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a) Vorrang des Unionsrechts kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung
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Das BVerfG geht von einem Vorrang des Unionsrechts kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung aus. Darüber dürfen die Entscheidungen nicht hinwegtäuschen, in denen das BVerfG aus der Costa/ENEL-Rechtsprechung des EuGH (vgl Rn 218 ff) expressis verbis den Schluss gezogen und diesem beigepflichtet hat, dass das Unionsrecht weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht sei[171]. Denn das BVerfG nimmt die Normenkontrolle über die Zustimmungsgesetze zu den EU-Gründungsverträgen und damit mittelbar über das Primärrecht nach wie vor in Anspruch[172]. Unter „Autonomie“ und „Eigenständigkeit“ des Unionsrechts versteht das BVerfG daher (im Gegensatz zur „Gesamtakttheorie“, vgl Rn 129) jedenfalls keine Ablösung des Primärrechts und auch des Sekundärrechts von der völkerrechtlichen Grundlage. Im Solange II-Beschluss bekräftigt das BVerfG eindeutig die völkerrechtliche Grundlage des Unionsrechts und die fortbestehende Bedeutung der Zustimmungsgesetze für seine Geltung und Anwendung im innerstaatlichen Bereich. Es zieht zB die Auslegungsgrundsätze der WVRK heran, um die völkerrechtliche Erheblichkeit der Erklärungen der Unionsorgane zum Grundrechtsschutz (vgl Rn 463) zu belegen[173]. Es betont, dass sich die innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit sowie ein möglicher innerstaatlicher Geltungs- oder Anwendungsvorrang wie allgemein für völkerrechtliche Verträge auch für die EU-Gründungsverträge nicht schon aus dem allgemeinen Völkerrecht, sondern allein aus einem dahingehenden innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl ergibt (ungeachtet dessen, dass die EU-Gründungsverträge ihrem Inhalt zufolge die Parteien dazu verpflichten, den innerstaatlichen Anwendungsvorrang herbeizuführen). Damit macht es deutlich, dass die unmittelbare Geltung des Sekundärrechts in Deutschland und sein Anwendungsvorrang gegenüber innerstaatlichem Recht sich aus dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zu den Verträgen, der sich auf Art. 288 Abs. 2 AEUV erstreckt, ergibt[174]. Es präzisiert damit im Sinne der Vollzugstheorie des Völkerrechts seine für den Anwendungsvorrang und seine verfassungsrechtliche Ermächtigung wichtige Aussage aus seiner früheren st Rspr, dass das von Art. 24 Abs. 1 GG (jetzt Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) geforderte Integrationsgesetz diese Verfassungsbestimmung aktualisiere, welche
„die deutsche Rechtsordnung derart öffnet, dass der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen wird“[175].
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Die konkreten Folgen, die dadurch im Gegensatz zu einer bloßen Transformation entstehen, hat das BVerfG in seiner Interpretation des Art. 24 Abs. 1 GG (dies gilt ebenso für Art. 23 Abs. 1 S. 1 und 2 GG) dahingehend verdeutlicht, dass dieser bei sachgerechter Auslegung nicht nur besage,
„dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt zulässig ist, sondern auch, dass die Hoheitsakte ihrer Organe vom ursprünglich ausschließlichen Hoheitsträger anzuerkennen sind“[176].
Damit ist der Vorrang des Unionsrechts auch verfassungsrechtlich im Grundsatz gesichert.
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Diese Rechtsprechung und den damit verbundenen Prüfungsvorbehalt hat das BVerfG im Kloppenburg-Beschluss bestätigt, wo es eine eingehende Prüfung dahingehend vornimmt, ob die Rechtsfortentwicklung durch den EuGH (hier die Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien über den Wortlaut des Art. 288 Abs. 3 AEUV hinaus, vgl Rn 493 ff) noch von der Integrationsermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG (jetzt Art. 23 Abs. 1 GG) getragen ist[177].
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In der Frage Geltungs- oder Anwendungsvorrang war die Terminologie des BVerfG uneinheitlich; in seinen neueren Entscheidungen legt es sich inhaltlich auf den Anwendungsvorrang fest[178].