Читать книгу Jugendstrafrecht - Sabine Swoboda - Страница 45
3.Von der Resignation zur modernen punitiven Kriminalpolitik
Оглавление123Der Abbau der repressiven, u. U. zu sehr am Strafgedanken orientierten Sanktionen zu Gunsten einer eher erzieherischen Behandlung junger Straftäter ohne Freiheitsentzug ist jahrzehntelang nahezu einhellig begrüßt worden. Erst in den 80er und 90er Jahren mehrten sich die Einwände gegen den Erziehungsgedanken. Diese Kritik hat anfänglich ihre Schubkraft im Wesentlichen aus der sog. Evaluationsforschung erhalten, die sich mit den Ergebnissen der bisherigen Erziehungsprogramme beschäftigt und die in dem niederschmetternden Fazit „nothing works“ gipfelt.207 Eine Reihe an Untersuchungen belegte eindrucksvoll, dass die vorhandenen Sanktionsalternativen nur geringen Effekt auf die Legalbewährung und auf die Entwicklung krimineller Karrieren hatten.208 Strafrechtliche Sanktionen zeigten sogar weit mehr Wirkung, wenn es darum ging, kriminelle Karrieren auszulösen oder zu stabilisieren, anstatt dass sie zum Ausstieg aus der Kriminalität führten. Von neuen Straftaten scheint weniger die Sanktionshärte als allenfalls die Sanktionswahrscheinlichkeit abzuhalten. In den 90er Jahren wurde die Kritik an den Erziehungsmodellen grundsätzlicherer Natur. Nach Verblassen des sog. Wohlfahrtsmodells besann man sich erneut auf das sog. Gerechtigkeitsmodell. Darüber, wie dieses ausgestaltet werden müsse, bestand allerdings keine Einigkeit.
124a) Der sog. Neoklassizismus plädierte für eine stärkere (Rück-)Anpassung an das (Erwachsenen-)Strafrecht,209 z. B. in Form der Wiedereinführung kurzfristiger Freiheitsstrafen. In den skandinavischen Ländern sowie in einigen Staaten der USA aber auch in England zeigt sich diese Entwicklung besonders stark. Jugendliche waren nicht zu behandeln, sondern zur Verantwortung zu ziehen (sog. responsibilisation).210 Zunehmende Bedeutung erlangt hierbei auch im Jugendstrafrecht die „positive Generalprävention“, d. h. die Stärkung der Rechtstreue der Bevölkerung.211 Andere hatten mehr die abschreckende Generalprävention im Auge und wollten im Anschluss an postmoderne Kriminalitätstheorien212 die „Kosten“ (Bestrafungsrisiko) der Begehung strafbarer Handlungen erhöhen, um dadurch den Jugendlichen von diesen abzuhalten. Ganz im Sinne einer solchen Renaissance strafrechtlicher Konzepte213 wurden Ende der 90er Jahre verschiedene Gesetzesvorschläge präsentiert, die das Jugendstrafrecht verschärfen wollten, z. B. durch Senkung des Strafmündigkeitsalters auf 12 Jahre, durch verstärkte Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auf Heranwachsende und durch vermehrte Anordnung der geschlossenen Heimunterbringung.214
125Daneben wurde bei der Verbrechensbekämpfung in besonders starkem Maße auf eine schlagkräftige Polizei gesetzt.215 Das bekannteste Beispiel war die Politik der „Nulltoleranz“ als Weg der Kriminalitätsbekämpfung in New York. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Bevölkerung gerade unter der kleineren Kriminalität besonders leidet und dieser Kriminalitätssektor die allgemeine Verbrechensfurcht nachhaltig begünstigt, wurden auch kleinste Vergehen und Ordnungsverstöße offensiv ermittelt und rigide geahndet. Wegbereiter dieses Vorgehens war das Gedankengut der sog. „new realists“,216 wonach die Kriminalitätsbekämpfung nicht bei den gesellschaftlich bedingten Ursachen anzusetzen hat, sondern sich auf die bloße Unterdrückung des schädlichen Verhaltens beschränken soll. Schon bei den ersten Zerfallserscheinungen in einem Stadtviertel („broken window“217) müsse offensiv und schnell ermittelt werden (ständige Polizeikontrollen, Überprüfungen etc.). Es gab Ansätze, das „Nulltoleranzkonzept“ auf deutsche Städte zu übertragen.218 Eine vollständige Nachahmung kam allerdings nicht in Betracht. Das Prinzip der „zero