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Telandir

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Es war genauso, wie die Präfektin gesagt hatte. Alte Schwinge hatte offenbar den Verlust ihres Artgenossen Später Vogel gut verkraftet und raste pfeilschnell am Himmel voran. Tirl und Antilius auf ihrem Rücken mussten sich gut festhalten, so rasant schossen sie durch die Luft. Der Spiegel von Gilbert war am Geschirr des Flugsauriers festgezurrt, damit Antilius ihn immer im Blick hatte. Sie waren noch rechtzeitig unmittelbar nach dem Treffen in Arcanum gestartet und würden am Abend die Küste im Südosten von Panthea erreichen.

Je weiter sie nach Norden vordrangen, desto kühler wurde es. Panthea war die nördlichste aller sieben Inselwelten. Obwohl der Herbst erst begonnen hatte, konnten dort die Temperaturen bereits deutlich unter den Gefrierpunkt sinken, vor allem nachts. Aber auch tagsüber war man gut beraten, warm gekleidet zu sein, wenn man das raue Klima Pantheas nicht gewohnt war.

Aus diesem Grunde hatten sich Antilius und der Arboraner Tirl, dessen Volk besonders kälteempfindlich war, allerlei warme Kleidung mitgenommen.

Es war schon einige Jahre her, dass Tirl die dritte Inselwelt Panthea erkundet hatte, aber er konnte sich noch gut an die Kälte erinnern, die ihn hatte frieren lassen. Seine Begeisterung, wieder hierher zurückkehren zu müssen, hielt sich daher in Grenzen. Er und Antilius hofften, die Hafenstadt Telandir noch vor Einbrechen der Dunkelheit zu erreichen. Aber angesichts der Entfernung und Alte Schwinges nachlassenden Kräften verzögerte sich ihre Ankunft bis spät in die Nacht.

Nicht nur einmal überkam Antilius während des Fluges durch die Dunkelheit das ungute Gefühl, dass der Flugsaurier gar nicht mehr wusste, in welcher Richtung er flog. Aber zum Glück war auf Alte Schwinge Verlass. Sie flog nur äußerst ungern im Dunkeln, dennoch hatte sie irgendwie die Flugrichtung im Kopf behalten. Als Tirl und Antilius das Licht des Leuchtturms in der Ferne aufleuchten sahen, atmeten sie erleichtert auf.

Die Stadt Telandir hatte es schon vor dem Großen Krieg vor über tausend Jahren gegeben. Sie hatte damals einen anderen Namen, an den sich heute - wenig überraschend angesichts des 'Vergessen-Plans' niemand erinnern konnte. Wie die meisten Städte zu dieser Zeit auch war Telandir damals bis auf die Grundmauern niedergebrannt, wurde aber nach Kriegsende rasch und mit viel Ehrgeiz wieder aufgebaut. Sämtliche Häuser waren aus Feldsteinen gebaut und verfügten überwiegend über reetgedeckte Dächer. Größtenteils Menschen lebten hier. Sie waren die einzige Spezies, die mit der Kälte im Winter einigermaßen gut umgehen konnte. Es waren gesellige Leute, welche aber die Zurückgezogenheit dieses Ortes zu schätzen wussten. Besucher verirrten sich nur selten hierher.

So erwies sich die späte Stunde, zu der Alte Schwinge am Dock landete, als Glücksfall, denn so blieben die Ankömmlinge vor allzu vielen neugierigen Blicken verschont.

Tirl handelte mit dem Besitzer eines Pferdestalls aus, dass sich Alte Schwinge auf dessen Gelände ausruhen durfte und gefüttert wurde.

Dann begaben sie sich zum einzigen Wirtshaus der Stadt, um dort etwas zu essen und die Nacht zu verbringen. Die Gaststätte war klein und rappelvoll. Zu ihrer Überraschung wurden sie von den Einheimischen freundlich begrüßt. Niemand starrte sie an, obwohl man einen Arboraner nicht alle Tage auf Panthea zu Gesicht bekam. Es schienen gute Leute zu sein. Dieser Eindruck bestätigte sich, nachdem sie zuvorkommend bewirtet wurden und den Abend im Gasthaus verbringen konnten, ohne das Gefühl zu haben, Außenseiter zu sein.

