Читать книгу Maminkas Sommerküche - Rumjana Zacharieva - Страница 19
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ОглавлениеVor der Dorfbibliothek wirbelte der Wind lauter Staubwolken auf. Sie liegt an einer Kreuzung. Zwei Stufen über der Straße und schon war man im Lese- und Ausleihsaal. Hier war es dunkel, kühl und still, und es gab keinen anderen Platz im Dorf, an dem ich mich lieber aufgehalten hätte. Links – der lange Tisch mit den Zeitungen. Djado behauptete, sie seien alle überflüssig, da sie alle dasselbe erzählten. Ich las keine Zeitungen und glaubte, niemals welche zu lesen, weil sie zu sehr knisterten. Wenn ich bei meinen Eltern zu Besuch war und wir beisammensaßen und lasen, beobachtete ich Vater, wie er die Seiten umständlich wendete und unerträglich knisterte, und ich wartete nur darauf, dass er nach einem Buch griff. Der Raum faszinierte mich. Rechts an der Wand die Kinderbücher und alles, was Jugendliche lesen durften. Quer im Raum – der Schreibtisch des Bibliothekars Bate Stefan. Er hatte das feinste Gesicht im ganzen Dorf, eine Stirn, die gar nicht enden wollte, und blasse Hände mit sehr langen Fingern, die die Bücher wie Säuglinge behandelten. Hinter seinem Rücken fing das Unbekannte an: Bücher in fremden Sprachen, wissenschaftliche Literatur, auch medizinische, Bücher für Erwachsene ... Ich nahm an, dass »Du und Ich« auch da irgendwo untergebracht war.
Ich nähere mich leise, und Bate Stefan hebt den Kopf und lächelt mich an.
»Hast du schon wieder alles ausgelesen?«
Ich reiche ihm die Sommerleseliste.
»Die mit den Häkchen, die hab’ ich schon mal gelesen.« Und ich drehe mich verstohlen um, als hätte ich jemand Unsichtbaren beim Lesen gestört.
Bate Stefan steht auf, verschwindet hinter den Regalen, kommt wieder zurück mit drei Büchern Pflichtlektüre. Er legt die Bücher vor mich hin.
»Da, alles Pflichtlektüre.« Er hakt zwei Titel auf meiner Liste ab mit der Begründung, dass ich keine drei Bücher über Mitko Palausov zu lesen bräuchte, sein Partisanenleben und sein Heldentod wären in einem der Bücher ausführlich genug beschrieben. Dann beugt er sich leicht vor, und seine Augen verraten, dass etwas Besonderes kommt. »Und das hier – ›Ewgenija Grande‹ – das liest du erst, wenn du die drei da ausgelesen hast, als Belohnung!«
»Eu-gé-nie Gran-det«, buchstabiere ich und spüre etwas Aufregendes beim Anblick des dicken, schnurrbärtigen Schriftstellers, etwas Aufregendes, das der braunweiße Umschlag verbirgt.
Bate Stefan zögert einen Augenblick lang, aber dann legt er das Buch entschieden auf die anderen. »Ich glaube nicht, dass ich es dir zu früh zu lesen gebe«, und gibt mir meine Lesekarte heraus.
Ich bin stolz, dass zwischen uns ein stillschweigendes Einvernehmen herrscht und er mir ohne Bedenken manchen Leckerbissen der großen Literatur »als Belohnung« für die Pflichtlektüre gibt. Ich verabschiede mich und gehe, gehe langsam an den Regalen vorbei und beneide Bate Stefan, dass er nichts anderes zu tun braucht als den ganzen Tag hier ...
»Müsst ihr nicht auch die Schönschrift üben?«
Seine Stimme holt mich ein. Mich trifft ein Schlag: die Schönschrift! Ich habe die Schönschrift vergessen! An die Kamille und an die Pflichtlektüre habe ich gedacht, aber nicht an die Schönschrift. Ich weiß nicht recht, ob ich mit Bate Stefan böse sein soll oder ob ich mich bei ihm bedanken soll.
Jeden Tag fünf Zeilen schön abschreiben, mit dem Datum versehen: Unser Lehrer in Sprache und Literatur hatte sich in den Kopf gesetzt, aus uns allen Schönschreiber zu machen ... Jetzt müsste ich mich hinsetzen und rückwirkend alles nachholen, für jeden Tag fünf Zeilen schreiben und dann weitermachen, bis ans Ende der Ferien. Ohne sieben Kilo Kamille keine Schulbücher, ohne Schönschrift und Pflichtlektüre keine guten Noten in Sprache, kein Friede während des ganzen neuen Schuljahres. Mein armes schlechtes Gewissen: Es saß schon am Tisch und schrieb fleißig, während ich den Lehrer, den Organisationsleiter und den ganzen langen Sommer verfluchte. Manchmal wollte ich sterben, für die Freiheit ... Ich wollte auch mit niemandem mehr über irgendetwas sprechen, sonst würde mir wohl doch noch etwas einfallen, was ich über der Kamille vergessen haben könnte, und das machte ich bestimmt nicht mehr mit. Kamille, Pflichtlektüre, Schönschrift. Das reichte wohl fürs ganze Leben.
Und ich hatte nur die Sommerferien.