tolerance“ widersprach schon damals dem in unserer Verfahrenswirklichkeit allein schon aus Kapazitätsgründen gewichtigen Opportunitätsgrundsatz und es erschien auch im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes problematisch. „Zero tolerance“ skandalisierte den Normverstoß an sich, gleich welcher Schwere oder tatsächlichen Strafwürdigkeit. Die Erkenntnis von der Ubiquität der Jugendkriminalität bleibt außer Acht. Zudem setzte das anglo-amerikanische Recht in starkem Maß auf die Bloßstellung des Täters mit generalpräventiver Wirkung, z. B. Öffentlichmachen der Verhandlungen oder Bekanntgabe des Namens eines Verurteilten. Beide Zielsetzungen sind dem deutschen Strafprozess fremd und laufen Sinn und Zweck der §§ 48, 97 f. JGG sowie den Regelungen des BZRG zuwider.219
126Die angloamerikanische Politik der Kriminalprävention durch „Null-Toleranz“ hatte auch andernorts im europäischen Raum Nachahmung gefunden. In Frankreich führte ein explosiver Anstieg von Jugendkriminalität vor allem im Bereich der Gewaltdelikte im Jahr 2002 zur Verabschiedung der „loi Perben“. Dieses Reformgesetz ermöglichte erzieherische Maßnahmen schon gegen Kinder ab 10 Jahren und die geschlossene Unterbringung von Minderjährigen ab 13 Jahren, die sogar in Form einer Bewährungsauflage ohne Höchstfristen angeordnet werden kann. Ferner eröffnete das Gesetz die Möglichkeit, Verstöße gegen Auflagen während einer Heimunterbringung bzw. bei fortbestehender Anordnung der richterlichen Kontrolle in bestimmten Fällen durch Haft zu ahnden. Es erleichterte zudem die vorläufige Festnahme von Kindern unter 13 Jahren und lockerte das durch den Erziehungsgedanken begründete Verbot von Schnellverfahren gegen Minderjährige auf, wobei dieses aber schon zuvor durch mehrere Gesetzesänderungen ausgehöhlt worden war. Das Gesetz schwächte zudem die Stellung der Jugendrichter, denen oft zu große Milde oder Willkür in der Handhabung ihres Ermessensspielraumes bei der Anklageerhebung vorgeworfen wurde. Die Reform, insbesondere die teilweise Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze für Kinder von 13 auf 10 Jahre, stieß in Frankreich gerade bei Praktikern auf heftige Kritik. Der Gesetzgeber, der die „loi Perben“ im Schnellverfahren erließ, gab aber den durch die Medien geschürten Kriminalitätsängsten der Bevölkerung den Vorzug. Auffällig war an der Reform auch, dass die Verschärfung der Haftmöglichkeiten nicht zugleich mit einer vermehrt pädagogischen Ausgestaltung des Strafvollzugs einhergeht. Stattdessen wurde nur dafür Sorge getragen, dass kindliche und jugendliche Häftlinge in den Haftanstalten von den Erwachsenen weitgehend isoliert werden. Für den Polizeigewahrsam, der immerhin bis zu 12 Stunden und zu Ermittlungszwecken im Einzelfall sogar länger dauern kann, gilt aber nicht einmal dies. Damit droht der Repressionsgedanke in Frankreich die Idee einer Erziehung und Besserung straffällig gewordener Kinder und Jugendlicher durch die Prinzipien der Abschreckung und Vergeltung zu ersetzen.220
127Nach diesen punitiven Entwicklungen der 90er Jahre gibt es aber spätestens seit 2010 wieder eine Rückbesinnung auf erzieherisch orientierte, moderate Sanktionierungen, zu frühen Verhaltensinterventionen bei Risikopersonen im Sinne der früheren Jugendwohlfahrtsmodelle und zu Instrumenten von restorative justice.221
b) Eine viktimologische Grundausrichtung fordert eine ganz andere Sichtweise auf die Kriminalität. Die Reaktionen des Staates sollen sich hiernach vorrangig an der Interessenlage des Opfers orientieren (restorative justice).222
