daß an der „Empress of Sea II.“ andere Sitten und Bräuche herrschten als auf der „Isabella IX.“ hatte sich ja auch bis zu ihm herumgesprochen.

Carberry trank auch einen ordentlichen Schluck, gab die Flasche an Martin Correa weiter und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.

„So“, sagte er. „Das hat gutgetan. Und was unternehmen wir jetzt?“

„Laß mich mal scharf nachdenken“, sagte der Alte. „Das weiß ich selber noch nicht.“

Die Rumflasche hatte über Nils und Sven den Kutscher erreicht. Der trank ebenfalls, aber nur einen kleinen Schluck. Ja, und Philip junior und Hasard junior durften „auch mal nuckeln“. Nur Plymmie und Sir John empfingen keinen Rum, das wäre Verschwendung gewesen.

„Wo bleibt denn die Buddel?“ sagte der Alte. „Ich muß nachdenken. Das kann ich nur, wenn ich mein Hirn ein bißchen schmiere.“ Hasard junior brachte ihm die Flasche wieder, und Old O’Flynn hob sie erneut an den Mund. Er trank gluckernd und versuchte, der Sache auf den Grund zu gelangen, schaffte es aber nicht ganz. Er setzte die Flasche wieder ab, gab einen satten Laut der Zufriedenheit von sich, trank noch einmal und leerte die Flasche ganz.

„He, warum läßt du nicht für uns noch was drin?“ fragte Carberry.

„Weil ich nachdenken muß“, entgegnete Old O’Flynn noch einmal. „Aber in der Pantry ist noch eine Buddel.“

Nils Larsen verschwand bereits wieder in der Pantry. Man konnte hören, wie er herumhantierte, aber auch der Fluch, den er ausstieß, war deutlich zu vernehmen. Der Kutscher folgte ihm, trat seelenruhig an eins der Schapps, öffnete es und entnahm ihm die volle Flasche.

„So“, sagte er. „Und von nun an wirtschaftet nur noch einer in der Pantry herum – der Kutscher. Klar? Alle anderen brauchen eine Sondergenehmigung.“

Nils blickte ihn überrascht an. „Aber Donegal ist der Kapitän.“

„Und ich bin der Koch und Feldscher.“

„Aye, Sir“, erwiderte Nils. „Verstanden.“

„He, was ist denn los?“ rief der alte O’Flynn. „Warum dauert das so lange mit euch? Her mit der Buddel, wir wollen noch einen gluckern!“

Nils brachte ihm die Flasche und sagte: „Der Kutscher wünscht nicht, daß alle Männer in der Pantry rumbiestern.“

Old O’Flynn blickte zum Kutscher, der einen sehr entschlossenen und energischen Eindruck erweckte. Plötzlich lachte der Alte meckernd. „Recht hat er! Die nächste Buddel holst du, Kutscher!“ Er entkorkte die Flasche, sah sie mit einem Ausdruck der Genugtuung an und nahm einen Schluck von dem scharfen, brennenden Rum zu sich. „Hoppla“, sagte er dann. „Der ist noch besser als der andere.“

Carberry nahm die Flasche entgegen. Auch er hatte gegen einen weiteren Schluck nichts einzuwenden. Ehe er aber trank, fragte er: „Na, wie ist das nun mit deiner Nachdenkerei, Donegal?“

„Mit … Ach, richtig!“ stieß Old O’Flynn hervor. Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Fast hätte ich es vergessen. Ich hab’s!“

„Na, endlich“, brummte Martin Correa. „Das wurde aber auch Zeit.“

„Spann uns nicht auf die Folter“, sagte Sven Nyberg. „Wir spucken jetzt in die Hände und wuchten die ‚Empress‘ von der Sandbank, nicht wahr?“

„Nein“, erwiderte der Alte freimütig. „Ich hab’ was anderes beschlossen. Wir machen für heute Feierabend. Morgen ist auch noch ein Tag. Und auf einer Sandbank ist gut ruhen. Man spart den Anker.“

Der Kutscher setzte sich auf die Segellast.

„Mann, das halte ich im Kopf nicht aus“, sagte er. Er mußte wiederum an sich halten, um nicht aufzubegehren. Ihm wäre wohler gewesen, wenn sie die „Empress“ wieder flottgekriegt hätten.

