Читать книгу Maminkas Sommerküche - Rumjana Zacharieva - Страница 17
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ОглавлениеNie war ich mit mir einig, wenn ich an meinen Großvater dachte. Liebte ich ihn? Warum zweifelte ich daran? Weil er trank? Weil er auf die Kommunisten fluchte und auf die Amerikaner wartete? Weil er Maminka verprügelte, wann immer sie sich für »die Heutigen« einsetzte und um Geld bat? Weil ich Angst vor seinen wutunterlaufenen Augen hatte und weil er den Organisationsleiter für verrückt hielt? Eins stand fest: Solche wie Großvater gab es nur noch zwei im ganzen Dorf: den Popen und Baba Penas Mann. Alle drei hießen »Iwan« mit Vornamen.
Nüchtern war mein Djado Iwan eigentlich nur, wenn er mit dem Traktor oder mit der Mähmaschine aufs Feld hinausfuhr oder wenn er als Schlachter engagiert wurde. Dies alles ging mir durch den Kopf an einem der heißen Nachmittage, erfüllt mit Umschauhalten nach jenem Etwas, das mir trotz der Lektüre von »Du und Ich«, trotz der Gestalten meiner Heldinnen Soja Kosmodemjanskaja und Rajna der Königin verborgen blieb und mich immer wieder elektrisierte. Heiß war es. Ich leckte meine Oberlippe: salzig. Ich dachte an Großvater, an den Winter, wie er da am Herd saß, seine Wollsocken auszog und auf dem Kessel mit dem heißen Wasser trocknete, Apfelschalen röstete und Maminka im Auge behielt, während sie Fleisch- oder Bohnensuppe kochte.
»Was knappst du denn mit dem Wasser so rum?« Nie gab er sich mit wenig Suppe zufrieden. »Wasser, mehr Wasser sollst du reingießen!« Nie ließ er sich die Gelegenheit entgehen, mit seinem verstümmelten Zeigefinger zu protzen. »Nein, Soldat wollte ich nie werden! Mich da von einem dummen Arsch antreiben und herumkommandieren lassen? Nicht mit mir!« Außerdem wäre ihm das Geschäft kaputtgegangen, wenn er nicht daheimgeblieben wäre. Er ist stolz auf sich selbst, auf alles, was er mal besessen hat: ein Drittel der Dorfländereien, eine der zwei Dorfkneipen, eine Mähmaschine und die einzige Krempel in der ganzen Region. Da brachten die Bauern die frischgeschorene Schafwolle zu Djado und ließen sie bei ihm krempeln. »Ein Geschäft, das sag’ ich dir, Mila!«
Einen Augenblick lang vergisst er, wovon er spricht. Die ganze Küche riecht nach Bohnen und Fleisch, nach Bohnenkraut, billigem Tabak und nach seinem Schweiß. Wie im Traum gießt er heißes Wasser auf den heißen Backstein, das Zischen und der Dampf rufen ihn aus seinen Gedanken zurück, und die Schatten der armseligen Dinge in der Küche verdichten sich zu gleichmäßigem Dunkel. Großvater erzählt, und während er erzählt, verlässt ihn die Zeit: Plötzlich hat er seinen schwarzen Schopf wieder, und die frechen Augen strahlen, und ich sehe ihn die Halle betreten, wo die Krempel steht, eine Flasche Pflaumenschnaps in der Hand. Er gießt ein halbes Wasserglas voll und stellt es auf die Bank neben der Krempel, macht den Deckel der Maschine auf. Die Stahlzähne schimmern matt, als würden sie lächeln, und das, was dann kommt, schnürt meine Kehle zu, denn ich weiß, was kommt, und mir wird es flau im Magen, denn Großvater steckt seinen rechten Zeigefinger zwischen die Zähne der Krempel, und die Krempel ist immer hungrig ... Mit dem Zischen des heißen Wassers auf den Backsteinen kehrt die Zeit in Djados Gesicht zurück, er zeigt mir den verstümmelten Zeigefinger. Er hatte ihn sofort in den Schnaps getunkt, gleichzeitig die Flasche geleert und war zu Maminka gerannt.
»Mich holen sie nicht mehr! Mich in die Kaserne einsperren? Nein!«
Maminka rührt im Topf herum.