128c) Im Gegensatz zu modernen punitiven Strategien wollen die so genannten „Abolitionisten“ kein „besseres“, sondern „gar kein Strafrecht“.223 Sie sprechen sich ausschließlich für informelle gesellschaftliche oder zivilrechtliche Lösungsansätze aus (sog. „Radical Nonintervention“224). Die generalpräventive Funktion der Strafe wird geleugnet,225 dem Erziehungsgedanken wird vorgeworfen, dass er nur den Ausbau und die Verfeinerung der strafrechtlichen Kontrolle bewirkt habe.226 Zumindest wird an Stelle des „Erziehungstopos“ ein „Negativkonzept“ gefordert, in dem das zukünftige Jugendstrafrecht vor allem durch Verzicht auf staatliche Reaktionen sowie die Garantie des rechtsstaatlichen Verfahrens gekennzeichnet sein soll.227
129d) Insgesamt wird der Erziehungsgedanke vehement kritisiert. Dass er trotz allem der Sache nach beibehalten wird228, liegt wohl an seiner geläufigen Umdeutung in einen speziellen Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips,229 in ein Gebot der Zurückhaltung und in ein „Präventionsanliegen“230. Z. T. wird er auch missverständlicherweise einseitig als Quelle dafür verstanden, dass auch der junge Straftäter ein „Recht auf Förderung“ seiner Persönlichkeitsentwicklung hat.231
130Anfang der 90er Jahre häuften sich die Vorschläge, das Erziehungsprinzip in Teilbereichen zu kappen, insbesondere bei der Jugendstrafe.232 Doch Ende der 90er Jahre gewann der Erziehungsaspekt wieder an Popularität. Seit den Jugendgerichtstagen in Regensburg (1992) und Potsdam (1995) liegt auch in der wissenschaftlichen Diskussion die Betonung wieder darauf, dass das vielgeschmähte Erziehungsprinzip – dem mitunter sogar vorgeworfen wurde, es sei eine „Strafe für die Jugend“ – unverzichtbar ist, zumal eine Resozialisierung notwendigerweise auf einem erzieherischen Prozess aufbaut. Zumindest wird es gebraucht, um die von einer breiten Öffentlichkeit geforderte härtere Kriminalpolitik abzuwehren. Der Erziehungsgedanke umfasst die moderne Idee einer individualisierenden, jugendadäquaten Intervention. Er ermöglicht ein zurückhaltendes Strafrecht, das anderen Formen der Problembewältigung den Vorrang einräumt, den Tatausgleich voranstellt und dem gefährdeten Jugendlichen mehr bietet als nur Strafhärte.233
131e) Nur wie der Erziehungsgedanke umgesetzt werden soll, darüber besteht keine Einigkeit. Es gab Forderungen nach einer „Zustimmungsbedürftigkeit“ seitens des Beschuldigten zu allen Weisungen, nach einer Ersetzung der Auflagen durch sog. Verpflichtungen, nach Abschaffung des Jugendarrests, nach ersatzloser Streichung der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen und einer Herabsenkung der Mindestjugendstrafe. All das hat sich aber nicht durchgesetzt.
132In ihren Vorschlägen für ein 2. JGGÄndG aus dem Jahr 2001 hatte die zweite Kommission der DVJJ234 noch u. a. die Einbeziehung der Heranwachsenden ins Jugendstrafrecht als Regelfall gefordert, außerdem die teilweise Einbeziehung junger Erwachsener im Alter von 21 bis 24 in das Jugendstrafrecht, die Beschränkung jugendstrafrechtlicher Reaktionen auf erhebliche Straftaten und die Abschaffung der Zuchtmittelkategorie. Diese Vorschläge fanden kein politisches Gehör. Gleiches gilt für das Ziel, die Orientierung des Jugendstrafrechts an der aus Anlass der Straftat erkennbar gewordenen Erziehungsbedürftigkeit zu beseitigen und stattdessen zu einer Orientierung der Rechtsfolgenbestimmung an der Tat und der verwirkten Tatschuld zurückzukehren, sowie für die Forderung, freiheitsentziehende Maßnahmen für 14- und 15-Jährige auszuschließen, sofern nicht vorsätzliche Straftaten gegen das Leben oder ein anderes schweres Gewaltverbrechen abzuurteilen sind.235 Auf dem 64. DJT wurde aber das Erziehungsprinzip als Leitgedanke des Jugendstrafrechts mit großer Mehrheit gegen die massiven Angriffe seiner Kritiker verteidigt,236 die statt „Erziehungsideen“ ein tatproportionales Jugendstrafrecht im Sinne eines in der Sanktionsschärfe stark abgemilderten Erwachsenenstrafrechts gefordert hatten. Der Gesetzgeber griff dies auf und etablierte den Erziehungsgedanken ausdrücklich in § 2 I S. 2 JGG.