Читать книгу Verlorenend Band III - S. G. Felix - Страница 3
Prolog: Das Leuchten aus dem Moor
ОглавлениеErschöpft und mit schweren Beinen, aber mit eisernem Willen watete Calessia durch den knietiefen Morast.
Die Moorebenen der Inselwelt Fahros waren berüchtigt für ihre lebensgefährlichen Seen und Tümpel. Nicht deshalb, weil man fürchtete, im Moor versinken zu können, sondern weil man davon überzeugt war, dass irgendwo in dem trüben Wasser etwas lebte, das nur darauf wartete, jemanden zu sich in die Tiefe zu ziehen.
Diese Geister- und Spukgeschichten über das Moorland, das die Einheimischen auch als Elend-Uhn bezeichneten, kannte Calessia nur zu gut. Daher wusste sie auch, dass sie der Wahrheit entsprachen. Nicht Geister lebten in den Mooren, sondern etwas, das sehr lebendig war, obschon es sehr alt sein musste.
Calessia war auf der Suche nach dem Kataklysten. Vor mehreren Jahrhunderten, wahrscheinlich zu der Zeit kurz nach dem großen Krieg auf Thalantia, musste es gewesen sein, als der Kataklyst im Moor versank und sich in eine Art Golem verwandelte. Das Flüsternde Buch hatte es ihr verraten.
Mit sechs kräftigen Männern war Calessia im Südosten von Fahros zum Moorland aufgebrochen. Ihre Träger und Gehilfen hatte sie nur mit Hilfe vieler Goldmünzen überreden können, sie tief hinein ins Moor zu begleiten.
Drei von ihnen mussten nach einigen Tagen vor Erschöpfung aufgeben. Der Vierte machte sich eines Nachts während einer Rast heimlich aus dem Staub, weil er furchtbare Angst hatte vor dem, was Calessia aus dem Moor erwecken wollte.
Von den zwei übriggebliebenen bat der fünfte Mann Calessia um Entbindung von seinen Pflichten. Er war ihr Führer, der wie kein anderer die wenigen begehbaren Wege im Moor kannte. Ohne ihn wäre ihre Suche nach dem Kataklysten schon längst beendet gewesen. Deshalb machte sie ihrem Führer klar, dass sie ihn persönlich umbringen würde, sollte er es wagen, sie im Stich zu lassen.
Vier Tage waren Calessia und ihre zwei verbliebenen Helfer nun schon weiter in die Moorebenen vorgedrungen, weiter, als sich kein anderer je gewagt hätte. Der faulige Gestank in dieser Gegend war schon schlimm genug. Aber die feuchte Kälte, besonders in den Nächten, fuhr der Gruppe tief in die Knochen und machte jeden Schritt zur Qual.
»Hier endet der Pfad, der auf unserer ältesten Karte, die wir haben, verzeichnet ist,« sagte Calessias Führer am Ende des vierten Tages. Er war auf Fahros auch als der Waldläufer bekannt.
Wie so oft in den Moorebenen hatte es wieder begonnen zu regnen. Die ohnehin schon gut gefüllten Becken, Seen und Flüsse würden noch weiter anschwellen und den Rückweg kaum leichter, wenn nicht sogar unmöglich machen.
»Wir haben unser Ziel fast erreicht«, sagte Calessia. »Der Legende nach versank der Kataklyst in einem See, in dessen Mitte sich eine kleine Insel erhebt. Eine alte Eiche, die schräg über das Wasser ragt, steht darauf.
Es muss ganz in der Nähe sein!«
»Ich hoffe, Ihr irrt Euch«, bemerkte Calessias Führer.
»Wieso sagst du das?«, fragte sie zornig.
