Читать книгу Jugendstrafrecht - Sabine Swoboda - Страница 46
4.Stellungnahme
Оглавление133Überzeugen können von den diskutierten Reformen weiterhin nur diejenigen, die das Wesen und die Aufgabe des Jugendstrafrechts so, wie es sich aus dem Programm der Jugendgerichtsbewegung heraus entwickelt hat (s. dazu Rn. 95 ff.), in ihrem Kern unangetastet lassen. In den Grundsatzideen der Jugendgerichtsbewegung dominiert der Erziehungsgedanke, ohne aber zugleich die Verfolgung anderer Strafzwecke gänzlich auszuschließen (vgl. auch § 2 I S. 2 JGG). Ganz im Gegenteil ist einer alleinigen Berücksichtigung des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht entgegenzuhalten, dass die praktische, aber auch empirisch belegte Erfahrung zeigt, dass der Effizienz aller ambulanten und stationären erzieherischen Bemühungen Grenzen gesetzt sind und dass, wie überall, Erziehung auch im sozialen Bereich der Jugendkriminalität nicht ganz ohne Strafe auskommt; – ohne dass „Erziehung“ dabei mit „Strafe“ zu verwechseln wäre. Das Strafrecht hat auch gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden die Aufgabe sühnender „Rechtsbewährung“ und „Normbekräftigung“ im Sinne der heute im allgemeinen Strafrecht herrschend gewordenen Strafzwecklehre der „positiven Generalprävention“.237 Die Forderungen nach einer Ablösung des Erziehungsstrafrechts und der „Behandlungsideologie“ verdienen deswegen insoweit Zustimmung, als sie vor einer wirklichkeitsfremden Erziehungseuphorie warnen, die bei manchem in der Jugendstrafjustiz tätigen Sozialpädagogen wie auch im Jugendstrafvollzug und in einzelnen jugendrichterlichen Entscheidungen und sogar beim BGH anzutreffen gewesen sein mag. Auch die stärkere Betonung rechtsstaatlicher Grundsätze, die mit dem Erziehungsprinzip leicht in Kollision geraten, ist zu begrüßen. Darüber hinausgehenden Tendenzen auf „Ablösung des Erziehungsstrafrechts“ ist hingegen eine klare Absage zu erteilen. Sie führen entweder zu einem Neoklassizismus, der alle seit v. Liszt erreichten Fortschritte gefährdet, durch die das Jugendstrafrecht nicht nur an Effizienz, sondern auch an Humanität gewonnen hat. Oder aber sie zielen auf eine utopische Abschaffung des Strafrechts als Mittel der Sozialkontrolle und Konfliktbewältigung hin. Ein solches Vorgehen droht den Schutz sozial schwacher Opfer zu missachten; man denke nur an die Gewalthandlungen gegenüber Kindern, Frauen oder Ausländern. Die Kriminalpolitik hat dies in den letzten Jahren erkannt und die Opferrechte im Strafverfahren Schritt für Schritt gestärkt. Diese Schritte sind im Grundsatz zu begrüßen, aber auch über die greifbaren Belange des durch die Tat konkret Verletzten hinaus muss das Opfer im Jugendstrafrecht Berücksichtigung finden. Die Verbrechensfurcht in der Bevölkerung darf trotz ihrer nachweisbaren Übersteigerung nicht als bloßer „Störfaktor moderner Kriminalpolitik“ abgetan werden.238
134Es bietet sich an, für eine Reformierung des Jugendstrafrechts am Erziehungsgedanken anzusetzen, und zwar einem Erziehungsgedanken ohne spezifisch pädagogischen Inhalt, sondern verstanden als Gebot einer individualisierenden Sanktionsauswahl, bei der sich das Gericht nicht allein von der Logik der sühnenden Strafe und dem damit eng verknüpften Konzept der positiven Generalprävention leiten lässt, sondern aus dem Katalog der jugendstrafrechtlichen Sanktionen vorrangig erzieherische Einwirkungsmöglichkeiten prüft, die im konkreten Einzelfall für das Ziel der Legalbewährung des jungen Straftäters guten Erfolg versprechen. Der „Erziehungsgedanke“ bezeichnet damit zugleich eine „Absatzbewegung“ vom Spannungspol der klassischen Sühnestrafe und eröffnet auf diesem Weg das Spannungsverhältnis zwischen den Gegenpolen von „Erziehung“ und „Strafe“, das das Jugendstrafrecht heute maßgeblich prägt (s. zuvor Rn. 131 ff.).239
