Читать книгу Ambulante Pflege in der modernen Gesellschaft - Ruth Ketzer - Страница 8
Оглавление1 Einleitung1
Der vorliegende Band beschäftigt sich mit dem zunehmend kritischen Bereich der sozialen Infrastruktur, der ambulanten Pflege. Er nimmt eine Bestandsaufnahme dessen vor, was gegenwärtig bei der häuslichen Unterstützung längerfristig hilfe- bzw. pflegebedürftiger Personen geschieht bzw. geschehen kann und wie sich dies zu den Erwartungen und Versprechungen verhält, die den öffentlichen und fachwissenschaftlichen Diskurs prägen. Dabei wird vor allem das Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit kritisch analysiert, um daraus insbesondere für jene Akteure, die ambulante Hilfe organisieren und managen, Perspektiven für die Zukunft abzuleiten.
Damit richtet sich der Band an verschiedene Publika: fortgeschrittene Praktikerinnen und Führungskräfte im fraglichen Sektor sowie seinem Umfeld, Studierende in verschiedenen Ausbildungskontexten, aber auch an jene, die sich (fach-)wissenschaftlich mit der Entwicklung der ambulanten Pflege auseinandersetzen. Damit alle mitgenommen werden, ist sichergestellt, dass komplexe Begriffe und Konzepte verständnisorientiert aufbereitet und mit Hintergrundwissen versehen werden. Der Band gliedert sich in vier Perspektiven, der
• sozialwissenschaftlichen und anthropologischen Perspektive (Adam-Paffrath),
• pflegewissenschaftlichen und fachwissenschaftlichen Perspektive (Selge),
• systemfunktionalen und systemkritischen Perspektive (Borutta),
• systemtheoretisch-manageriellen Perspektive (Ketzer).
Als grundlegende Richtschnur für die Beiträge dient die Darstellung des Ehepaares Meiers. Diese Darstellung wird, je nach Erfordernissen des entsprechenden Beitrags, variiert. Sie durchzieht jedoch die Teile dieses Bandes als praxisbezogene Richtschnur, auf die immer wiederkehrend exemplarisch Bezug genommen wird. Frau und Herr Meier treten in diversen Szenarien auf und ihr Schicksal, mit Pflegebedürftigkeit zurechtzukommen, wird aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Der Fall Meier ist somit Ausdruck der Kontextbindung.
Ein »Fall Meier« und seine gesellschaftliche Rahmung
Frau oder Herr Meier sind pflegebedürftig – was jetzt? In der deutschen Gesellschaft bestehen diesbezüglich eine Reihe von Normalitätsannahmen: Man erwartet einen bestimmten Umgang mit dem »Pflegefall«, und es gibt Reglements, die diese Denkweise widerspiegeln. Die Leitdivise des deutschen Pflegesystems dabei lautet, ambulant vor stationär: Die Unterstützung chronisch gebrechlicher Menschen soll, so lange wie irgend möglich, in deren häuslicher Umgebung stattfinden, und dies ist unter den heute bestehenden Rahmenbedingungen auch gut zu schaffen. Das jedenfalls legen der mediale Diskurs, die in Befragungen artikulierte Weltsicht der Bevölkerungsmehrheit, und nicht zuletzt die geltende Gesetzeslage (SGB 11 § 43,1) nahe.
