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Der Kontakt

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Der sprechende Stein in ihren Händen löste in Calessia Emotionen aus, die sie bisher noch nie zuvor erfahren hatte. Dieser Stein war ein Relikt aus jener Vergangenheit von Thalantia, in welcher Mächte um die Vorherrschaft rangen, die größer waren als alles, was man sich heute vorstellen konnte. Der Stein war ein Stück lebendige Geschichte.

Die Dunkelheit hatte sich mittlerweile vollständig über das weite Moorland von Elend-Uhn gelegt. Umringt von den tanzenden Flammen der Fackeln stand die Gefährtin des Todes vor dem Kataklysten und starrte auf den Stein in ihren Händen. Sie ertappte sich dabei, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief, bei der Vorstellung, dass der sprechende Stein tatsächlich funktionieren würde und damit Dinge von unermesslicher Tragweite ins Rollen brachte, die nicht mehr aufzuhalten waren.

Calessia hielt den sprechenden Stein mit beiden Händen nahe vor ihr Gesicht.

»Ich rufe Euch, Dunkelträumer! Ich rufe Euch von Thalantia, der Welt, von der Ihr verbannt wurdet!

Könnt Ihr meine Stimme in der Ferne hören? Versteht Ihr mich?«

Nichts tat sich. Der Stein blieb stumm.

»O bitte, antwortet mir, denn die Zeit Eurer Vergeltung ist gekommen!«

Der Stein, der zuvor relativ unspektakulär grau und schmutzig ausgesehen hatte, begann in Calessias Händen wärmer zu werden, und er veränderte seine innere Struktur. Er wurde durchsichtig und glich mehr und mehr einem Kristall. Ein dunkles Licht erglomm im Inneren.

»Wer bist du?«, ertönte eine tiefe Stimme aus dem Stein. Sie kam von weither.

Calessia zuckte vor Schreck zusammen. Sie bemühte sich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie hatte nicht erwartet, dass sie so schnell eine Antwort bekommen würde.

»Mein Name ist Calessia, und ich bin Euch treu ergeben, mein Gebieter. Ich weiß, dass Eure Rückkehr bevorsteht, und dass Ihr ein neues Zeitalter einläuten werdet. Das Flüsternde Buch hat mir verraten, wie ich mit Euch in Kontakt treten kann. Ich biete Euch meine Dienste an.« Sie konnte es immer noch kaum glauben, dass sie ihn, den einen, den Dunkelträumer, kontaktiert hatte.

»Du sprichst wahre Worte, Calessia. Ich habe lange geschlafen. Finstere Träume haben mich umfangen. Aber nun bin ich erwacht. Und meine Rückkehr ist nahe. Ich kann es fühlen.

Aber woher weiß ich, dass ich dir trauen kann? Das letzte Mal, als ich einem Thalantianer vertraut habe, hat es mich ins Exil getrieben und mich unendliche Qualen der Einsamkeit erleiden lassen.«

Calessia war auf diese Frage nicht vorbereitet. Händeringend suchte sie nach überzeugenden Worten.

»Ich schwöre Euch, dass ich für Euch sterben würde. Ich habe mein halbes Leben damit verbracht, nach Euch zu suchen. Ich habe dafür alles aufgegeben. Diese Welt ist für mich nicht mehr von Bedeutung. Was Ihr auch verlangt, um Euch meine Treue zu beweisen, ich werde es tun. Ich will Euch bei Eurem Werk helfen. Für meine Überzeugungen habe ich sogar meine geliebte Schwester zuerst an die Dunkelheit und dann an den Tod verloren. Es gibt nichts mehr, das mich an diese Welt bindet.

Wenn die Legende wahr ist und Ihr, mein Gebieter, diese Welt opfern werdet, um eine neue zu erbauen, dann bitte ich Euch, Euch zu Diensten sein zu dürfen.«

Der Dunkelträumer fällte seine Entscheidung über Calessias Ansinnen nicht sofort. Er hatte eigentlich keinen rationalen Grund, ihr zu vertrauen. Aber es gab etwas, an das er unverrückbar glaubte. Etwas, an das er schon geglaubt hatte, als er vor tausend Jahren verbannt wurde und an das er wieder zu glauben begann, als er aus seinem finsteren Schlaf erwachte und Antilius durch den fragilen Tunnel in der Raumzeit in die Augen sah. Es war das Schicksal. Es hielt alle Fäden in der Hand. Das Schicksal hatte Calessia den sprechenden Stein zugespielt und sie erwählt, um seine Vergeltung endlich wahr werden zu lassen.

