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2.Die Reformschwerpunkte der letzten Jahrzehnte

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117Trotz der z. T. einschneidenden Gesetzesänderungen hat der Gesetzgeber das Jugendstrafrecht bisher nur punktuell, nicht aber in seinen Grundzügen reformiert. Die Grundlagen des JGG 1953 wurden durch ihn nie in Frage gestellt. Anders verhielt sich die sehr lebhafte wissenschaftliche und kriminalpolitische Diskussion der letzten Jahrzehnte. Sehr unterschiedliche, teilweise auch gegenläufige Strömungen203 haben dort die Grundlagen des JGG 1953 wiederholt angezweifelt. Zu nennen wäre hier beispielsweise die in den 80er Jahren entstandene Diversionsbewegung. Sie strebte eine grundlegende Änderung der Sanktionspolitik bei Jugendkriminalität an. Insbesondere unterstützte sie Wege, kleinere Delikte von Gelegenheitsdelinquenten an der Justiz „vorbeizuleiten“. Mit Hilfe von Wohlfahrtsverbänden und freien Trägern wurden neue Reaktionsmöglichkeit geschaffen, die bei gleichzeitiger Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft immer noch als „Quasi-Sanktionen“ oder Hilfs- und Beratungsangebote zur Verfügung standen.

118Da das JGG dem Richter bei der Wahl der angemessenen Sanktion mit seinem breit gefächerten Sanktionskatalog und durch eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe einen weiten Spielraum gewährt, haben diese Strömungen vielfach auf die Rechtsprechung übergreifen können. So ist es auf wichtigen Teilgebieten zu einer Reform des Jugendstrafrechts durch die Praxis auch ohne ausdrückliche Gesetzesänderung gekommen. Als wichtigste Beispiele einer solchen überwiegend als positiv zu bewertenden Reform durch die Praxis sind zu nennen:

119a) Die erhebliche Zunahme der formlosen Erledigung der kleineren Jugendstrafsachen ohne Urteil, für die §§ 45 und 47 JGG eine gesetzliche Möglichkeit bieten (Diversion, dazu unten Rn. 731 ff.). Die Diversion dient nicht nur der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung, sondern auch dem allseits anerkannten Ziel, schädliche Etikettierungen und Stigmatisierungen Jugendlicher zu vermeiden.

Schaubild 6: Entwicklung der Sanktionspraxis im Jugendstrafrecht Bundesrepublik Deutschland 2010 bis 2018 Anteile bezogen auf informell und formell Sanktio­nierte


120b) Die Zurückdrängung stationärer Sanktionierung von Jugendstraftaten (Jugendstrafvollzug, Jugendarrestvollzug, Heimerziehung etc.) zu Gunsten von ambulanten Maßnahmen.204 Damit entspricht man der Erkenntnis, dass das Meiden stationärer Sanktionen weit mehr Legalbewährungserfolge verspricht als harte Sanktionen. Allerdings zeigen hier die in den letzten Jahren einigermaßen konstant gebliebenen Prozentsätze von Jugendstrafe (leichter Anstieg) und Jugendarrest unter den Rechtsfolgen, dass die Praxis auf freiheitsentziehende Sanktionen nicht verzichten will oder nicht verzichten zu können glaubt. Jedoch wird ein immer größerer Teil der verhängten Jugendstrafen zur Bewährung ausgesetzt und auch diese „Bewährungsstrafe“ ist – sofern es zu keinem Bewährungswiderruf kommt – am Ende eine ambulante Sanktion. Innerhalb der ambulanten Sanktionen ist vor allem die Arbeitsweisung bzw. -auflage wichtig geworden, wohingegen die anderen besonders viel diskutierten Maßnahmen wie soziale Trainingskurse (darunter insbesondere das sog. „Anti-Aggressivitäts-Training“), Betreuungsweisungen, Weisungen zur Schadenswiedergutmachung und selbst der Täter-Opfer-Ausgleich seltener gewählt werden.205

121Das Ausmaß der Veränderung der Sanktionspraxis der Gerichte im Hinblick auf die unter a) und b) dargestellten Gesichtspunkte ergibt sich sehr plakativ aus Schaubild 6. Nur gibt das Schaubild nicht Auskunft über die seit den 80er Jahren stärker in den Mittelpunkt der Diskussion gerückte Problematik der „Strafungleichheit“ aufgrund regional und länderbezogen unterschiedlicher Sanktionspraktiken. Vor allem im Bereich von Diversions- und freiheitsentziehenden Maßnahmen lässt sich ein deutliches Nord-Süd-Gefälle feststellen. So legen Untersuchungen nahe, dass in Fällen typischer Jugendkriminalität die in den nördlichen Stadtstaaten verhängten Sanktionen deutlich milder ausfallen als in den südlichen Flächenstaaten.206

122c) Obwohl § 105 JGG davon ausging, dass die Anwendung von Jugendstrafrecht auf Heranwachsende die Ausnahme sein sollte, hat die Praxis sie zumindest bei der sog. klassischen Kriminalität (im Gegensatz zur Verkehrskriminalität) von Jahr zu Jahr mehr zur Regel gemacht und damit auch für Heranwachsende die leichteren Möglichkeiten informeller Erledigung und ambulanter Rechtsfolgen geschaffen.

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