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2 »Ich möchte zuhause gepflegt werden« Sozialwissenschaftliche und anthropologische Perspektiven auf die Ethik des ambulanten Arbeitsbereiches Renate Adam-Paffrath
ОглавлениеIm ersten Teil wird eine sozialwissenschaftliche und anthropologische Perspektive auf die Ethik des ambulanten Arbeitsbereichs entfaltet. Pflege zuhause ist nicht mehr nur eine Privatangelegenheit der Betroffenen. Sie unterliegt vielmehr gesellschaftlichen komplexen Einflüssen. In einer philosophisch-ethischen Perspektive wird der ambulante Arbeitsbereich mit Hilfe eines kurzen historischen Überblicks beobachtet: Wie wurde das, was wir vorfinden zu dem, wie es sich darstellt? Die Relevanz des Umfeldes, in dem ambulante Pflege sich vollzieht, wird verdeutlicht über die Begriffe Heimat, Ort und Wohnung vor einer philosophischen Perspektive anhand von zwei Weltbildern (Descartes und Heidegger) hin zu den ethischen Zusammenhängen zwischen Mensch, Umwelt, Pflege und Gesundheit. Chronisch kranke und alte Menschen zuhause pflegen bedeutet oft, dies über einen längeren Zeitraum zu tun. Dabei sind die Rolle bzw. der Status der Pflegenden, die von außen in den privaten Bereich (bspw. des Ehepaars Meier) hineinkommen, nicht immer eindeutig geklärt. Kommen sie als Gast ohne Einladung und ohne Gastgeber in den Haushalt und den Privatbereich der zu Hause lebenden auf Pflege angewiesenen Menschen? Unterschiedliche Abhängigkeitsmuster, chronische Überlastungserfahrungen, die bis zur Ausbeutung gehen können durch die Erwartungshaltungen der Familien forciert werden. Die (Angst um die) Finanzierung des (bezahlbaren) Umfangs der Pflege laufen beständig als Determinanten im Hintergrund mit und wirken sich auf die Interaktionsebene zwischen Angehörigen, pflegebedürftigen Menschen und Pflegefachkräften aus. Ambulante Pflege vollzieht sich innerhalb der Wohnung, als Habitat der pflegebedürftigen Menschen. Sie stellt gleichermaßen ein Biotop und ein Psychotop als persönlichen Lebensraum dar. Das Zuhause ist ein wichtiger und für pflegebedürftige Menschen zunehmend wichtiger werdender Bestandteil der Kontinuität in der Lebenswelt – auch des Ehepaars Meier. Es ist als privater Raum – mit Hannah Arendt gesprochen – der Gegenentwurf zum öffentlichen Raum. Von den nahezu 2,6 Mio. Menschen, die zu Hause gepflegt werden (76 % aller pflegebedürftigen Menschen in Deutschland), werden 1,76 Mio. Menschen ausschließlich von ihren Angehörigen mit gepflegt. Weitere 830.000 pflegebedürftige Menschen (32 % aller pflegebedürftigen Menschen, die zuhause leben) erfahren Unterstützung durch ambulante Dienste (Pflegestatistik 2017). Der Einfluss politischer und gesellschaftlicher Vorstellungen zu Art und Weise, wie die Pflege zuhause zu sein hat, hat seit Einführung der Pflegeversicherung (Mitte der 1990er Jahre) stark zugenommen. Im Beitrag wird dies anhand der vier Metaparadigmen Person, Umwelt, Gesundheit und Pflege verdeutlicht, um das Wirkgefüge auf das Ehepaar Meier zu veranschaulichen. Die philosophisch-ethische Perspektive auf Sorge und Fürsorge und damit einhergehende Fragen von Abhängigkeit und Unabhängigkeit des Menschen werden über den Begriff der Care-Ethiken (n. Uzarewizc & Uzarewizc 2005) analytisch entfaltet. Dabei geht es um die Beziehung von Menschen zueinander und gleichermaßen um die fürsorgliche Haltung gegenüber Menschen. Die neun Thesen von Conradi (2001) veranschaulichen die verschiedenen Dimensionen des Begriffs Care, der zum einen eine aktive und handelnde Seite zutage fördert und zum anderen einen deutlich interaktiven Aspekt aufweist. Denn in den Interaktionen zwischen den in der Pflege Beteiligten können Machtverhältnisse unterschiedlicher Art entstehen und beobachtet werden. Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven, die der Beitrag aufgreift, ermöglichen eine der Komplexität des Handlungsfeldes angemessene mehrdimensionale Betrachtungsweise. Dabei wird erkennbar, dass der ambulante Bereich kein Stiefkind oder billiger Ersatz des stationären Sektors ist, sondern eine wichtige Säule des Gesundheitswesens, die zunehmend an Bedeutung gewinnen wird.
Stichwörter: Dasein, Umweltethik, Heimat, Care-Ethik, Pflegetheorien