Tirl hatte selbstverständlich dafür gesorgt, dass auch Mila einen Platz an ihrem Tisch bekam, und dass eine Kerze für sie angezündet wurde. Der Wirt - ein schmaler Mann, der ständig besorgt dreinschaute - stellte keine unangenehmen Fragen und ging auf Tirls Wünsche ein, ohne ihn auch nur einmal schief anzusehen.

Im Kamin brannte ein Feuer. Es war warm und gemütlich. Die Leute unterhielten sich leise und respektvoll miteinander.

»Also, mir gefällt es hier«, sagte Antilius und musste sich zwingen, sich nicht ständig umzusehen, um sich zu vergewissern, dass sie niemand belauschte. Er war überrascht, in so einer friedfertigen Umgebung gelandet zu sein. Dieser Ort war so völlig anders als das laute und hektische Fara-Tindu auf Truchten.

»Mila gefällt es auch. Sie ist gern unter Leuten. Weil ich immer soviel unterwegs war und nach alten Artefakten gegraben habe, sind wir nicht oft dazu gekommen«, erklärte Tirl. Er war wesentlich kleiner und schmaler als Antilius und hätte Mühe gehabt, über den Tisch zu schauen, wenn der Wirt ihm nicht dezent ein Kissen gereicht hätte, auf dem er sitzen konnte. Mila bekam vom Herrn des Hauses natürlich auch ein Kissen, was Antilius staunend zur Kenntnis nahm.

Während sie so saßen und sich an einem guten Essen erfreuten - es gab gebratenes Hähnchen mit viel Brot -, grübelte Antilius über Mila nach. Sie war es gewesen, die Tirl den entscheidenden Tipp gegeben hatte, wie Antilius die Banshee Xali bekämpfen konnte. War Mila also nur ein Hirngespinst? Nein. Aber was war sie dann? Wer war sie wirklich? Die echte Mila war im Feuer, das ihr Dorf auf Arbrit vernichtet hatte, verbrannt. Soviel stand fest. Antilius glaubte daher nicht, dass sie eine Art Geist war. Nein, sie war viel mehr als das. Er glaubte, dass er langsam zu verstehen begann, wer sie war. Es war bislang mehr als eine Ahnung, aber weniger als ein Verdacht. Tirl danach zu fragen, hätte keinen Zweck, denn für den Arboraner war sie seine Frau, die der Flammenhölle entkommen war.

Gilbert war es, der ihn plötzlich aus seinen Gedanken riss. Sein Spiegel lag auf dem runden Tisch, an dem sie saßen. »Ich bin schon ein wenig neidisch, wenn ich mitansehen muss, wie ihr hier so gemütlich schmaust.«

»O, tut mir Leid, Gilbert.«

»Ach, schon gut, schon gut. Ich habe mich ja daran gewöhnt. Schließlich bin ich schon eine ganze Weile hier drin.«

»Wie lange bis du denn darin eingesperrt?«, fragte Tirl. Er kannte Spiegelgefängnisse zwar nur aus Büchern. Aber er wusste, dass es aus ihnen kein Entkommen gab.

