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Die Tiefe des Schleiers

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»Du kannst Mila sehen?«, fragte Antilius erstaunt.

»Natürlich kann ich das.«

»Moment, nicht so hastig.« Tirl würde seine Mila nie und nimmer in Gefahr bringen. »Meine Mila kann sich nicht gegen einen Totenbeschwörer wehren. Sie ist doch nur eine Arboranerin, so wie ich auch.«

»Mila ist viel mehr als das. Vielleicht sollte sie es dir selber erklären. Ich werde das nicht tun. Sie ist die Einzige, die den Totenbeschwörer in Schach halten kann, während wir fort sein werden.«

Tirl war völlig verwirrt. Für ihn war Mila dieselbe Person, die er auf Arbrit kennen und lieben gelernt hatte. Wer sollte sie denn sonst sein? »Kannst du mir das erklären, Mila?«, fragte er sie.

Mila antwortete mit wenigen, aber wohl überlegten Worten, die Tirl zu besänftigen schienen.

»Was hat sie gesagt?«, wollte Antilius wissen.

»Hast du es denn nicht gehört«, entgegnete die Siobsistin mit einer Spur von Provokation in ihrer zarten und hohen Stimme.

»Nein. Und Gilbert kann sie auch nicht hören. Niemand kann sie hören oder sehen, außer Tirl selbst.« Antilius war verärgert und musste sich wieder daran erinnern, sich nicht nach der merkwürdigen Siobsistin umzusehen.

»Du willst sie nur nicht sehen, weil du nicht genau hingesehen hast. Du hörst sie nicht, weil du nicht richtig hingehört hast.«

»Was soll das jetzt wieder bedeuten?«

»Ja, fühlst du es denn nicht, Antilius? Begreifst du es nicht? Wenn du ernsthaft das Geheimnis des Dunkelträumers und das deines eigenen Ichs lüften willst, dann musst du ab sofort von all deinen Sinnen und deinen Fähigkeiten Gebrauch machen.

Du kannst Mila auf dieselbe Weise sehen, wie du mich aufgespürt hast. Du musst hinter den Schleier blicken.«

Auf die Idee war er noch gar nicht gekommen. Er verstellte seinen Blick und schaute zu der Stelle, zu der auch Tirl sah. Aber er konnte sie immer noch nicht sehen.

»Ich kann es nicht. Ich sehe sie nicht!«

»Etwas blockiert dich. Was ist es?«

»Ich weiß es nicht.«

»Doch, das weißt du. Du musst tiefer in den Schleier blicken. Viel tiefer.«

»Es geht nicht.«

»Wovor hast du Angst?«

»Ich habe keine Angst.«

»Lüg mich nicht an, Antilius! Das ist in deiner Situation völlig unangebracht, denn du belügst und behinderst dich damit nur selbst. Also, sag mir, warum willst du nicht tiefer in den Schleier blicken?«

Antilius kniff die Augen zusammen, presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und senkte den Kopf. Er wollte sich nicht der Wahrheit stellen.

»Warum willst du nicht tiefer in den Schleier blicken? Antworte!«

»Weil ich mich davor fürchte, was ich dort sehen werde. Als Xali diese Gabe auf mich übertrug, da habe ich gespürt, welche furchtbaren Dinge sich hinter dem Schleier verbergen können. Kreaturen, wie sie kein Alptraum schrecklicher zeichnen könnte. Orte, deren Gesetzmäßigkeiten so verstörend sind, dass sie einem den Verstand rauben. Das ist es, wovor ich mich fürchte.«

Die Siobsistin nickte verständnisvoll, obwohl keiner der Anwesenden es sehen konnte.

»All diese Dinge gibt es. Die grausamen genauso wie die schönen. Die Tiefe des Schleiers ist unendlich. Er ist wie eine Straße durch die Dimensionen. Je tiefer du blickst, desto schwieriger wird es, zu verstehen, was du siehst. Deshalb musst du dich Schritt für Schritt in den Schleier hineinwagen. Nur so kannst du nach und nach lernen und begreifen, welche Welten sich hinter der unseren verbergen. Bisher hast du nur unmittelbar hinter den Schleier geblickt. Du wirst lernen, so tief hineinzusehen, bis du Verlorenend sehen kannst. Und noch tiefer, bis du auch alle Facetten Verlorenends verstehen wirst, denn diese Welt ist der Schlüssel zu allem. Diese Welt vereint alle Dimensionen, die ihre Schöpferin bereist hat.

