Читать книгу Ambulante Pflege in der modernen Gesellschaft - Ruth Ketzer - Страница 17
2.4 Bedeutung einer dualistischen Denkweise in der Pflege für das Ehepaar Meier
ОглавлениеWenn man diese strenge dualistische Denkweise weiter verfolgt, so findet man diese in vielen Bereichen des Gesundheitswesens auch heute noch wieder. Für den ambulanten Arbeitsbereich wird sie z. B. anhand der Unterteilung der Pflege in Grund- und Behandlungspflege und damit in der täglichen Versorgung des Ehepaars Meier deutlich.
Die Entstehung dieser beiden Begriffe geht auf die in den 1950iger Jahren im angelsächsischen Raum veröffentlichte Studie zur Arbeit von Krankenschwestern zurück. Das deutsche Krankenhausinstitut (DKI) ließ diese Studie von der Ärztin Margarete Steinbrück und dem Krankenhausökonom und Theologen Siegfried Eichhorn übersetzen. Bei dieser Übersetzung passierten Fehler, die einen wesentlichen Einfluss auf die Finanzierungs-Qualifizierungsstruktur der Pflege hatten. So wurden im englischen Original die aufwendigen Patienten und zeitintensiven Tätigkeiten als »basic nursing« und die dazu angewendeten Pflegetechniken als »technical nursing« bezeichnet. Diese Begriffe wurden dann 1:1 ins Deutsche übersetzt in Grund- und Behandlungspflege. In Eichhorns Werk zur Krankenhausbetriebslehre nahmen diese Begriffe Einzug in den deutschen Sprachgebrauch, ohne die bis dahin bereits existierenden Pflegetheorien (z. B. Henderson 1966 oder Peplau 1952) mit einzubeziehen (vgl. Friesacher 2008, S. 192 f.).
Das Metaparadigma Professionelle Pflege beschreibt deren Aufgaben. Professionell Pflegende sind verantwortlich für die Ermöglichung von optimalen Outcomes für die Gesundheit der Patienten, eine respektvolle Beziehung in einer sicheren, fürsorgenden Umgebung. Die Kombination von pflegerischem Wissen zusammen mit technischen, kommunikativen, rechtlichen Fähigkeiten sowie die Zusammenarbeit mit anderen Professionen bildet die Grundlage der pflegerischen Arbeit. Der Wert der professionellen Pflege liegt in dem Angebot eines hohen Versorgungsgrades zugunsten des Wohlbefindens des Patienten.
Dieser hohe Anspruch an die professionelle Pflege wird mit der simplifizierenden und statischen Einteilung in Grund- und Behandlungspflege nicht gerecht. Dennoch setzten sich die beiden Begriffe in der Sozialgesetzgebung der Kranken- und Pflegeversicherung durch. Die Leistungen der Behandlungspflege werden heute aus der Krankenversicherung bezahlt und die der Grundpflege aus der Pflegeversicherung.
Für das Ehepaar Meier bedeutet dies, mit der Logik12 von zwei Versicherungsarten zurechtzukommen. In der Praxis werden die Leistungen in der Behandlungspflege je nach Rahmenvertrag mit der Krankenkasse entweder von einer einjährig oder dreijährig ausgebildeten Pflegeperson durchgeführt. Die Leistungen aus der Pflegeversicherung können von unausgebildeten angeleitetem oder ausgebildeten Personal durchgeführt werden. Nach Interviewaussagen von examinierten Pflegekräften kann es durchaus in der Praxis üblich sein, das eine Haushaltshilfe Spritzen gibt, solange es nicht abgerechnet wird (vgl. Adam-Paffrath 2014, S. 126). Wichtig für das Ehepaar Meier ist eine Versorgungskontinuität, die im Zusammenhang mit der Abrechnungsfähigkeit der Leistungen nicht immer gegeben ist. Für den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung und die Durchführung von Vermittlungs- und Gewährleistungstätigkeiten (z. B. Absprachen mit Hausärzten, Apotheken, Sanitätshäusern), die in einem komplexen Care-Arrangement notwendig ist, erweist sich dieses System als kontraproduktiv (Kumbruck et al. 2010, Büscher & Horn 2010).
So kann es sein, dass morgens eine Pflegeperson zum Spritzen von Insulin (Behandlungspflege SGB V) kommt, mittags eine hauswirtschaftliche Arbeitskraft (hauswirtschaftliche Pflegehilfe (SGB XI) und abends für die Vorbereitungen zur Nacht eine andere Pflegeperson (Grundpflege SGB XI). Für den Pflegedienst bedeutet diese aufgezwungene Logik einen erhöhten und unbezahlten Planungsaufwand, da die Versorgung des Ehepaars Meier sich nicht nach deren Bedarfen orientiert, sondern in die Abrechnungslogik passen muss. Karen Christensen beschreibt das Dilemma zwischen dem, was gebraucht wird und dem, was im Licht der strukturellen Bedingungen noch möglich ist. Es geht um eine Qualität, die nur scheinbar vorhanden und bei näherem Hinsehen eine Leerformel ist (Christensen & Levinson 2003).