Philip junior lachte leise. „Du hast wohl vergessen, was für Sprüche er auf Lager hat? Aber das ist mal wieder echt Old Donegal.“

„Ganz unrecht hat er aber nicht“, sagte sein Bruder. „Es wird doch schon dunkel.“

Old O’Flynn hatte es gehört. „Richtig“, sagte er. „Bald ist es hier stockfinster, und keiner kann mehr die Hand vor Augen sehen. Da schaffen wir es schon rein zeitlich nicht mehr, den Kahn wieder flottzumachen. Und wir riskieren, daß uns ein paar dämliche Kaimane in den Achtersteven beißen, wenn wir im Wasser arbeiten. Ja, schon gut, ich weiß, was du sagen willst, Kutscher: Wir brauchen nur zwei Trossen zum Ufer zu verfahren und um Bäume zu belegen, dann ziehen wir uns mit der Winsch selbst wieder runter von der Untiefe. Aber das braucht seine Zeit. Und nach Möglichkeit sollte man nicht mit Hast arbeiten.“

„Morgen in aller Herrgottsfrühe fangen wir an“, sagte Carberry. Er hob die Rumflasche. „Prost! Laßt uns darauf anstoßen.“

Ja, der Kutscher sah es ein: Es ging auf den Abend zu, und aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie die „Empress“ verwarpen müssen, um sie von der Sandbank zu ziehen. Das sollte man tunlichst bei Tageslicht durchführen. Sonst saß man, sobald die „Empress“ wieder flott war, in der Dunkelheit zu schnell auf der nächsten Untiefe.

„Ist ja schon gut“, sagte der Kutscher deshalb. „Uns hetzt ja auch keiner.“ Er erhob sich von der Last und schritt auf das Schott der Pantry zu. „Aber ich schätze, gegen ein gutes Abendbrot hat keiner was einzuwenden, wie?“

„Her damit!“ rief Old O’Flynn. „Mir knurrt schon der Magen!“

„Ja, einen Happen könnte ich jetzt auch vertragen“, sagte Nils Larsen.

Carberry gab gerade die Flasche an Sven Nyberg weiter.

„Hölle, von dem Zeug kriegt man wirklich einen Mordshunger“, sagte er.

Der Kutscher arbeitete schnell und präzise. Aus der Pantry drangen himmlische Düfte – diesmal briet er kleingeschnittenes Gemüse in einer der Pfannen. Er gab ein paar Eier hinzu – Geschenke von Eric Winlow, der ihm vor der Abreise von Great Abaco im Vertrauen mitgeteilt hatte, daß die Legehennen der „Golden Hen“ zur Zeit beinah zu viele Eier produzierten.

Zu dem Gemüse-Rührei gab es Brot, Schiffszwieback, Schinken, Hartwurst, Speck und andere Leckereien. Die Zwillinge trugen alles auf, und die Männer machten sich mit Begeisterung auch über diese Mahlzeit her.

Old O’Flynn stieß zwischen dem Rührei-Gang und der „kalten Platte“ ein wohlwollendes Grunzen aus.

„Das schmeckt“, sagte er. „Und wie schnell du das hingekriegt hast, Kutscher. Alle Achtung.“

„Wenn man daran gewöhnt ist, eine große Crew zu versorgen, geht so was aus dem Handgelenk“, erklärte der Kutscher. „Aber das weißt du doch auch selbst, Donegal.“

„Ja, stimmt“, sagte der Alte. „Aber ich hatte vergessen, wie gut die Sachen sind, die aus deiner Kombüse stammen.“

„Ach, übertreib nicht“, sagte der Kutscher.

„Los, trink noch einen Schluck Rum!“ rief der Alte fröhlich. „He, Martin!“

Martin Correa reichte dem Kutscher grinsend die „Buddel“, aber der Kutscher genehmigte sich nur einen ganz normalen Schluck, nicht mehr.

„So, jetzt sind die Jungs dran!“

Der Kutscher beschloß insgeheim, sich ein bißchen an dem Alten zu rächen – wegen des besonderen „Stils“, mit dem er die Geschicke der „Empress“ und ihrer Crew zu lenken pflegte. Es würde sich schon noch eine entsprechende Gelegenheit ergeben. Natürlich noch heute abend.

Es war die richtige Stunde, um über Geister und Elfen zu plaudern. Die Dunkelheit senkte sich über das Schiff. Aus dem Dickicht von Nordandros ertönte das Quaken von Fröschen und das Zirpen von Zikaden.

Eine gute Geräuschkulisse, dachte der Kutscher, dann grinste er.

Seewölfe Paket 24

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