135Historisch gesehen mag dieses Bild, das „Erziehung“ als Gegenpol zur sühnenden Strafe beschreibt und das jugendstrafrechtliche Spannungsverhältnis aus einer Absatzbewegung vom Pol der Strafe nach dem Konzept „Erziehung statt Strafe“ entwickelt, nicht unmittelbar nachweisbar sein, denn der „Erziehungsgedanke“ diente in den Anfängen der Jugendgerichtsbewegung auch als „Kompromissformel“, um zwischen der klassischen Strafrechtsschule mit ihrem Leitbild der Vergeltungsstrafe und der modernen Strafrechtsschule nach Franz v. Liszt mit ihrer auf Individualprävention abzielenden Zweckstrafe zu vermitteln.240 Der Kompromiss gelang deswegen, weil der Erziehungsbegriff in den Anfängen des letzten Jahrhunderts schwer am Ballast der zeitgenössischen Pädagogik trug, die nicht das Prinzip „Erziehung statt Strafe“, sondern den Grundsatz der „Erziehung durch Strafe“ propagierte. Das machte es der modernen Strafrechtsschule leicht, Erziehungsgedanke und absolute Strafzwecke in eins zu setzen und so Vergeltungs- und Sühneelementen in ihr individualpräventives Verständnis von Strafe hineinzuinterpretieren.241 Aus der ursprünglich mit dem Erziehungsgedanken verfolgten Idee, Erziehung als eine Absatzbewegung von der Strafe, als ein „antipunitives“ Programm zu entwickeln, wurde damit ein Erziehungskonzept, das eher der Strafe nahestand. Die Ideen Erziehung und Strafe wurden dadurch nahezu austauschbar.
136Fruchtbarer für ein wirkungsvolles Jugendstrafrecht erscheint uns aber der hier vertretene „Erziehungsbegriff“, der die Notwendigkeit einer flexiblen, individualisierenden Sanktion betont und die Jugendgerichte anleitet, sich für die Auswahl der angemessenen Sanktion bewusst die Spannungen zwischen den Gegenpolen „Erziehung“ und „Strafe“ zunutze zu machen. Im Einzelnen gelten dabei folgende (nicht abschließende) Leitlinien: Auf Straftaten Jugendlicher ist möglichst rasch mit dem breit gefächerten Instrumentarium des Jugendstrafrechts zu reagieren, ohne dass zugleich überzogene Erwartungen an spezialpräventive Erfolge mittels der einen oder anderen Maßnahme gesetzt werden sollten. In vielen Fällen wird es als erzieherisch sinnvolles Programm durchaus genügen, dem Jugendlichen ein deutliches Zeichen zu setzen, dass die Gemeinschaft keinerlei Straftaten toleriert. Diese Missbilligung kann auch in Form der Einstellungen gegen bestimmte „Gegenleistungen“ gem. §§ 45 II, III JGG erfolgen. Die völlig folgenlose Einstellung gem. § 45 I JGG sollte allerdings auf die Ersttäter mit geringfügigen Delikten beschränkt bleiben. Neoklassizistischen Forderungen nach mehr Vergeltung und damit mehr strafenden Elementen im Jugendstrafrecht sind abzulehnen. Sie verzerren das Spannungsverhältnis zwischen den Polen einseitig in die Richtung des Strafpols, ohne dass dies kriminalpräventiven Gewinn versprechen würde. Erziehung und Strafe sind einander entgegengesetzte, damit aber auch voneinander nicht zu trennende Pole eines Spannungsfeldes, in dem für jeden Einzelfall unter Ausschreiten der Möglichkeiten des gesamten Spannungsfeldes eine vermittelnde, individualisierende Sanktionslösung gefunden werden muss. Erziehung und Strafe können nicht in eins gesetzt, aber auch nicht völlig losgelöst voneinander betrachtet werden, so wie dies z. T. im Zuge der Schaffung eines 2. JGGÄndG aus den Kreisen der DVJJ vorgeschlagen wurde.242 Vielmehr bleibt es immer bei einem Neben- und Gegeneinander von Strafe und Erziehung im gesamten Jugendstrafrecht, ungeachtet bzw. wegen der sich daraus ergebenden unvermeidlichen Spannungen.