»Das, was hier im Moor ruht, sollte man besser in Frieden lassen. Es stammt aus dunklen Zeiten, und es kennt nichts anderes als das Dunkel. Es ist böse und verflucht.«
»Verflucht? Ja, vielleicht. Aber böse? Du fürchtest dich nur, weil du es nicht besser weißt. Den Kataklysten nicht zu erwecken wäre töricht. Jedenfalls nicht in Anbetracht dessen, was uns allen schon sehr bald bevorsteht.«
»Selbst wenn es dieses Wesen wirklich gibt, was wollt Ihr dann von ihm?«, wollte der andere Mann wissen, der Calessias Gepäck trug.
»Der Kataklyst besitzt etwas, das ich brauche. Mehr musst du nicht wissen.«
»Die Sonne geht bald unter. Wir sollten hier unser Nachtlager aufschlagen«, schlug der Waldläufer vor.
»Nein. Auf keinen Fall«, sagte Calessia und starrte auf einen Punkt hinter ihrem Führer.
»Warum nicht?«
Calessia atmete einmal tief ein und aus, bevor sie antwortete: »Weil wir unser Ziel erreicht haben.«
Der Waldläufer drehte sich um und folgte ihrem Blick. In der Ferne ragte die schattengleiche Silhouette der alten, verdorrten Eiche vor einer untergehenden Sonne auf.
»Ich habe es euch doch gesagt! Die Legende ist wahr.«
Die beiden Männer sackten innerlich zusammen. Mehr als je zuvor hatten sie das Gefühl, dass die Sache ein böses Ende nehmen würde.
Nebelfelder zogen über dem Moor auf, als Calessia und ihre beiden Helfer das Ufer des kleinen Sees mit der Eiche auf dessen Insel erreichten. Die Temperatur war stark gefallen. Der Regen hatte aufgehört, aber die Nässe war zusammen mit der Kälte in jede Ritze gekrochen. Der Waldläufer und der Träger froren. Nur Calessia war auf ihr Ziel fixiert und starrte auf den See mit seinem dunklen, undurchsichtigen Wasser.
»Zündet ein paar Fackeln an und steckt sie hier am Ufer in einem Halbkreis um uns herum in den Boden!«, befahl sie.
Die Männer führten ihren Befehl aus, während die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Das letzte Glühen am Himmel im Westen spiegelte sich auf der Wasseroberfläche des kalten Sees.
»Woher wisst Ihr, wie man den Kataklyst erweckt?«, fragte der Waldläufer zweifelnd.
»Ich weiß es nicht«, sprach Calessia fast amüsiert. »Woher auch? Es hat noch niemand versucht, ihn aufzuwecken.«
Sie zog ihre Schuhe aus und trat ans Ufer heran. Dann setzte sie einen Fuß in das Wasser und zuckte ob der Kälte einmal. Sie biss die Zähne zusammen. Als sie sicher sein konnte, dass der Untergrund fest genug war, ihr Gewicht zu halten, stieg sie ein Stück weiter hinein, bis ihr das Wasser bis zu den Knien reichte.
Der Kataklyst sollte wissen, dass jemand bei ihm war. Ihre Körperwärme würde ihn anlocken.
»Los, macht es genauso wie ich!«, rief sie den Männern zu.
Der Waldläufer und sein Leidensgenosse wechselten kurz einen Blick und einigten sich stumm darauf, diesmal nicht zu gehorchen.
»Feiglinge!«, zischte Calessia nur und ließ es auf sich beruhen. Sie war viel zu fasziniert von diesem abgeschiedenen Ort. Sie spürte, dass der Kataklyst in der Nähe war.
Sie schritt noch ein Stück weiter hinein in den eisigen See, tauchte ihre Hände ins Wasser und bewegte sie im Kreis, um Wellen zu erzeugen. Die Kälte spürte sie gar nicht mehr.
»Ich rufe dich, Gefangener des Sees! Ich rufe dich herbei. Erwache aus deinem langem Schlaf! Folge mir, und ich werde dir zu deiner Vergeltung verhelfen, die dir bis heute verwehrt geblieben ist!
Erwache!«
Nichts geschah.