»So einer ist das, Mila!« Maminka gießt etwas Wasser nach und stellt den Kessel wieder auf die Herdplatte. »Mach dem Kind keine Angst, du Protznase, du! Und sowas nennt sich Patriot!«
»Nochmal!« Djado greift zum Kessel. »Nicht mal das Kochen konnte ich dir in dreißig Jahren beibringen! Was knappst du denn mit dem Wasser so rum!«
»Nicht mal das Kochen ...«
Dies war der Anfang eines Streits, der gewöhnlich damit endete, dass Djado zum Trost noch einen Schnaps kippte und den Weg zur Kneipe einschlug. Wenn Großvater aber zum Schlachten erwartet wurde, blieb er eisern. Er ging immer nüchtern hin. Jedes Mal ließ er sich mit Fleisch ausbezahlen. Fast zwei Monate lang hatten wir dann regelmäßig Fleisch auf dem Tisch, mindestens zweimal in der Woche. Nichts schmeckte so gut wie gebratenes Fleisch! Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir jeden Tag Fleischgerichte gegessen. Doch wir lebten in einer mageren Zeit.
Ich gehe durch das Dorf, und es ist Sommer. Ich denke immer noch an Djado – und an das faszinierende Spiel der Jahreszeiten in meinem Kopf. Ich komme mir allmächtig vor, denn ich brauche nicht mal die Augen zu schließen, um den Winter zu rufen, die Zeit zu verlängern oder sie zu verkürzen, die unendliche Freiheit, die Zauberei im Kopf, ja, alles, was ich bewirken kann. Ich denke an Djado. Ich gehe jetzt durch verschneite Straßen. Es schaudert mich vor allem an Sonntagen, denn sonntags werden die Schweine geschlachtet. Da schreien wenigstens drei oder vier Tiere auf einmal. Jetzt werden sie mit den Messern durchbohrt, je ungeschickter der Schlachter, desto länger die Qual für das Tier. Ich bin stolz auf Djado. Bei ihm gibt es kein Gebrüll: ein Stich, ein Schrei, und das Tier ist erlöst.
Unser Schwein weiß nicht, dass es geschlachtet wird. Unser Schwein bekommt einen letzten Napf mit aufgeweichten Brotkrusten und Gemüseresten. Es grunzt vergnügt, es schmatzt und wedelt mit dem Ringelschwänzchen. Der Schneeduft zittert, ein Feuer frisst sich in die Schneedecke hinein, in der Nähe des Holzstapels. Da kommen sie am Nussbaum vorbei, treten breitbeinig in den Schnee, die Männer – Djados Helfer. Großvater hat seine schwarzrot karierte alte Wolljacke und die Schirmmütze an, er befühlt die Klingen der zwei Messer liebevoll mit dem verstümmelten Zeigefinger – sie sind gut gewetzt. Er spuckt in den Schnee und stampft darin herum. Die Männer hinter ihm spucken nacheinander, stampfen mit den Schuhen. Ich laufe und halte mir die Ohren zu, ich laufe nicht schnell genug. Maminka holt mich ein. Sie hält mir die Ohren zu. Ich schreie lauter als das Schwein, sein Quieken geht in meinem Schrei unter. Großmutter holt eine neue Flasche Pflaumenschnaps aus dem »anderen Zimmer«.
»Nachher wird’s toll schmecken, Mila!«
Ich schaue durchs Fenster: Der Schnee im Hof ist breitgetreten, mit Blut bespritzt. Ein großer, knallroter Kreis, der zur Mitte hin immer dunkler und matschiger wird, dunkler, bis er ganz schwarz gähnt, dort, wo unser Schwein mit aufgeschnittener Kehle und aufgerissenem Maul liegt. Ich gehe hinaus. Ich rieche den Schnee. Der Schnee riecht nach Blut und versengten Borsten. Die Männer stehen im Kreis herum, ein Gläschen heißen, süßen Pflaumenschnaps in der Linken, ein Stück zartgebrannter Schweinehaut von der Hüfte, dort, wo sie am zartesten ist, in der Rechten, die Stiefel im Boden festgewachsen, im blutigen Schlamm. Djado reicht mir ein frischgegrilltes Stückchen Schweinehaut.
»Nimm, sei nicht dumm, das ist eine Delikatesse!«
Und ich esse. Es schmeckt gut: gleichzeitig geräuchert und gebraten.
Ich vermied es nur, dabei unser Schwein anzuschauen, das nur einen Schritt weit entfernt von mir hing und immer noch warm war.