137Auch die folgende Darstellung geht von diesem untrennbaren Miteinander- bzw. Gegeneinanderwirken der beiden Prinzipien Erziehung und Strafe aus, weil wir eine ausgewogene Vermittlung zwischen den beiden Idealpolen im Jugendstrafrecht für möglich und kriminalpolitisch richtig halten.243 Trotz steigender Jugendkriminalität ist eine umfassende Verschärfung des JGG nicht indiziert, weil bereits jetzt ein breit gefächertes Sanktionsarsenal existiert, bis hin zur 10-jährigen Jugendstrafe für Jugendliche. Seit Oktober 2012 kann bei Heranwachsenden für Mord bei besonderer Schwere der Schuld sogar eine 15-jährige Jugendstrafe verhängt werden (§ 105 III S. 2 JGG). Jedoch ist sehr zweifelhaft, ob es für eine solche exzessive Erhöhung der bisherigen Strafobergrenzen tatsächlich Bedarf gab,244 zumal die Gewaltbereitschaft junger Menschen in den letzten Jahren nicht oder allenfalls leicht zugenommen hat, sondern vielmehr nur die die mediale Vermarktung von Gewaltkriminalität aggressiver geworden ist.245 Schwere Jugendkriminalität hätte also auch mit den bereits zuvor vorhandenen Mitteln im Sanktionskatalog des JGG wirksam bekämpft werden können. Selbst bei den Ausschreitungen gegenüber Ausländern und anderen Minderheiten bedarf es keiner erhöhten Strafrahmen, vielmehr muss das bestehende Jugendstrafrecht nur angemessen angewandt werden.246 Es bedarf daher auch keiner echten Reform des Jugendstrafrechts in seiner geltenden Fassung, sondern vielmehr staatlicher finanzieller Unterstützung, um die Anwendung desselben in seiner gesamten Bandbreite zu ermöglichen.247 Bei sehr jungen Intensivtätern darf etwa die Möglichkeit der Anordnung von Heimerziehung gem. § 12 Nr. 2 JGG, der Teilnahme an sozialen Trainingskursen oder an einem Täter-Opfer-Ausgleich nicht durch das nahezu gänzliche Fehlen geeigneter Institutionen und Angebote der Jugendhilfe konterkariert werden. Die immer wieder geforderte Abkehr von der jugendstrafrechtlichen Einheitsstrafe hin zu einem Erwachsenenstrafrecht, das für Jugendliche nur besondere Schuldminderungsgründe oder milde Strafrahmenkataloge unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Entwicklungsstandes bereit hält,248 bleibt abzulehnen. Zwar haben eine Reihe europäischer Länder und die USA diesen Weg eingeschlagen, aber man darf nicht vergessen, dass das deutsche Jugendstrafrecht gerade wegen seines sehr differenzierten Umgangs mit Jugendlichen für andere Rechtsordnungen eine Vorbildfunktion übernommen hat und in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung auch an internationalen Standards gemessen werden kann. Die vorschnelle Abkehr vom Erziehungsgedanken vermag diese erzielten Erfolge schnell zunichte zu machen.