Читать книгу Ambulante Pflege in der modernen Gesellschaft - Ruth Ketzer - Страница 22
2.6 Kritische Diskussion/Abschließende Gedanken
ОглавлениеDieser Beitrag soll dazu dienen, den komplexen Arbeitsbereich der ambulanten Pflege aus verschiedenen ausgewählten wissenschaftlichen Perspektiven darzustellen. Dabei kann dieser Beitrag Anstoß für weitere Diskussionen sein und in diesem Band finden sich weitere Blickwinkel, die das Bild des ambulanten Pflegebereiches komplettieren. Ich möchte zunächst auf einige der im Text verwendeten Begriffe und Personen kritisch eingehen.
Die Begriffe Ganzheitlichkeit, Fürsorge, Sicherheit sind nicht ideologiefrei, sie können von einer selbstständigkeitsfördernden Pflege in eine paternalistische Pflege transformieren. Dies führt zu einer Falsch- oder Überversorgung des Patienten. Eine an Fürsorge orientierte Pflege mit den damit verbundenen Anforderungen an alle Mitglieder eines Care-Arrangements im häuslichen Bereich, benötigt Gestaltungsspielraum, um Entscheidungen in der Pflege des Ehepaar Meiers treffen zu können. Dieser Gestaltungsspielraum ist in den vorherrschenden gesetzlichen und finanziellen Regelwerken im Sinne des Reduktionismus nur eingeschränkt leistbar. Sie unterliegen einem ständigen Aushandlungsprozess zwischen dem, was die Rahmenbedingungen vorgeben und dem, was die Betroffenen möchten. Diese Ergebnisse müssen von allen Beteiligten akzeptiert, kompensiert und letztendlich auch ausgehalten werden. Das hier beschriebene Spannungsfeld von körperlicher, sozialer und psychischer Vulnerabilität einerseits und von den von außen vorgegebene Möglichkeiten und Restriktionen, erschwert die Durchführung von Pflege zuhause. Im ambulanten Arbeitsbereich ist die Finanzierung der Pflege gerade zu Beginn des Care-Arrangements oft solange nicht gesichert, bis die Einstufung in entsprechende Pflegegrade erfolgt (Meagher 2006, Simms 2004).
Stattdessen wurde mit Einführung der Pflegeversicherung eine ökonomisierte Versicherungslogik entwickelt, die genau das Ziel der Sicherheit von pflegebedürftigen Patienten durch professionelle Pflege nicht erreicht. Vielmehr werden durch Disziplinierungstechnologien wie Qualitäts- und Riskmanagement, Dokumentation und MDK-Prüfungen, die eigentlichen Notwendigkeiten einer sicheren Umgebung für vulnerable Patienten in den unterschiedlichen Care-Arrangements verkompliziert.
In ihrer Wertigkeit hat diese Form von Sicherheit für den Patienten eher eine Kontrollfunktion, als denn eine sichere, geborgene und würdevolle Pflegesituation. Gerade die Versicherungsbranche lebt von der Angst der Menschen um ihre persönliche Sicherheit und in Deutschland reicht das Versichern gegen bestimmte Risiken bis in die Sozialpolitik hinein. Die Verrechtlichung des Sozialen rückt jedoch Tabuthemen, wie das Bild der Pflegebedürftigkeit, in die Öffentlichkeit und erhebt sie damit zu einer gesellschaftlich zu bewältigenden Aufgabe. Der Gedanke der Solidarität wird nicht nur zwanghaft in eine zu bezahlende, ökonomisierte und wenig zu beeinflussende Versicherungslogik gepresst, sondern impliziert nach der ersten Reform der Pflegeversicherung weiteres solidarisches Handeln in Form von Ehrenamt und Nachbarschaftshilfe. Dabei werden die eigentlichen Bedürfnisse der Betroffenen und die Logiken der Leistungserbringer, insbesondere des professionellen Pflegepersonals in ambulanten Pflegediensten, ausgeblendet.
Die Assimilation des Pflegepersonals in die Haushalte hinein führt ebenfalls zu Überforderung und Unsichtbarkeit der Pflege (Kumbruck Rumpf Senghaas-Knobloch 2010, Simms 2004). Eine an den hohen Zielen der Care-Ethiken ausgerichtete Pflege, bietet zwar die Chance die Bedeutung Pflegearbeit entsprechend in der Öffentlichkeit zu argumentieren, wenn die Pflegenden dazu in der Lage sind und ihnen der politische Rahmen dafür geboten wird.
Mit Blick auf die Intentionen der genannten Pflegetheoretikerinnen, deren Menschenbild von einem aktiven, selbstbestimmten Individuum geprägt ist, ist die Aufgabe der Pflege an eine unterstützende, aktivierende und kompensatorische, bis hin zur weitestgehenden Herstellung der Selbstständigkeit von Patienten gebunden. Um den Pflegeethos zu stärken und weiter zu entwickeln, muss immer wieder die Frage nach dem Berufsauftrag der Pflege gestellt werden. Die Entwicklung von Berufsidentität und Berufsstolz ist einer der Bildungsaufträge der Zukunft. Ein Pflegeethos, der sich an diesen elementaren Grundideen orientiert, benötigt genügende Fähigkeiten der Selbstreflektion und Resilienz.