Gewiss: Es scheint Allgemeinwissen zu sein, dass die Familie – anders als in früheren Zeiten – nicht mehr alles leisten kann und soll. Man weiß: Es gibt kollektiv finanzierte und sozialpolitisch normierte Hilfen, die das Unterstützungsarrangement gezielt ergänzen (können). Auch besteht ein öffentliches Bewusstsein dahingehend, dass die fraglichen Interventionen bestimmten ethischen Maßstäben genügen sollen, z. B. den Respekt vor der menschlichen Intimsphäre oder die Regeln eines würdevollen Umgangs mit Personen, die sich nicht mehr selbst helfen können. Hier greifen auch bestimmte Professionalitätsvorstellungen, wenngleich über diese vielfach gestritten wird. Gleichzeitig liegt die Zuständigkeit für das ambulante Pflegearrangement zu großen Teilen in der Verantwortung der privaten Lebenswelt. Der Normalfall ist der, dass in der häuslichen Umgebung Familienangehörige oder – in Ausnahmefällen – das außerfamiliäre soziale Netzwerk den Aufbau und den reibungslosen Ablauf eines solchen Arrangements sicherstellen. Was das Netzwerk betrifft, so wünschen sich Experten und Fachpolitikern zwar neue gemeinschaftliche Lösungen (Seniorengenossenschaften, Mehrgenerationenhäuser, »care communities« verschiedenster Colour, ehrenamtliche Initiativen im Sozialraum etc.); doch ist die Alltagsrealität weit davon entfernt (selbst Nachbarn sind häufig nur geringfügig involviert).
Der Zuschnitt (semi-)professioneller Interventionen wiederum, welche seit zwei bis drei Jahrzehnten als fester (möglicher) Bestandteil des o. g. Pflegearrangements gelten können, ist ein spezifischer: Das Unterstützungssystem bietet Hilfen in kurzen Zeitblöcken, gegebenenfalls mehrfach am Tag, aber konzentriert auf einzelne, überwiegend körperbezogene Verrichtungen; die Interventionen sind routinisiert, modularisiert, in ihren Einzelbestandteilen zwischen Nutzern bzw. Familien und Leistungserbringern vorverhandelt – und werden dann mehr oder weniger in Entsprechung dazu abgearbeitet. Nach den jüngsten Reformen können Alltagsbetreuung bzw. -begleitung als organisierte Hilfen hinzukommen – dies geschieht indes getrennt von den o. g. Pflegeleistungen, tendenziell als Laienhilfe und ebenfalls auf kleine Zeitfenster beschränkt.
Die Koordination des Pflegearrangements für Frau oder Herr Meier obliegt in der Regel diesen selbst – bzw. in der Realität meist verfügbaren Angehörigen: Diese suchen selbst diejenigen Dienste und Helfer, die das häusliche Arrangement arrondieren; dabei werden zuweilen Beratungen (z. B. in Pflegestützpunkten) wahrgenommen; doch die Informationen dort bleiben allgemeiner Natur, müssen die Berater doch im Hinblick auf Anbieter neutral bleiben. Es gilt als normal, dass Unterstützungsbedürftige bzw. ihre Angehörigen einen Pflegedienst und Betreuungsangebote eigenständig am Markt auswählen, nach Maßgabe vermuteter oder in Werbebotschaften behaupteter Eigenschaften – nicht zuletzt bezüglich der (vermeintlichen) Angebotsqualität. Nutzer gelten als Verbraucher, sie sollen kontrollieren, was die externen Helfer leisten – und (ggf. mit einem Anbieterwechsel) reagieren, wenn sie unzufrieden sind.
Letztlich müssen Frau oder Herr Meier bzw. ihr privates Umfeld sehen, wie sie mit diesem Ordnungsmodell klar kommen. So ganz will sich die Gesellschaft – genauer: das Gefüge der von der Sozialpolitik instruierten Instanzen – auf diese Form der »Interventionssteuerung« allerdings nicht verlassen: Auch weil die Hilfe (zumindest teilweise) durch parafiskalische Abgabesysteme finanziert wird, behalten sich Geldgeber und staatliche Aufsichten eine eigene, rechtlich ausgefeilte Qualitätssicherung vor. Zumindest für die (ver-)öffentlich(t)e Meinung scheint die formalisierte Anbieterkontrolle im Stile eines »Pflege-TÜVs« (des MDK) die einzige Möglichkeit zur Sicherung angemessener Versorgungsleistungen. Wenn die vermeintlichen Kunden der Dienste frei zugängliche, offiziell »verbriefte« Leistungsbewertungen kennen, verschwinden schlechte Qualitäten vom Markt – so die Leitvorstellung. Bei den Kostenträgern schwingt auch die Hoffnung mit, man könne (zukünftig) für schlechte Qualität, oder besser: bei Nicht-Erfüllung bestimmter formaler Richtwerte, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Ausgaben einsparen und Leistungsdruck ausüben.
