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Sommer. Ferien. Im Radio der Kalte Krieg. Mir gelingt es nicht zu verschlafen: Seit fünf Uhr früh dröhnt der Lautsprecher auf dem Dorfplatz Volkslieder, Meldungen der Volksfront, der Weltpolitik, der Kooperative. Und immer wieder heißt es: »der Kalte Krieg«. Neulich sogar, »Der Kalte Krieg ist in seine entscheidende Phase getreten.«

Wie alt ich bin? Zehn oder zwölf.

Ich sehe mich in Maminkas Bett mit dem geschnitzten Adler überm Kopf und einem Adler mit weniger pedantisch geschnitzten Federn am Fußende des Bettes liegen. Der Tag sendet seine Zeichen an mein Ohr: Das Krähen der Hähne im Schatten der Nussbäume, das Gurren der Tauben unterm Fenster, die Stimmen der Frauen, die sich unter der Weide am Dorfplatz versammeln. Gleich werden sie mit Pferdekarren oder Lastwagen aufs Feld gefahren.

»Kalter Krieg«. Die raunende Stimme der Sprechanlage will mir dauernd etwas mitteilen, das ich nicht verstehe. Wörter wie »Kapitalisten«, »Faschisten« und immer wieder »Kommunisten« bohren sich in meinen Schädel. Dann die Pfeife der Tante Mita, die ihre einzige Milchkuh zum Grasen treibt. Und die Gerüche: Palatschinkenduft, gebrannter Zucker, nasser Staub von der Straße. Die Sprechanlage redet sich in Rage. Dieser Kalte Krieg muss nahe sein. Ich frage mich nur, wie nahe.

Der Palatschinkenduft jagt mich aus dem Bett. Ich schaue durch das Fenster: Getümmel. Der Bus aus der Stadt ist soeben angekommen, die Frauen der Siebten Brigade, die immer noch nicht abgeholt worden sind, gestikulieren, als würden sie einander anschreien. Die Herde der Kooperative, die zum Grasen geführt wird, überflutet den Dorfplatz mit ihren braunen Leibern – eine Szene wie im Krieg. Großmutter hat meine Fantasie mit solchen Bildern besiedelt. Großmutter.

Ich renne die Holztreppe hinunter, betrete die Sommerküche. Maminkas Gesicht leuchtet im Halbdunkel des Raumes. Über ihrem Kopf hängen Maiskolben und Knoblauchkränze. Sie sitzt da, die Hände ineinander verknotet, die Nägel weißumrandet, die Furchen ihrer Handflächen weißgezeichnet mit Mehl.

»Großmutter, der Kalte Krieg kommt!«

»Ach, Kind! Den werden wir auch überleben ... ich hab’ schon zwei Kriege erlebt, was kann da noch passieren.«

In mir wird es kalt und dunkel.

»Was ist aber ein kalter Krieg, bitte?«

»Ich weiß es nicht, Kind. Krieg ist immer schlimm.«

Ich stehe schnell auf und umarme sie. Eifrig wischt sie sich die Mundwinkel mit dem Handrücken, gibt mir einen Kuss. Ich lasse sie nicht los. Von draußen dröhnen immer noch die Lautsprecher. Maminkas Haut, feucht und warm, riecht nach Sonnenblumenöl, Vanille und Schweiß. Ihr Ohrläppchen, das ich zwischen den Fingern halte, ist kühl. Sie riecht anders als Mutter. Hier, in ihrer Umarmung, fühle ich mich sicher. Ihre Hände sind so rau, dass sie mich jedes Mal beim Berühren kratzen.

»Komm, spiel mit mir ...«, bettele ich, »sonst weiß ich nicht, was ich tun soll.«

»Heute Morgen geht es nicht, Kind. Ich muss stricken, der Winter kommt ...«

Plötzlich zählt nur noch der Kalte Krieg. Die Kamille habe ich längst vergessen. Ich möchte in die Bibliothek gehen und Bate Stefan nach dem Kalten Krieg fragen. Großmutter ist erleichtert.

»Geh nur, Kind, geh. Dafür sitzt er ja den lieben langen Tag da und liest Bücher ... er muss es ja wissen, und wenn er es nicht weiß, wer dann?«

So untätig dasitzen und nichts tun, das konnte ich nicht. Der Kalte Krieg war nah, vielleicht war er auch schon da ...

Ich ging durch die Straßen, die langgestreckt in der Sonne brieten. Mit Kuhfladen und Pferdemist verziert, zogen sie sich unendlich hin. Ich wollte wissen, wo dieser Kalte Krieg sich abspielte und wer genau daran beteiligt war. Ich sah die Winterlandschaft unseres Dorfes, die flachen, sanften Rundungen der Umgebung, mit Schnee bedeckt, als wären sie in Maminkas Backstube entstanden: weiße, in Mehl gewälzte Riesenbrote auf einem flachen Brett, die am Eingang des Backofens warteten – der angezündete Horizont.

Oft krochen in meiner Vorstellung lauter Kolonnen von winzigen Soldaten um die Berge herum, knabberten die Gipfel vor Hunger an, richteten sich vor dem Horizonteingang auf, wollten ihren Kalten Krieg vorm Himmelsbackofen zu Ende führen. Jeder wollte siegen, es kämpften alle gegen alle und stießen einander in den Backofen hinein, wo die Sonne Wege und Wolken, Häusergiebel und Zwiebeltürme buk. Doch dann erschien Maminka am Horizont, bewaffnet mit dem Holzspaten, die ausgebleichte Schürze an. Sie schaufelte sie alle miteinander in den Backofen hinein. »Los!« Das Grün ihrer Augen leuchtete gefährlich und fremd. Schweißtropfen kullerten ihr die Nase hinab, sie schaufelte und schaufelte, bis keiner der Kalten Krieger mehr übrigblieb, bis das Mehl der Schneeberge eine bräunliche, grasverbrannte Kruste bekam und es wieder Sommer wurde.

