Читать книгу Maminkas Sommerküche - Rumjana Zacharieva - Страница 20

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Ich höre die Stimmen der Schafe, ihre Glocken. Ist es schon so spät geworden? Fast Abend. Der Wind legt sich an der Straße lang und ruht sich im Staub aus. Er hat genug vom Wirbeln. Jetzt brauchen die Bäuerinnen ihre Röcke nicht mehr festzuhalten. Sie steigen unbeschwert vom Lastwagen, der sie an der Dorfbäckerei wie eine Ladung aufgescheuchter Hühner freilässt. Manche stellen sich artig am Ende der Schlange an und kaufen noch Brot, dann schlendern sie langsam und vergnügt nach Hause, die Harke auf der Schulter, das weiße Kopftuch lässig vom Haar gerutscht – es ist die Stunde der Heimkehr. Viele gehen erst noch am Kindergarten vorbei und dann samt Harke, Brot und Kind nach Hause.

Ich war auch beim Bäcker vorbeigegangen und hatte ein Brot gekauft. Beim Öffnen des Tores merkte ich, dass ein Drittel des frischen Brotes weg war – ich hatte es aufgegessen.

»Maminkaaa!« Komisch, warum antwortete sie nicht? Sonst goss sie doch um diese Zeit das Gemüse. Ob etwas passiert war?

Ich legte die Bücher und das Brot auf den Tisch vor der Sommerküche und stürzte die Treppe herauf.

»Maminkaaa!«

Keine Antwort.

Sie liegt im Bett und klappert mit den Zähnen. Ich schlage die Tür zu, renne wie um mein Leben, hoffentlich stirbt sie nicht! An Rosenhecken und aufgescheuchten Gänsen vorbei, am Kindergarten vorbei, an der Kirche vorbei, hinab, den steilen Pfad an den Holunderbeeren vorbei, mein Atem stockt und brennt im Hals. Lieber Gott, lass sie leben! Lieber Gott, wenn es dich geben sollte, lass Maminka gesund werden! Hörst du! Die Füße bleiben stehen, ich bin nie gut im Laufen gewesen, immer die letzte, nur das Herz rast weiter, löst sich vom schweren Schritt, geht voran. Baba Penas Hof war plötzlich vor mir.

»Baba Penaaaa!«

Mein Schrei ging mir voran, der Hof lag still, abgeschirmt von der Straße durch den Weingarten. Ich lief quer durch die Reben bis zum Haus und tat mir an den Rebenwurzeln weh. Ich stürzte auf die Pergola. Baba Pena saß beinahe begraben unter einer Wolke aus frischgezupfter Schafwolle.

»Tach Kind!«

Sie zupfte ruhig weiter, und ich zog sie am Arm.

»Komm! Du musst sofort kommen, Maminka liegt im Bett und stirbt!«

»Moment mal ...», sie schob die Wolle vorsichtig beiseite, »was gibt’s denn?

Ich hob sie fast vom Boden.

»Nimm die Saugnäpfe und komm! Du sollst die Saugnäpfe mitbringen! Du bist doch eine halbe Ärztin!«

Baba Pena war eine sehr kleine Frau, so groß wie ich. Sie war Großmutters einzige Freundin. Da Maminka niemals ausging, war sie froh, dass »dieser Besen«, wie sie Baba Pena in deren Abwesenheit nannte, ihr alle Nachrichten vom Dorf mitbrachte. Sie war es, die Maminka jeden Tag informierte, was im Dorf los war, wer ins Krankenhaus gekommen war, wer Besuch aus der Stadt bekommen hatte. Ihr Mann war Großvaters Namensvetter und Freund. Beide Männer saßen stundenlang mit dem Popen zusammen in Djados ehemaliger Kneipe und »siebten die Politik«, wie Maminka zu sagen pflegte. Er war auch ein Geschädigter und gegen »die roten Ärsche«, sodass sie gut zueinander passten.