Der Dunkelträumer vertraute dem Schicksal.

»Du hast gut gesprochen. Wenn du mir dienst, dann werde ich dich reich belohnen. Wenn die alte Welt vernichtet und vergessen ist, dann kannst du in der neuen werden, was du willst.«

Calessia kamen vor Freude und Begeisterung die Tränen. »Das ist mehr, als ich verlangen könnte.«

Die Stimme machte eine Pause, bevor sie fortfuhr. »Wir haben aber noch viel zu tun.«

»Wie kann ich Euch helfen, zurückzukehren? Sagt, was ich tun muss!«

»Das Schicksal hat die Pläne für meine Rückkehr längst geschmiedet. Ein neuer Transzendenter wird kommen und mich zurück nach Thalantia geleiten.«

»Wer wird das sein?«

»Jemand, der bereits erwählt wurde. Die Späher, meine einstigen Schüler, werden ihn mir schon bald entsenden. Aber meine Rückkehr ist zwecklos, wenn die verborgene Macht Thalantias unerreichbar bleibt.«

»Welche verborgene Macht?«

»Die Macht von Ilbétha.«

Calessia wiederholte den Namen, konnte ihn jedoch in keinen Zusammenhang mit dem Dunkelträumer bringen. Trotz ihrer intensiven Forschungen der letzten Jahre war es ihr nicht gelungen, alle Geheimnisse der Vergangenheit zu lüften. Ilbétha war eines davon.

»Ich kenne ihr Versteck«, fuhr der Dunkelträumer fort, «doch ist es selbst mir ohne Hilfe nicht möglich, es zu erreichen. Daher brauchen wir die Hilfe mächtiger Verbündeter. Einen von ihnen hast du bereits an deiner Seite. Ich spüre seine Anwesenheit.«

Calessia blickte zum Kataklysten, der wie zur Salzsäule erstarrt neben ihr stand und auf Befehle wartete.

»Ich werde noch mehr Verbündete für unsere Sache gewinnen. Ich habe ein großes Vermögen. Es wird nicht schwierig sein, eine Armee aufzustellen, die Eurer würdig ist, Gebieter.«

»Ich vertraue auf dein Geschick und deine Fähigkeiten, eine Armee zu führen. Aber ich spreche von Verbündeten, die weitaus stärker als das mächtigste Schwert sind. Ich spreche von den Sieben.

»Die Sieben? Davon habe ich noch nie gehört. Leben sie noch auf Thalantia?«

»Die Sieben sind nicht lebendig. Sie waren ein Werkzeug im Krieg um Thalantia. Bis heute ruhen sie an einem verborgenen Ort. Wenn du sie sehen würdest, so wie sie jetzt sind, könntest du sie nicht als das erkennen, was sie wirklich sind.

Damit die Sieben wieder funktionieren und ihre Arbeit verrichten können, brauche ich die denkenden und die sehenden Steine. Sieben denkende und drei sehende. Sie sehen dem sprechenden Stein ähnlich, sind jedoch von völlig anderer Art. Finde sie, dann erhältst du weitere Anweisungen.«

Calessia überkam plötzlich das Gefühl, dass sie der Aufgabe, vor die sie der Dunkelträumer stellte, vielleicht doch nicht gewachsen war. Je mehr der Dunkelträumer sprach, desto weniger verstand sie. Wo sollte sie auf einmal jene zehn Steine herbekommen?

»Wo soll ich die Steine suchen? Und wie sehen sie aus?«

»Du musst dich auf die Suche nach ihnen begeben. Ihr Aufenthaltsort liegt für mich im Dunkeln. Als ich noch auf Thalantia war, gab es jemanden, der die denkenden Steine verwahrt hat, ebenso wie den sprechenden Stein, den du bereits gefunden hast. Wir nannten ihn den Rätselmacher. Er war der Herr der Steine und der Schöpfer der Sieben.«

In den Augen des Kataklysten flammte es kurz auf, als er vom Rätselmacher hörte. Zwar war nach seiner Transformation in einen Moorgolem nur noch ein winziger Rest von Panton übriggeblieben, aber es reichte aus, um sich vage an die Begegnung mit dem Rätselmacher vor zehn Jahrhunderten zu erinnern.

Calessia bemerkte die Reaktion des Kataklysten und löste ihren Blick vom sprechenden Stein.