Erleichtert stellten die beiden Männer im Hintergrund fest, dass sich nichts tat. In froher Hoffnung, Calessia nun zum Umkehren bewegen zu können, klopften sie sich gegenseitig auf die Schulter, als sie plötzlich ein leises Blubbern vernahmen.
Calessia zog blitzartig mit einem leichten Schreck ihre Hände wieder aus dem Wasser und starrte gebannt zu den Bläschen, die sich ein paar Meter vor ihr auf der Wasseroberfläche gebildet hatten.
Weitere Blasen stiegen auf und ein gedämpftes Raunen ertönte. Es schien aus dem See zu kommen.
Die Männer bekamen es mit der Angst zu tun.
»Lasst uns von hier verschwinden, bevor es zu spät ist!«, flehte der Träger Calessia an.
»Schweig!«, schrie sie zurück, ohne sich vom See abzuwenden.
Mehr und mehr Blasen stiegen aus der finsteren Tiefe des Sees empor.
Und dann, nur ganz schwach, sah Calessia ein Leuchten unter Wasser. Es war dasselbe grüne Leuchten, dass Panton - das war der Name des Kataklysten vor seiner Verwandlung - einst in die Tiefe gezogen hatte. Aber dieses Mal kam es vom Kataklysten selbst.
Das Wasser begann regelrecht zu sprudeln. Das grüne Licht wurde immer heller. Ein unheilvolles Rumoren durchdrang das Moor.
Calessia ging langsam rückwärts, bis sie wieder aus dem Wasser heraus war.
Die beiden Männer hätten es besser wissen müssen: Sie hätten die Gelegenheit beim Schopfe packen und von diesem Ort fliehen sollen. Aber der seltsamen Faszination, die das Schauspiel in ihnen auslöste, konnten sie sich nicht entziehen. Sie wagten sich stattdessen bis an das Ufer heran, um zu sehen, was gleich aus dem fauligen Nass emporsteigen würde.
Langsam begann sich die Wasseroberfläche in der Mitte des Sees zu wölben. Eine schwarze, modrige Masse erhob sich aus einem leuchtenden Kranz von Blasen. Es war der Kopf des Kataklysten. Er war eins geworden mit dem Moor. Und deshalb bestand er auch überwiegend nur aus dem Morast, den ein Moor beinhaltet.
Das grüne Leuchten stammte von seinen Augen, die wie zwei Scheinwerfer aus der zunehmenden Dunkelheit zu Calessia und ihren Männern hinüber strahlten.
Mit jedem Zentimeter, den der Kataklyst aus dem Wasser stieg, wurde klar, dass er riesig war. Mindestens doppelt so groß wie ein ausgewachsener Mann.
Als er halb aus dem Wasser war, bewegte er sich ein Stück weit auf das mit Fackeln beleuchtete Ufer zu.
Auf halber Strecke machte er Halt und beugte sich tief in das Wasser hinein. Anscheinend wollte er etwas vom Grund aufheben. Als er es gefunden hatte, richtete sich das mächtige Wesen wieder auf.
Es war der Helm des Kataklysten, den er als stolzer König vor langer Zeit getragen hatte. Der Helm war einst wunderschön gewesen, gefertigt aus Gold und besetzt mit den edelsten Steinen, die man auf seiner Heimatwelt finden konnte. Er war das, was man hierzulande als Krone bezeichnet hätte.
Der Kataklyst hob den vor Schlamm triefenden Helm über seinen mächtigen Kopf und setzte sich ihn auf. Widerlich schmatzende und glucksende Geräusche entstanden dabei. Dann kam das morastige, nach Fäulnis stinkende Ding weiter auf das Ufer zu.
Calessia war so fasziniert und erregt von dem Geschehen, dass ihr Herz wild pochte, und sie zu schwitzen begann, obwohl es doch eiskalt war.