»Tach, Mädchen!« Die alte Frau mit dem so zerfurchten Gesicht, als wäre Großvater mit dem Traktor hindurchgefahren, winkte mich mit dem Strickzeug herbei. Sie saß auf einem Schemel vor der Haustür. Ich grüßte leise zurück und trat heran. Ihr Schoß, bedeckt mit einer schwarzen Schürze, war voll Flusen. Sie spuckte in ihre Handflächen und rieb sie weg, während sie mir vorwarf, dass Großmutter immer noch nicht gekommen sei. »Sie hat doch versprochen ...«

»Sie hat keine Zeit.«

»Warum hat sie denn keine Zeit?« Die alte Frau gab sich nicht zufrieden, holte ihr Gebiss heraus und säuberte es mit der Stricknadel.

»Weil ...«, mir fiel spontan nichts ein. »Sie ... sie hat wirklich keine Zeit. Sie strickt!«

»Sosonagutgrüßschön.« Sie schob ihr Gebiss wieder in den Mund, wischte die Stricknadel an ihrem Knie ab und strickte weiter.

Zwei Häuser weiter saß noch eine Frau vor der Tür und ... strickte. Eigentlich ribbelte sie etwas auf; die Stricknadeln lagen neben ihr auf der Bank.

»Tach ...«, grüßte ich im Vorübergehen.

»Tach! Willst’n paar Pflaumen haben?«, lächelte sie und griff in den Korb, der auf der Bank stand. »Sag deiner Großmutter, dass sie mal vorbeikommen soll. Es gibt so viele Pflaumen in diesem Jahr, sie kann ein paar pflücken und einmachen. Ich weiß gar nicht, was ich zuerst tun soll: Marmelade kochen, einmachen oder stricken. Der Winter naht.«

Sie hätte auch sagen können: »Der Kalte Krieg naht«, so viel Unruhe lag in ihren Mundwinkeln, und dabei bewegten sich ihre Finger beim Stricken noch schneller. Ich ging weiter.

Die Sonne schien auf meinen Kopf. Der Weg zur Dorfbibliothek ging am Lebensmittelgeschäft vorbei. Eine lange Schlange wartete auf ... Ja! Sie warteten auf Gummiringe für die Einmachgläser, gerade war eine Fuhre aus der Stadt gekommen. Der Winter nahte. Sie waren geschickt, die Erwachsenen. Sie waren sich einig. Keiner von ihnen traute sich zu sagen: »Der Kalte Krieg naht!« Alle hatten keine Zeit. Sie waren am Einmachen, Stricken, Vorbereiten. Sie backten selber Brot, im Sommer, und sparten die Coupons, die ihnen die Kooperative austeilte, für den Winter auf. Wenn zufällig genug Zucker ins Lebensmittelgeschäft geliefert worden war, kaufte jeder gleich einen Zentner. Monatelang gab es dann keinen mehr zu kaufen. Sie rannten in die Stadt und stiegen vollbepackt aus den Bussen aus. Sie hatten wieder mal auf Vorrat gekauft: Stoffe, händevoll Aspirin für die Einweckgläser, Seife und Schmalz.

Plötzlich wollte ich nur noch sitzen. Sitzen und ruhen. Da setzte ich mich nun auf eine Holzbank. Meine Füße waren heiß in den Gummischuhen. Am liebsten hätte ich was getrunken, aber die nächste Wasserstelle war gegenüber der Dorfbibliothek. Unterm Lautsprecher versammelten sich lechzende Hühner mit ausgebreiteten Flügeln und aufgerissenen Schnäbeln. Zwei Zigeunerkinder bohrten hingebungsvoll in der Nase und fütterten die Hühner damit. Ein alter, zahnloser Mann ging schlurfend an ihnen vorbei und schimpfte sie aus. Zwei junge Männer bemühten sich, ein Transparent mit der Aufschrift »Alles für den Menschen« über die Straße zu spannen, und stiegen gleichzeitig die Stufen der Holztreppe empor. Der Lautsprecher forderte die Zigeunerkinder, die Hühner, den alten Mann und die zwei Aktivisten zu Sparmaßnahmen auf und versprach die Erfüllung des Jahresplans sieben Monate früher als vorgesehen. Dann machte er sie aufmerksam auf den Kalten Krieg und erinnerte sie nochmals daran, dass dieser in seine entscheidende Phase getreten war.

Ich stand auf. Ich hatte keine Zeit mehr, zur Bibliothek zu laufen. Ich wusste, was los war. Ich eilte und achtete weder auf die Kuhfladen noch auf die Steine unterwegs. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. In den Höfen wurden Seifen, Marmeladen und sonst noch was gekocht. Die Frauen strickten um die Wette. Endlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Keuchend, verschwitzt, stellte ich mich vor Maminka hin und verlangte laut:

»Großmutter, bring mir das Stricken bei!«

»Du willst stricken?«

»Ja!«

»Was willst du denn stricken?«

»Handschuhe! Handschuhe für den Kalten Krieg!«

Maminkas Sommerküche

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