Die von Decartes radikale Trennung zwischen Körper und Geist wurde in den folgenden Jahrhunderten von verschiedenen Philosophen kritisiert (Kant, Hegel, Leibniz, Nietzsche Heidegger). Seine Vorstellungen in seinen Schriften über den Menschen führten zu einem reduzierten rein physiologischen Modell des Menschen als Maschine (Perler 1998). Mit den Folgen dieser Denkweise und dem damit verbundenen Entwurf eines dualistischen Weltbildes wurden nicht nur für die ambulante Pflege reduktionistische und vereinfachende Arbeitssysteme entwickelt, die für die Lebenswelten der Betroffenen unpassend sind.
Anhand des dualistischen Denkstils in der Grund- und Behandlungspflege wurden die Konsequenzen für die Versorgung des Ehepaars Meier im ambulanten Arbeitsbereich dargestellt. Dabei wurde deutlich, dass der ambulante Arbeitsbereich neben einer defizitären Finanzierung des Arbeitsbereiches selbst trotz der Pflegeversicherung an strukturellen Defiziten leidet, die eine adäquate Versorgung des Ehepaars behindert. Dieser Mangel geht auf Kosten der pflegenden Angehörigen des Pflegebedürftigen sowie der professionell Pflegenden. »Am Ende der Reihe stehen« bedeutet für die professionellen Akteure in der ambulanten Pflege, am Ende der Finanzierungskette des Gesundheitssystems zu stehen. Das Prinzip der Pflegeversicherung »ambulant vor stationär« wird zu einer Leerformel (Adam-Paffrath 2014). Die ursprünglich aus der Industrie stammenden scheinbar sinnvollen Qualitäts-Prüfungs- und Kontrollmechanismen im Produktionsbereich werden in Regularien für die tägliche Arbeit und Versorgung von vulnerablen Menschen transformiert, deren Lebenswelt keinen linearen Prozessen unterliegt. Die Beschneidung des Gestaltungsspielraumes und damit die Entscheidungs- und Handlungskompetenz der professionell Pflegenden führen zur Demütigung (Adam-Paffrath 2014).
Der Begriff der Heimat ist in Deutschland aus der Zeit des Nationalsozialismus ideologisch aufgeladen. Die Gedanken über den gesellschaftlichen Trend hin zur Regionalisierung, das Hervorheben des regional spezifischen »des Unseren und dem Eigenen«, lässt für nationalistisches Gedankengut Raum (Drenthen 2017). Nicht ganz unumstritten in diesem Zusammenhang ist auch Martin Heidegger (Klose 2013, Mitzerlisch 2013). Seit Kriegsende gab und gibt es Streit um seine Person und die Zugehörigkeit zur Nationalsozialistischen Partei Deutschlands (NSDAP). Mit der Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg 1933 wurde die Befürwortung der politischen Richtung des Nationalsozialismus bei Heidegger deutlich. Obwohl er ein herausragender Philosoph des 20. Jahrhunderts war, bleibt seine Zugehörigkeit zur NSDAP umstritten (Hachmeister 2014).
Last but not least soll auch der Arbeitsbereich der ambulanten Pflege einer Kritik unterzogen werden. Der Wunsch vieler Menschen bei einer Pflegebedürftigkeit zuhause gepflegt zu werden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine solche Pflege wesentlich mit dem Engagement der Familie verbunden ist. Den romantisierenden Bildern und Vorstellungen der intakten engagierten Pflege in der Familie, stehen die vielen Singlehaushalte gegenüber. Auch das Thema Gewalt in der häuslichen Pflege, z. B. durch Vernachlässigung oft verbunden mit der völligen Überlastung der pflegenden Angehörigen, steht zur Diskussion. Hier ist eine der wesentlichen Aufgaben der Pflege beratend auf die Verbesserung der Versorgung einzuwirken. Hierzu zählt auch die Erkenntnis, dass sich unter Umständen die ambulanten Möglichkeiten erschöpft haben und eine Aufnahme in einer stationären Einrichtung notwendig wird.
Die hinreichend dargestellten Problematiken der ambulanten Pflege sollen nicht deren gesellschaftliche Bedeutung negieren. Im Gegenteil, es werden in der Zukunft noch ganz andere flexiblere Modelle notwendig sein, um dem Bedarf gerecht zu werden. Die im angloamerikanischen und skandinavischen Raum seit Jahren etablierten Family und Community Health Nurses könnten neue Chancen der Betreuung und Versorgung im Quartier, in strukturschwachen ländlichen Räumen oder in sozialen Brennpunkten sein. Ihre Aufgaben liegen nicht nur in der pflegerischen Versorgung, sondern auch in der Einschätzung des Pflegebedarfs, der notwendigen Interventionen und Beratung sowie der Initiierung von präventiven Projekten und die Erfassung gesundheitsbezogener Daten.
Das Aufgabenfeld der zugehenden Beratung für Menschen, bei denen eine Pflegebedürftigkeit droht oder vorliegt, ist in Deutschland unterentwickelt. Hier ist insbesondere die Trägerneutralität hervorzuheben, die im Sinne der Betroffenen und nicht im Interesse von Kostenträgern, Pflegediensten, Sanitätshäusern oder Versicherungen berät.
Der ambulante Arbeitsbereich ist kein Stiefkind oder billiger Ersatz von stationären Einrichtungen, sondern eine wichtige Säule des Gesundheitswesens, die in der Zukunft mehr an Bedeutung gewinnt.