Das Moorwesen erreichte die Uferböschung. Ehe der Mann, der als Gepäckträger angeheuert hatte, begriff, dass das vermoderte Ungeheuer aus dem See etwas in seinen grün-leuchtenden Augen hatte, das ihn an den Tod erinnerte, packte der Kataklyst den armen Kerl blitzschnell am Hals und hob ihn hoch. Er schrie nur kurz, denn die unerbittliche Kraft seines Würgegriffs ließ jeglichen Schrei im Keim ersticken.
»Nein!«, brüllte der Waldläufer. »Calessia, tut doch etwas! Befehlt ihm, aufzuhören!«
Aber Calessia dachte gar nicht daran, dem einstigen König aus dem Moor etwas zu befehlen. Sie wusste, der Kataklyst musste sehr hungrig sein, nach all der langen Zeit. Also sollte er sich nehmen, was er brauchte.
Das stechende Licht aus seinen Augen paralysierte sein Opfer und machte es willenlos. Der Moorgolem öffnete seinen Mund, aus dem tiefschwarzer Matsch herausquoll. Dann begann er den armen Mann auszusaugen. Es war ein Strom aus grün-glühendem Plasma, das der Kataklyst aus seinem Opfer heraussaugte.
Calessia sah mit geweiteten Augen und einer Mischung aus Abscheu und Faszination zu, wie das Ding aus dem Moor ihrem Gepäckträger gierig das Leben aussaugte. Für einen Moment kamen ihr ernsthafte Zweifel, ob es wirklich klug gewesen war, den Moorgolem herbeizurufen. Aber es kam noch schlimmer: Nachdem auch das letztes Zucken des Mannes im eisernen Griff der morastigen Pranke erstorben war, begann er in sich zusammenzufallen. Er schrumpfte wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausließ. Der Kataklyst hinterließ von seinem Opfer nichts als eine leere Hülle. Am Ende warf er das, was er übrig gelassen hatte, von sich, woraufhin sich die Hülle des Mannes wie ein nasser Sack um einen verdorrten Ast eines Baumes wickelte, so als handele es sich um ein nasses Handtuch.
Der Waldläufer schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen und flüchtete. So wollte er nicht auch enden. Er rannte nicht weit und versteckte sich hinter einem großen Stein, von dem er aus sicherer Entfernung das Geschehen beobachten konnte.
Das Glühen in den Augen des Kataklysten senkte sich wieder ein wenig. Calessia war zweifelnd zurückgewichen. Das Wesen aus dem Moor näherte sich ihr und setze dabei langsam einen Fuß vor den anderen. Calessia erstarrte. Der Kataklyst blieb unmittelbar vor ihr stehen.
Der Waldläufer, hinter dem Stein kauernd, wollte am liebsten wegsehen. Aber er tat es nicht.
Dann senkte der Kataklyst seinen Kopf und ging bedächtig in die Knie.
»Ich bin Euer Diener, meine Herrin«, brummte das Geschöpf.
Calessia zitterte vor Anspannung und Erregung. Sie wäre beinahe in Ohnmacht gefallen.
»Es heißt...« Sie musste noch einmal tief Luft holen und sich zusammenreißen, um dem Kataklysten keine Schwäche zu zeigen. »Es heißt, du besitzt einen der sprechenden Steine. Gib ihn mir! Dann werde ich dich teilhaben lassen an meinem großen Plan.«
Der Kataklyst streckte die rechte Hand aus und hielt sie ihr mit der Innenseite nach oben hin.
Stirnrunzelnd betrachtete Calessia die leere Hand aus triefendem Morast. Dann quoll etwas aus der Handfläche heraus. Ein Klumpen, über und über mit Schlamm bedeckt. Sie nahm das Ding an sich, wusch es hastig im Wasser des Sees und öffnete staunend den Mund, als sie erkannte, was der Golem aus dem Moor ihr überlassen hatte.
Es war der sprechende Stein. Der Stein, mit dem sie den Dunkelträumer kontaktieren konnte.