»Was ist mir dir?«, fragte sie ihn.

»Ich bin dem Rätselmacher vor langer Zeit begegnet, meine Herrin. Von ihm erhielt ich den sprechenden Stein.«

»Das ist ja unglaublich! Welch ein Zufall!«, entfuhr es ihr.

»Das hat nichts mit Zufall zu tun«, belehrte sie die Stimme aus dem sprechenden Stein. »Das Schicksal hat euch zusammengeführt. Es ist vorherbestimmt. Alle Wege führen von nun an zu einem einzigen Punkt.«

»Ich nehme mal an, dass dieser Rätselmacher ein Wesen aus Fleisch und Blut war, so wie ich. Dann ist er schon sehr lange tot.«

»Der Rätselmacher lebte an einem abgelegenen Ort, irgendwo auf der Inselwelt Brigg. Beginne dort mit deiner Suche. Die Steine müssen noch dort sein«, befahl der Dunkelträumer.

»Das werde ich, mein Gebieter. Ich werde Euch nicht enttäuschen. Was soll ich noch tun?«

»Stelle eine Invasionsflotte von mindestens zehn Schiffen auf. Sie müssen für einen Angriff auf Arcanum vorbereitet sein.«

»Arcanum, die Stadt der Ahnen?«

»Arcanum wird als Erstes fallen. Viele andere Städte werden folgen. Rufe wieder nach mir, sobald du die denkenden Steine gefunden hast!«

Der sprechende Stein verstummte, und das Glühen in seinem Inneren verschwand.

In Calessias Kopf überschlugen sich ihre Gedanken. Zum einen fürchtete sie insgeheim den hohen Anforderung, die der Dunkelträumer an sie stellte, nicht gerecht zu werden. Sie sollte nicht nur nach Steinen suchen, die irgendjemand vor annähernd tausend Jahren irgendwo versteckt hatte. Sie sollte auch noch eine Armee aufstellen, welche die schier unüberwindbare Klippe der Ahnenländer durchbrechen konnte. Ausgerechnet die Ahnenländer! Jede andere Stadt auf Thalantia könnte sie mit einer gut bezahlten Armee aus Söldnern binnen weniger Tage einnehmen, aber Arcanum? Das erschien ihr unmöglich.

Hier war ihr ganzes Geschick und ihre List gefordert. Wenn sie scheiterte, wäre sie eine tote Frau, da machte sie sich keine Illusionen.

Zum anderen konnte sie ihr Glück kaum fassen, dass der Dunkelträumer sie ohne Weiteres als Dienerin akzeptierte. War es wirklich eine Fügung, dass sie zusammengefunden hatten? War es vom Schicksal vorherbestimmt, so wie der Dunkelträumer gesagt hatte?

Schicksal. Calessia wiederholte den Begriff innerlich mehrfach. Schicksal war doch nur ein Wort, oder? Eine höhere Macht musste hier am Werk sein und die Geschicke von Thalantia lenken. Es konnte dafür keine andere Erklärung geben.

Calessia, die Gefährtin des Todes, sammelte sich und begann einen Plan auszuarbeiten, wie man die Stadt der Ahnen überfallen konnte. Sie musste sich beeilen, denn schließlich musste sie auch die denkenden Steine finden. Sie war voll und ganz auf ihre Aufgabe konzentriert. Nichts konnte sie davon ablenken.

So bemerkte sie auch nicht, dass sie die ganze Zeit, während sie mit dem Dunkelträumer gesprochen hatte, beobachtet worden war. Es war der Waldläufer, der sich geistesgegenwärtig rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte und von seinem Versteck aus alles mitbekommen hatte.

Als er hörte, dass Thalantia zerstört werden sollte, packte ihn das nackte Entsetzen. Er musste etwas unternehmen, und es gab nur einen Ort, an dem seine schreckliche Neuigkeit Gehör finden würde. Noch in derselben Nacht schlich er sich heimlich davon. Niemand folgte ihm. Calessia war noch zu sehr mit ihren Gedankenspielen beschäftigt. Den Waldläufer hatte sie völlig vergessen.

Im Morgengrauen, als das Moor von Elend-Uhn allmählich in ein graues, kaltes Dämmerlicht gehüllt wurde, wandte sie sich an den Kataklysten.

»Lass uns gehen, mein treuer Diener. Wir haben Großes vor.«

»Ja, meine Herrin«, brummte der Kataklyst und folgte seiner Herrin durch das Moor.

Verlorenend Band III

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