»Ehrlich gesagt, weiß ich das gar nicht mehr so genau. Ich meine, ich war ja mal für kurze Zeit draußen, als ich in Verlorenend war, aber davor war ich schon so lange hier. An diesem Ort vergisst man die Zeit, da sie hier irgendwie nicht existent ist. Ich muss nicht essen, ich altere nicht und habe kein Zeitgefühl mehr. Wenn ich sagen müsste, wie lange ich schon hier bin, dann müsste ich raten. Vielleicht vierzig Jahre, vielleicht auch mehr.«

Tirl schaute voller Mitgefühl und betrübt drein. »Wie schrecklich! Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Darf ich fragen, warum du dort eingesperrt wurdest?«

Antilius hielt den Kopf gesenkt und lugte neugierig zum Spiegel auf dem Tisch hinüber. Er konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, da er selbst schon bei Gilbert mehrfach mit derselben Frage erfolglos abgeblitzt war. Bei Tirl würde es nicht anders sein. Gilbert würde sein Geheimnis nicht preisgeben; zumindest nicht freiwillig.

Dann reagierte er aber ganz anders, als es sein Meister gewohnt war. Er war in letzter Zeit viel stiller und trauriger als sonst. Seine Antwort bestätigte Antilius nur in dieser Einschätzung, und er begann, sich echte Sorgen um seinen Freund zu machen.

»Es heißt doch, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, nicht wahr? Ich habe immer versucht, die Schuld bei anderen zu suchen. Aber ich bin wohl jetzt lange genug hier, um mir einzugestehen, dass ich alleine dafür die Verantwortung trage. Es ist meine Schuld, dass ich hier bin und dieses...«, Gilbert suchte nach den richtigen Worten, »dieses erbärmliche Leben führe.«

Tirl schwieg. Antilius wollte das Gesagte aber nicht so stehen lassen: »Ich glaube nicht, dass du daran Schuld bist. Ich weiß zwar nicht, was dir widerfahren ist, aber ich kenne dich gut genug, um mit Sicherheit sagen zu können, dass du nicht daran Schuld bist.«

Gilbert hinter dem Spiegelglas senkte den Kopf und nickte dann. »Vergesst einfach, was ich gesagt habe. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Wände in diesem Raum immer näher an mich herankommen, und dann fürchte ich, ersticken zu müssen. Daher werde ich gelegentlich melancholisch. Das Beste dagegen ist Abwechslung und damit ein Themenwechsel: Wann wollt ihr denn morgen aufbrechen? Ich meine, wann werden wir aufbrechen? Und wie weit ist es überhaupt bis zum Friedhof?«

»Wir werden uns zwei Pferde mieten. Ich habe mit dem Stallbesitzer schon gesprochen. Wenn wir früh aufbrechen, dann erreichen wir den Kayen am späten Nachmittag«, erklärte Tirl.

Der unermüdlich umhertrabende Wirt kam gerade zufällig an ihnen vorbei, als er von Tirl das Wort Kayen hörte. Abrupt blieb er stehen. Seine ohnehin schon besorgte Miene steigerte sich, und er beugte sich zu Antilius und Tirl vor.

»Verzeihung, aber ich konnte nicht umhin mitanzuhören, was die Herren gerade ausgesprochen haben.«

»Ihr meint den Kayen? Den Friedhof des Kayen?«, schlussfolgerte Tirl.

Bei dem Namen Kayen zuckte der Wirt zusammen und sah ängstlich um sich. Als er sich vergewissert hatte, dass niemand außer ihm Tirls Worte gehört hatte, zog er den vierten freien Stuhl zu sich heran und setzte sich.

»Bitte sagt mir nicht, dass die Herren vorhaben, den Friedhof der Hoffnungslosen zu besuchen.«

»Genau dort wollen wir hin.«

Der Wirt schloss die Augen und schüttelte verneinend den Kopf. »Das ist keine gute Idee. Wenn ich etwas tun kann, um die Herren von ihrem Vorhaben abzuhalten, dann sollten sie es mir sagen, und ich werde tun, was ich kann. Aber bitte, die Herren sollen nicht an diesen grauenhaften Ort gehen! Der Kayen ist verdorbenes Land.«

»Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl. Wir müssen dorthin«, sagte Antilius. »Was hat es mit diesem Friedhof auf sich? Was soll daran so gefährlich sein? Mein Freund hier war schon einmal dort und hat nichts Ungewöhnliches bemerkt. Ist es nicht so, Tirl?«

»Ja, aber ich war nur ein paar Mondstunden dort, während der Mittagszeit.«

»Dann hat der Herr großes Glück gehabt. Bei Tag wirkt der Kayen harmlos. Aber wenn sich die Nacht über die Gräber legt, dann gehen die Geister um und holen sich jeden, der so töricht war, sich auf dem Kayen zu verirren.«

»Geister?«, wiederholte Tirl ungläubig.

