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dd) Anforderungen des Lissabon-Urteils – Kategorien des Prüfungsvorbehalts
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Über die in Verfassungsbeschwerden gegen den Verfassungsvertrag erhobenen Einwände wurde in Deutschland nicht entschieden, bis sie sich durch Wegfall des Beschwerdegegenstandes erledigten (jeweils verfassungsrechtliche Würdigung in den Urteilen des französischen Conseil Constitutionel[199] und des spanischen Tribunal Constitucional[200]. Der (bei richtiger Auslegung unbegründet) angegriffene Art. I-6 EVV (Vorrang des Rechts der Union) wurde nicht in den Vertrag von Lissabon übernommen (s. Rn 201, Fn. 132)[201]; das Austrittsrecht sieht jetzt Art. 50 EUV vor[202].
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Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG die von ihm bisher entwickelten Prüfungsmaßstäbe bestätigt, präzisiert und ergänzt. Danach erstreckt sich der Prüfungsvorbehalt auf drei Kategorien: Die Grundrechtskontrolle (die als besonderer Aspekt der Identitätskontrolle angesehen werden kann), die Ultra-vires-Kontrolle und die Identitätskontrolle:
„Das BVerfG prüft, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des gemeinschafts- und unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips … in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten (vgl BVerfGE 58, 1 (30 f); 75, 223 (235, 242); 89, 155 (188): dort zum ausbrechenden Rechtsakt)“[203].
Der Verweis auf die unionsrechtlichen Vorgaben ist missverständlich, da die Kontrolle von deren Einhaltung allein dem EuGH obliegt. Prüfungsmaßstab für das BVerfG ist insoweit allein die Subsidiaritätsforderung des Art. 23 Abs. 1 GG. Der verfassungsrechtliche Ansatz der Kontrolle des Übertragenen, worauf sich die Ultra-vires-Kontrolle ja bezieht, wird nicht näher präzisiert; er dürfte angesichts des Arguments mit „der den Mitgliedstaaten zustehenden konzeptionellen Integrationsverantwortung“[204] im aus Art. 23 Abs. 1 iVm Art. 79 Abs. 3 GG hergeleiteten Verbot der Übertragung der Kompetenz-Kompetenz liegen.
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„Darüber hinaus prüft das BVerfG, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113, 273 (296).“[205]
Als Gegenstände dieser auf das Übertragbare bezogenen „Identitätskontrolle“ lassen sich dem Lissabon-Urteil zum einen die Bewahrung der Eigenstaatlichkeit Deutschlands, das nach der Rechtsprechung des BVerfG auf der Basis des Grundgesetzes nicht durch einen „Identitätswechsel“ in einem europäischen Bundesstaat aufgehen darf[206], sowie die Bereiche entnehmen, in denen den Mitgliedstaaten ein „ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse“ bleiben muss. Denn ohne Beachtung dieses Postulats darf die „europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten“ nicht verwirklicht werden[207]. Verfassungsrechtlicher Ansatzpunkt ist die Wahrung des Demokratieprinzips, da Demokratie „nicht nur die Wahrung formaler Organisationsprinzipien“ bedeute, sondern „von und in einer funktionsfähigen öffentlichen Meinung“ lebe, „die sich auf zentrale politische Richtungsbestimmungen“ konzentriere[208]. Dies gelte „insbesondere“, also beispielhaft und nicht erschöpfend,
„für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten.“ [209]
Das BVerfG benennt dafür konkrete Materien:
„Zu wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung gehören unter anderem die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände, vor allem bei intensiven Grundrechtseingriffen wie dem Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege oder bei Unterbringungsmaßnahmen. Zu diesen bedeutsamen Sachbereichen gehören auch kulturelle Fragen wie die Verfügung über die Sprache, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis“. [210]
Das BVerfG liefert für diese Bereiche nähere Begründungen. Aktuell bedeutsam sind die Ausführungen zum Budgetrecht des Bundestages. Das BVerfG hält zwar fest, dass „nicht jede haushaltswirksame europäische oder internationale Verpflichtung die Gestaltungsfähigkeit des Bundestages als Haushaltsgesetzgeber“ gefährdet, wohingegen entscheidend sei, „dass die Gesamtverantwortung mit ausreichenden politischen Freiräumen für Einnahmen und Ausgaben noch im Deutschen Bundestag getroffen werden kann“[211].
