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aa) In der Literatur vertretene Auffassungen

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Unhaltbar und daher aufgegeben wurden folgende Auffassungen: Lösung anhand der allgemeinen Regeln des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht ohne Berücksichtigung der besonderen Erfordernisse des Unionsrechts. Dies würde zu einem unterschiedlichen Rang des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten führen, was mit der notwendigen einheitlichen Geltung und Anwendung des Unionsrechts unvereinbar ist. Bundesstaatliche Lösungen, die entweder die Geltung eines Satzes „Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht“ (Grabitz, 1966) oder eine Kompetenzabgrenzung dahingehend behaupten, dass kompetenzwidrig erlassenes nationales Recht nichtig sei (Ophüls[139]). Gegen diese Theorien spricht bereits, dass die Europäische Union kein Bundesstaat ist[140], ferner, dass für einen solchen die Regel „Bundesrecht bricht Landesrecht“ (Art. 31 GG) keineswegs zwingend ist. Die Kompetenzabschichtungstheorie geht von einer unzutreffenden „dinglichen“ Deutung des Übertragungsaktes aus. Eine verfahrensrechtliche Lösung dahingehend, dass der EuGH in Kollisionsfällen auch über die Gültigkeit oder Ungültigkeit nationalen Rechts judizieren kann, scheidet deshalb aus, weil dem EuGH – auch nach seiner eigenen Judikatur[141] – diese Kompetenz nicht zukommt. Pragmatische Lösungen wie eine unionskonforme Auslegung nationalen Rechts nach einer Regel „in dubio pro communitate“ oder des Erlasses jeweils neuen Unionsrechts, wenn entgegenstehendes nationales Recht dem bisher erlassenen Unionsrecht widerspricht („lex posterior communitatis“) können eine normative Lösung schon deshalb nicht ersetzen, weil sie die zuständigen Organe nicht binden.

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Vertreten wird ein Vorrang des Unionsrechts kraft Eigenständigkeit (rein europarechtliche Lösung) und ein Vorrang kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigungen (europarechtliche Lösung, die auf fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigungen beruht).

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Die rein europarechtlichen Lösungen gehen von einem eigenständigen Rechtscharakter des Unionsrechts aus, da es sich von seiner völkerrechtlichen Grundlage gelöst habe, lehnen daher die Lösungsversuche über das Verhältnis Völkerrecht/Landesrecht ab und suchen Kollisionsnormen ausschließlich im Unionsrecht. Dabei wird vordringlich auf das teleologisch ermittelte Prinzip der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Union abgestellt, dem die maßgebliche Kollisionsregel zu Gunsten eines Vorranges des Unionsrechts entnommen werden könne. Zudem enthielten Art. 4 Abs. 3 EUV (ex-Art. 10 EGV) für das primäre, Art. 288 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 249 Abs. 2 EGV) bzw Art. 161 Abs. 2 EAGV für das sekundäre Unionsrecht nicht nur Sach-, sondern auch Kollisionsnormen und seien als solche exemplarische Belege dieses Prinzips. Die allgemeine Verbindlichkeit der so gefundenen Kollisionsnormen beruhe auf der Tatsache der Zugehörigkeit (Gliedstellung) der Mitgliedstaaten zur Union. Damit habe das Unionsrecht Vorrang vor allem nationalen Recht der Mitgliedstaaten. Diese Lehre ist sowohl für den Anwendungs- wie für den Geltungsvorrang (s. Rn 225) offen.

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Letztlich trifft dieser Ansatz auch auf die von H.P. Ipsen entwickelte sog. Gesamtakttheorie (s. Rn 129) zu. Diese verweist zwar auf Art. 24 Abs. 1 GG (jetzt Art. 23 Abs. 1 GG) als unentbehrlichen „Integrationshebel“, sieht dessen Funktion aber mit der Errichtung der Gemeinschaften als erschöpft an.

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Basis dieser Theorien ist die behauptete Loslösung des Unionsrechts von seiner völkerrechtlichen Grundlage, bei deren Vorliegen es in der Tat auf die verfassungsrechtlichen Ermächtigungen nicht mehr ankäme. Diese Loslösung ist bislang aber nicht erfolgt (vgl Rn 130).

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Die Eigenständigkeit des Unionsrechts ist kein tragendes Argument, da die Eigenständigkeit einer Rechtsordnung noch nichts über ihr Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen besagt.

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Auch die Theorien, die einen Vorrang des Unionsrechts kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung annehmen, bejahen die genannten (s. Rn 210) Kollisionsregeln im Unionsrecht. Diese bedürften jedoch einer Ergänzung im Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten, das zur Einräumung eines solchen Vorrangs in einem völkerrechtlichen Vertrag wie den EU-Gründungsverträgen ermächtigen müsse[142]. Dies steht, wie die Anwendung völkerrechtlicher Kategorien überhaupt, der erforderlichen Funktionsfähigkeit der Union nicht entgegen, wenn die Besonderheiten eines Integrationsvertrages berücksichtigt werden, was auf dieser Basis auch geschehen kann (s. Rn 131). Zur Realisierung im GG s. Rn 228 ff.

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Der Unterschied beider Theorien liegt darin, dass ein Vorrang kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung nur so weit reicht wie diese Ermächtigung, deren Schranken bestimmt und beachtet werden müssen. Besteht in einem Mitgliedstaat eine Verfassungsgerichtsbarkeit, kann diese die Einhaltung dieser Schranken kontrollieren. Bei einem Vorrang kraft Eigenständigkeit wäre dies nicht mehr möglich.

Beispiel:

Deutsche Landesverfassungsgerichte (zB der Bayerische Verfassungsgerichtshof) üben keine Kontrolle über Bundesrecht am Maßstab des Landesverfassungsrechts (zB Bayerische Verfassung) aus[143].

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Probleme könnten sich ergeben, wenn die Schranken der Integrationsermächtigung in den Mitgliedstaaten verschieden sind. Damit die Union funktioniert, muss sich das nationale Verfassungsrecht entsprechend öffnen, was in allen Mitgliedstaaten erfolgt ist[144].

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Die verfassungsrechtlichen Schranken und die Kontrolle ihrer Einhaltung (s. dazu Rn 236, 241) können eine präventive Warnfunktion gegenüber Unionsorganen in der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen erfüllen.

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