Baba Pena bleibt einen Augenblick stehen. »Ich kann nicht so schnell laufen, Kind!«

Ich bleibe auch stehen. Sie hält die Saugnäpfe und eine Streichholzschachtel in ihrer Schürze, und die Gläser klappern verräterisch. Jeder, der an uns vorbeigeht, weiß, dass Baba Pena jemanden kurieren wird. Ich bin ungeduldig. Ich habe Angst. Endlich geht Baba Pena weiter.

»Kommt dein Djado heute Abend vom Feld zurück?«

»Ich weiß es nicht! Ich glaube, er schläft bis Sonntag auf dem Feld. Sie sind mit dem Mähen noch nicht soweit, hat der Brigadier ausrichten lassen ...«

»Umso besser«, meint sie und steigt unsere steile, komische Treppe hinauf, »es ist auch keine Männersache.«

»Tach!« Maminka streckt ihr ihre dünne, sehr blasse Hand entgegen.

Baba Pena grüßt leise beim Eintreten und mustert ihre Freundin vom Kopf bis zu den zugedeckten Füßen.

»Hast du dich denn verhoben? Tut es weh?« Dann ordnet sie die Saugnäpfe auf dem Tisch. Sie schaut sich um. »Gib mir eine Scheibe Brot, Kind.«

Und ich hole ihr eine Scheibe Brot aus dem Brotfach.

Sie schneidet daraus langsam und vorsichtig zehn Würfel, steckt ein Streichholz mit dem Kopf nach oben in jedes Stückchen, dann streift sie geschäftsmäßig Maminkas Hemd hoch.

»Zieh dich aus!«

Großmutter gehorcht und gibt nur ein leises Stöhnen von sich.

»Mein ganzer Rücken, die Schultern, ich weiß nicht genau ...« Großmutter zieht das Hemd aus und legt sich auf dem Bauch.

Baba Pena sagt:

»Es dämmert ... mach das Licht an, Kind! Du wirst mir helfen, es muss schnell vor sich gehen. Du brauchst nur die Gläser anzuheben, wenn ich es dir sage, sonst nichts.«

Ich schlucke einige Male schnell hintereinander.

»Wie du meinst!«

Baba Pena setzt die zehn Würfel Brot mit den Streichhölzern auf Maminkas Rücken. Dann zündet sie ein Streichholz an und hält es in der Rechten, in der Linken das Glas, stülpt es schnell und geschickt darüber, sodass die Flamme ausgeht und das Glas sich in Maminkas Fleisch einsaugt. Zehnmal, bis Großmuttes Rücken wie mit Gläsern gespickt aussieht. Ich glaube den Geruch von verbranntem Fleisch zu spüren, das muss doch wehtun!

Maminka bleibt liegen, tröstet mich: »Das tut gut, Mila!«

Baba Pena setzt sich ans Bett, »Ziehen muss es jetzt«, beruhigt sie, und deckt Maminkas Rücken mit der Wolljacke zu.

»Was gibt’s Neues im Dorf, Pena?«, fragt Großmutter, als wäre sie schon geheilt.

»Petra Kojkina haben sie mit Blaulicht ins Krankenhaus, in die Stadt, gebracht.« Dieser Besen schaut durchs Fenster hinaus und senkt ihre Stimme. »Sie war wieder mal soweit und hat’s wohl allein versucht, da ist sie beinahe verblutet.«

Maminka flüstert »Pass auf, Pena!«, während ihr Blick mich verstohlen streift.

Ich meine, etwas von jenem geheimnisvollen Strom zu fühlen, der sich wieder um mich herum ausbreitet.

»Was hat sie denn gehabt, Baba Pena?«

»Was soll sie denn schon gehabt haben, Kind! Frauensachen sind das, misch dich da nicht ein!«, wimmelt sie mich ab.

Großmutter schweigt, und ich weiß, dass ich etwas Verbotenes gefragt habe.