Du brauchst also keine Angst zu haben, wenn du Geduld hast und dich auf deine Stärken besinnst. Also los! Versuche es noch einmal! Schaue tiefer hinein in den Schleier, und du wirst Mila sehen.«

Die Worte der Siobsistin wirkten wie Balsam auf die Seele von Antilius. Er war schlagartig ruhiger geworden und wagte einen tieferen Blick.

Erst war wieder nichts. Aber dann sah er sie. Er zuckte zurück, weil sie wie ein Gespenst aus dem Nichts vor seinen Augen auftauchte. Sie stand neben Tirl. Sie war genauso groß wie ihr Gefährte, und sie sah aus wie eine Arboranerin, kein Zweifel. Wie alles andere, das Antilius durch den Schleier sah, war das Bild von Mila auch durch einen überhohen Kontrast geprägt. Dunkle Areale ihres Gesichts waren fast schwarz und die helleren Bereiche fast blendend weiß. Umgeben war ihre Statur von einer goldenen Aura, wie er sie noch nie gesehen hatte.

»Kannst du sie jetzt auch sehen?«, wollte Tirl wissen. Es wäre das erste Mal, dass jemand anderes außer ihm seine Frau sah, seit dem Brand in ihrem Dorf.

Antilius nickte nur und brachte kein Wort heraus. Ihn beschäftigte nur eine Frage: Wer war diese Frau? Ja, sie sah aus wie Mila, aber sie war kein Geist oder etwas Ähnliches. Sie war Mila, und irgendwie war sie es auch nicht. Da war mehr. Antilius konnte es in ihren Augen sehen. Ein fernes Licht schien aus ihnen hervor.

Ganz langsam begann er zu verstehen, wer oder was Mila war.

»Du musst dich beeilen, Antilius. Die Zeit arbeitet gegen uns. Geh und finde heraus, was du vergessen hast! Und sieh dich vor in der Vergangenheit. Achte ganz besonders auf Gilbert. Ihr dürft euch nicht verlieren«, sagte Mila zu ihm.

»Bist du sicher, dass wir Tirl und dich allein lassen können?«, fragte er sie.

Gilbert fiel die Kinnlade herunter. Sein Meister konnte Mila tatsächlich sehen. Und nun unterhielt er sich auch noch mit ihr. Bis zu diesem Moment hätte Gilbert Stein und Bein geschworen, dass sie pure Einbildung war.

»Wir werden mit dem Totenbeschwörer schon fertig. Mach dir um uns keine Sorgen.«

»Wenn du das sagst, dann vertraue ich dir. Mir ist bei dem Gedanken an den Totenbeschwörer jedenfalls überhaupt nicht wohl«, sagte Tirl.

Antilius fragte sich, warum Tirl Mila sehen konnte, obwohl er doch nicht über die Fähigkeit verfügte, hinter den Schleier zu blicken. Er wollte schon Mila danach fragen, aber die Antwort kam ihm dann schnell in den Sinn: Seine Liebe zu ihr musste so stark sein, dass der Schleier, hinter dem sie sich verbarg, für ihn kein Hindernis war.

»Also schön. Gilbert und ich sind bereit. Können wir dann anfangen?«

»Ja, aber noch Eines will ich dir zeigen«, antwortete die Siobsistin. »Behalte deinen vertieften Blick bei und sieh zum Himmel im Osten!«

Antilius tat wie geheißen und stellte zunächst fest, dass die Wolkendecke verschwunden zu sein schien. Das war sie aber nicht, er sah mit seinem neuen Blick lediglich hindurch. Und dann erblickte er, was sonst niemand auf Thalantia sehen konnte. Es war ein Mond, dessen Oberflächenstruktur nicht denen der bekannten Monde Quathan und Pathan entsprachen. Es war der Mond, von dem nur in wenigen und unbeachteten Legenden die Rede war. Dem Mond, den bereits Brelius Vandanten in seinem Tagebuch erwähnt hatte.

Er erblickte den dritten Mond Wuthan.

»Was siehst du, Meister?«

»Ich sehe den Mond, von dem man glaubte, er würde nicht existieren. Aber die Legenden sind wahr. Es gibt ihn.«

Antilius stellte seine Augen wieder auf normal, und der Mond war nicht mehr zu sehen. Das ständige Hinter-den-Schleier-blicken machte ihn ein wenig benommen.

»Du hast mir den Mond nicht ohne Grund gezeigt, oder?«, fragte er die Siobsistin.

»Nein. Du solltest ihn sehen, damit du auf das Kommende vorbereitet bist.

Lasst uns jetzt beginnen.«

Verlorenend Band III

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