Dieses Steuerungsregime basiert seinerzeit auf weiteren »typischen« Normalitätsannahmen: Man kann (auch gemeinnützig) organisierten Hilfsangeboten nicht (mehr) trauen; nur scharfe Kontrollen und Sanktionen tragen dafür Sorge, dass ordentlich gepflegt wird, und nur eine (quasi-)marktförmige Ausgestaltung des Unterstützungssystems kann sicherstellen, dass Ressourcen nicht verschwendet werden. Dieses Gefühl ist bei Herrn oder Frau Meier bzw. den Angehörigen vielleicht eher diffus ausgebildet – aber die zuständigen Instanzen und ihre Diskurse lassen keinen Zweifel daran, dass mit diesem Regime die Bewältigung der Pflegebedürftigkeit für die Betroffenen und ggf. ihre Angehörigen nicht nur möglich, sondern – sofern alle ihre Pflicht erfüllen – im Sinne anerkannter ethischer Normen vollumfänglich leistbar ist.
Letzteres entspricht freilich nur selten dem, was die Betroffenen erleben, und das ist wenig überraschend. Denn die Organisation des Leistungsangebots provoziert eine Engführung des Versorgungsgeschehens. Die Interventionen werden von Unternehmen angeboten, die ihre Nutzer als Kunden bezeichnen, mit ihresgleichen konkurrieren und angesichts begrenzter Refinanzierungen (aus Sozialkassen) mit knappen Ressourcen »Minutenpflege« betreiben, indem sie Auftragslisten abarbeiten bei nicht Vor(her)gesehenem mit Aufmerksamkeit sparen. Privat-gewerbliche Anbieter können Gewinne machen, gemeinnützige mit ungünstigen »Produktionsstrukturen« stehen unter ständigem Kostendruck. Überall muss einem potenziell unbegrenzten Hilfebedarf mit Grenzziehungen begegnet werden, breit gefächerte Unterstützungsmöglichkeiten und -erwartungen müssen in enge(re) Arbeitsrollen gezwängt werden, die Organisationsführung muss viel versprechen, kann dies aber oft nicht halten.
Die Herausforderungen für das Management der Dienste sind dementsprechend beträchtlich. Vielfach vertraut man auf Patentrezepte aus dem Repertoire von Unternehmensberatungen und gewerblichen Unternehmen: quasi-industrielle Einsatzplanung, Dienstleistungserbringung als Kundenbeziehung, Kommunikationen nach innen und außen im Stile einer Geschäftslogik. Allerdings wird häufig spürbar, dass vieles Fassade ist und die Diskrepanz zwischen Unterstützungsanspruch und Versorgungswirklichkeit unter den bestehenden Bedingungen schwer überbrückbar ist. Insofern besteht Bedarf an Orientierung und kreativen »Überlebenstipps«.
Der Band ist angebunden an die Buchreihe: Gerontologische Pflege. Innovationen für die Praxis. Er wurde auf der Grundlage der am 01. und 02. Oktober 2016 stattgefundenen IWW Veranstaltung » Ambulante Pflege – Innovationen für die Praxis« an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar erstellt.2
Aachen, Königswinter, Bad Kreuznach, Frankfurt, im Mai 2020
1 Texte sollten lesbar und verständlich sein, dazu muss auch die Sprache beitragen. Allerdings bildet sie auch Aspekte der Wirklichkeit ab bzw. schafft neue »Wirklichkeiten«. In dem hier zu verhandelnden Bereich – der Pflege – arbeiten überwiegend Frauen. Es wäre also falsch – allein aus stilistischen Gründen – ausschließlich das generische Maskulinum zu nutzen. Wir werden daher möglichst eine neutrale Form wählen, falls dies nicht möglich ist werden wir (überwiegend) die weibliche Form benutzen. Sie schließt – sofern nicht anders genannt – alle weiteren Geschlechtsformen mit ein.
2 Die Einleitung wurde in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Ingo Bode verfasst.