»30 % der Leistungskomplexe passen für das was gebraucht wird. Bei den anderen 70 % denke ich passt es eher nicht. Da müsste viel mehr drum herum laufen, um den Menschen dahin zu bringen, dass er wieder selbstständiger wird letztendlich« (vgl. Adam-Paffrath 2014, S. 126). Diese Interviewaussage einer professionellen Pflegeperson (P7), die seit vielen Jahren im ambulanten Pflegebereich tätig ist, beschreibt die Situation deutlich. Das heute übliche »Geschäftsmodell ist Quadratur des Kreises« (P5), es berücksichtigt nicht die individuellen Bedarfe der Meiers (vgl. Adam-Paffrath 2014, S. 124).
Die hier beschriebene Logik der Unterscheidung von Grund- und Behandlungspflege in der heutigen Sozialgesetzgebung birgt für die professionell Pflegenden in der Praxis berufspolitische Fallen. Die scheinbar »einfachen« und als Grundpflege definierten Tätigkeiten, wie Körperpflege oder Essen anreichen, sowie die scheinbar komplexeren Tätigkeiten der Behandlungspflege, beinhaltet die automatische Unterteilung von Qualifikationen in der Pflege ohne Fallbezogenheit auf den Patienten. In der Folge werden behandlungspflegerische Leistungen monetär besser abgerechnet als grundpflegerische Pflegearbeiten. Die Durchführung einer einfachen Grundpflege kann je nach Krankheitsbild eine herausfordernde und komplexe Tätigkeit sein, insbesondere dann, wenn im häuslichen Umfeld große Defizite in der Haushaltsführung, der Hygiene oder im Verhalten von Pflegebedürftigen (Stichwort: Pflege annehmen) und dessen Angehörigen existieren.
Claudia von Werlhoff kritisiert in diesem Zusammenhang den Begriff »häusliche Pflegehilfe«, der die Kombination aus Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung beinhaltet, als »Hausfrauisierung der Pflege«. Sie impliziert automatisch die Probleme, die heute in der ambulanten Pflege bekannt sind: schlechte Bezahlung, Exklusion aus der Ökonomie, die nur produktive Arbeit bezahlt sowie wenig gesellschaftliche Anerkennung, da es sich um einen reproduktiven Arbeitsbereich ohne Wertschöpfung handelt. (Liaschenko 2001, Bennholdt-Thomsen et al. 1992)
Wenn im Verlauf der Versorgung das Care Arrangement komplexer wird, werden die Lücken in dem System überdeutlich. Das folgende Beispiel soll dies aufzeigen: Was wäre, wenn Herr Meier an einer fortgeschrittenen Demenz leidet und dringend einen Zahnarzt aufsuchen müsste? Diese Situation stellt das Ehepaar Meier sowie den beauftragten Pflegedienst vor enorme Herausforderungen, insbesondere dann, wenn keine weiteren Angehörigen oder Nachbarn in greifbarer Nähe sind. Wer übernimmt den Transport zum Zahnarzt? Wer begleitet das Ehepaar zum Zahnarzt? Wer beruhigt Herrn Meier, wenn er Angst vor dem Zahnarzt hat und herausfordernde Verhaltensweisen zeigt? Wenn diese Aufgaben der Pflegedienst übernehmen soll, dann sind diese Leistungen nach dem starren Leistungskomplexsystem nicht abrechenbar (vgl. Adam-Paffrath 2014, S. 125).
An dieser Stelle ist noch ein weiterer Systemfehler in der Abrechnungslogik zu nennen. Die Koppelung der Leistungen an Zeiten, die einzeln mit den Pflegekassen verhandelt werden und kurz nach der Einführung der Pflegeversicherung als Leistungskomplexsystem eingeführt wurden. Diese tayloristische Zerteilung von ursprünglich ineinander gehenden, sinnstiftenden Arbeitseinheiten in zeitgesteuerte Leistungskomplexe, führt zu der oft beschriebenen Pflege im Akkord. Sie beraubt das Pflegepersonal ihrer beruflichen Autonomie und Entscheidungsfähigkeit und degradiert sie damit zu Erfüllungsgehilfen des Systems. Diese Verschiebung weg vom Patienten, hier dem Ehepaar Meier, führt zum Verlust von Berufsidentität. Für das Ehepaar Meier bedeutet die Pflege nach Zeit je nach Tagesform Stress, der weit von einer fürsorglichen Praxis entfernt ist.
Nach der Auseinandersetzung mit der dualistischen Perspektive, ausgehend von der Philosophie bis hin zu den Auswirkungen für das Ehepaar Meier, möchte ich im folgenden Abschnitt einen Gegenentwurf zum Dualismus vorstellen.