»Ja, mein Herr. Tausende von ihnen. Für Außenstehende mögen meine Worte wahrscheinlich nach dummer Folklore klingen. Aber wir wissen, dass man den Friedhof nicht betreten soll.

Wir sind einfache Leute hier. Und wir leben nach einer einfachen Regel: Lasst den Toten ihren Frieden, dann lassen die Toten dich in Frieden. Was auch immer es sein mag, das die Herren dazu nötigt, den Kayen zu betreten, ich bitte sie, nein, ich beschwöre sie, es nicht zu tun.«

In dem schummrigen Licht des Gasthauses wirkten die dunklen Augenringe und das ausgemergelte Gesicht des Wirtes so, als ob er sich schon beim Gedanken an den Friedhof in einen Untoten verwandeln würde.

Antilius und Tirl sahen einander an. An ihrem Vorhaben gab es nichts zu rütteln, darüber waren sie sich stillschweigend einig. Aber die Worte des Wirtes und die Furcht in seinen Augen machten ihnen die Gefährlichkeit des Kayen klar.

»Wir haben nicht vor, die Ruhe der Toten zu stören«, entgegnete Tirl ruhig und sachlich. »Wir sind auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem. Und ich versichere Euch, wenn uns die Umstände nicht dazu zwingen würden, dann würden wir auch Euren weisen Rat befolgen und dem Kayen fern bleiben.

Wir suchen ein Wesen, das als Siobsistin bekannt ist. Ich selbst kenne sie nur als eine Legende. Wisst Ihr etwas darüber?«

»Natürlich weiß ich, wer die Siobsistin ist.«

»Ihr habt sie gesehen?«, fragte Antilius ungeduldig.

»Man muss sie nicht mit eigenen Augen gesehen haben, um zu wissen, dass sie existiert.

Niemand hat sie gesehen, weil sie sich hinter dem Schleier versteckt.«

»Dem Schleier?« Antilius wurde hellhörig.

»Ja, sie versteckt sich vor den Lebenden, weil es nichts gibt, das sie ihnen zu sagen hätte.«

»Was wisst Ihr noch über die Siobsistin? Was bedeutet dieser ungewöhnliche Name eigentlich?«, wollte Tirl wissen.

»Die Siobsistin ist eine Art Königin der Toten. Ja, eine Königin auf dem größten Friedhof des Universums. Sie wurde aus einem einzigen gleichgerichteten Gedanken geboren, erschaffen aus Trauer und Vergehen, aus Schmerz und Leid. Sie wacht über die ruhelosen Geister und sorgt dafür, dass sie den Friedhof nicht verlassen, wenn die Wut über den Tod bei ihnen überhand nimmt.

Die Herren wären gut beraten, die mächtige Siobsistin nicht herauszufordern. Aber an ihren Gesichtern sehe ich, dass sie sich nicht umstimmen lassen werden. Ich habe die Herren gewarnt. Mein Gewissen ist rein.«

»Es steht viel mehr auf dem Spiel, als Ihr Euch vorstellen könnt. Thalantia ist einer großen Bedrohung ausgesetzt. Die Siobsistin ist vielleicht unsere letzte Hoffnung«, erklärte Tirl.

Der Wirt seufzte resigniert. »Dann sollen die Herren mit den besten Wünschen gehen. Aber sie sollen sich vor der Dunkelheit hüten. Die Dunkelheit ist die Quelle der finsteren Macht, welche den Kayen umfängt.«

Verlorenend Band III

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