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Die Konkretisierung solcher „essentieller“ Staatsaufgaben ist auf Kritik gestoßen[212]. Über den Katalog kann man durchaus geteilter Meinung sein, auch über die Frage, inwieweit dadurch eine verfassungsrechtliche Integrationsschranke begründet werden kann. Schneller als erwartet hat sich das Problem der faktischen Budgethoheit der nationalen Parlamente als ein reales und aktuelles erwiesen. Denn es ist fraglich, inwieweit diese angesichts der bereits aktuellen und in noch viel größerem Umfang potenziellen Bindung erheblicher Mittel durch den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (ESM) noch gegeben ist[213]. Das zu den Identitätsmerkmalen gezählte Budgetrecht des Bundestages birgt dann Konfliktpotential, wenn das BVerfG dieses nicht nur formell, sondern auch materiell begreift und durch erhebliche Bindungen durch Verpflichtungen gegenüber der Union jeglichen Spielraum für eine eigenständige Haushaltspolitik gefährdet sieht. Insoweit hält sich das BVerfG aber deutlich zurück und fordert allein, dass der Bundestag die Entscheidungsbefugnis nicht verliert[214].
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Ausdrücklich zum Identitätskern der deutschen Verfassung zählte das BVerfG im Urteil zur Vorratsdatenspeicherung den Schutz des Bürgers vor umfassender Überwachung[215] und erklärte das deutsche Umsetzungsgesetz, das nach Ansicht des BVerfG den nach seiner Ansicht vom EuGH bestätigten[216] Spielraum der EU-Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie nicht ausgeschöpft habe[217], für verfassungswidrig. Die EU-Richtlinie hat der EuGH dann selbst für nichtig erklärt, weil sie gegen EU-Grundrechte verstoße[218]. Dadurch ist dieses Konfliktpotential beseitigt. Aktiviert wurde die Identitätskontrolle gegenüber dem Vollzug eines von Italien ausgestellten Europäischen Haftbefehls, in dessen angesichts des substantiierten Vorbringens des Betroffenen unzureichender Prüfung durch das deutsche Gericht ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG gesehen wurde (Schuldprinzip, das in der Garantie der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG, und im Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG, wurzelt und durch Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG Teil der unaufgebbaren Verfassungsidentität des Grundgesetzes ist)[219].
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Das BVerfG bezeichnet die Identitätskontrolle als notwendige „verfassungsrechtlich radizierte Prüfungskompetenz“, um die von Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV anerkannten grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen souveräner Staaten bei fortschreitender Integration zu wahren[220]. Wie die Urteile zum Europäischen Haftbefehl und zur Vorratsdatenspeicherung zeigen, ist sie ein spezieller Aspekt der Grundrechtskontrolle. Die Urteile zu dem Mitgliedstaat Deutschland vorzubehaltenden Materien und zur Budgethoheit lassen sie auch als speziellen Aspekt der Ultra vires-Kontrolle erscheinen. Es kommt somit zu Überschneidungen zwischen den Kontrollmaßstäben. Über die beiden anderen geht die Identitätskontrolle aber in zwei Richtungen hinaus: Einerseits sind die Zulässigkeitskriterien strenger, andererseits die Folgen, nämlich Unanwendbarkeit des Unionsrechts im deutschen Rechtsraum, zwingender. Verstößt der Vollzug eines Europäischen Haftbefehls gegen die Menschenwürde, so ist dies ein absolutes Vollzugshindernis. Als Grenze des Übertragbaren wird gesehen, dass Deutschland durch einen „Identitätswechsel“ in einen europäischen Bundesstaat die Eigenstaatlichkeit nicht verlieren darf. Dies gehe über die Ermächtigung in Art. 23 GG hinaus, das BVerfG verweist auf Art. 146 GG[221]