»Komisch ...«, fährt Baba Pena fort, als wäre ich gar nicht im Zimmer, »bei der einen geht es gut, bei der anderen schief.«

Maminka möchte das Gespräch beenden, aber Baba Pena überhört sie:

»Wenn es soweit ist, muss jede ihr Joch selber tragen«. Ihr Gesicht ist von einer unbändigen Klatschsucht beseelt. »Mit einer Malvenwurzel! Mit einer Malvenwurzel hat sie es versucht ... so hat’s mir die Dicke Mita erzählt.« Sie setzt sich aufrechter, »Hab’ ich ja auch versucht, und es hat immer geklappt!«

»Was denn?«, höre ich mich laut rufen, und ich könnte Baba Pena hinausschmeißen, da sie mich so neugierig macht und doch nichts verrät.

»Geh du am besten spielen ...« Großmutter schickt mich hinaus, »geh Brot holen, und wenn du wieder da bist, mach ich dir was zum Abendessen.«

»Brot habe ich schon geholt!« Ich stehe abrupt auf, »Aber ich gehe nach draußen, wenn ich es nicht hören soll!«, sage ich trotzig.

»Wenn es darum geht, muss jede ihr Joch selbst tragen«, hatte Maminka gesagt. Was hatte sie bloß damit gemeint? Immer wieder diese Gespräche der Erwachsenen und dieses Mischdichnichtein! Und das Sichimmerwiederfügen und das Zimmerverlassen, wenn es am interessantesten wurde!

Ich ging hinaus und wusste wieder mal nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Der Sommertag war so lang, dass ich am liebsten auf die Straße gegangen wäre. Doch ich hatte Angst, der Herde der Kooperative zu begegnen. Die Pferde ...

Ich warte. Erst höre ich entferntes Donnern, undeutlich, dumpf. Dann vernehme ich blitzartiges Wiehern, das dumpfe Donnern zerfällt in einzelne Hufschläge. Ich öffne das Tor und schaue die Straße hinab. Eine Wolke steigt am Ende der Straße empor, dann sehe ich eine dunkle Masse, einen gemeinsamen Rücken, der im Galopp wogt. Ich zähle: eins, zwei, drei, vier ... Bei fünf stürze ich hinters Tor zurück und verriegele es. Bei zehn rast schon die ganze, vom unteren Ende der Straße angeschwollene Pferdewelle an mir vorbei, mein Herz rast mit ihr, ich atme den Geruch der Tiere ein, ich bebe und habe Angst, bin aber doch in Sicherheit hinter den Brettern und wundere mich, dass Angst schön sein kann. Schade, dass wir keinen Pferdemist mehr brauchen! Die Straße ist voll davon.

Baba Pena öffnet das Tor.

»Ich gehe!«, sagt sie, »deiner Maminka geht es wieder gut, morgen kann sie aufstehen.«

Ich falle ihr um den Hals, schreie vor Freude auf, achtzig Prozent und das Knopfloch entzwei!

»Baba Pena, du bist die Größte, du bist eine ganze halbe Ärztin!«

»Vorsicht, Kind ...«, sie wehrt sich, »die Saugnäpfe!«, und geht mit den Saugnäpfen in der Schütze klappernd davon.

Ich freue mich so, dass ich mich erst mal neben Großmutter setze und gar nichts sagen kann. Ich halte ihre Hand und fühle, wie diese schmale, grobe Hand in meinen Händen einschläft. Ich habe keinen Hunger mehr. Im Zimmer wird es endgültig dunkel‚ ich krieche unter die Decke, rolle mich neben Maminka und schlafe an ihrem Rücken ein, der nach Spiritus und etwas unbestimmt Vertrautem riecht. Achtzig Prozent und das Knopfloch entzwei! Dabei bleibt es.

ln der Nacht lief ich den Hang hinunter ins Tal, an der Kirche vorbei. Unser Schwein mit dem Rücken voller Saugnäpfe lief mir nach, und es roch nach verbrannter Menschenhaut. »Iss, das ist eine Delikatesse«, forderte mich einer der Männer auf, die das Schwein halten sollten. Breitbeinig stand er vor mir, in einem schwarzen Ledermantel, und gab ein unverständliches Deutschgebrüll von sich, bei dem jeder Satz mit »Heil!« endete. Ich weigerte mich, zu essen, und erklärte mich bereit, für die Freiheit zu sterben.

Maminkas Sommerküche

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