Читать книгу Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band - Sascha Behringer - Страница 10

Prolog

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Der Tritt ließ eine Welle von Schmerz aufbranden. Sie krümmte sich und schnappte nach Luft.

Dennoch lächelte sie. Immer die gleiche Stelle.

Ihre Handflächen betasteten den vorgewölbten Nabel und die feinen silbrigen Linien in der gedehnten Haut. Den Blick auf die Kugel des Bauches gesenkt, versuchte sie, sich das Baby darin vorzustellen. Da, wieder ein Tritt. Einen Moment konnte sie den winzigen Fuß fühlen.

Dieser Leib gebar ein Kind. War sie nicht gestern noch selbst ein Kind gewesen? Mit einer Hoffnung, groß wie ein Meer?

Der Geruch sibirischer Zedern strömte durch das offene Fenster, vermengt mit dem von Salbei. Die Alten sagten, in der Taiga würde der Mensch neu geboren. Die Endlosigkeit des Waldes ginge auf den über, der sich ihm anvertraute. War das so? Heute, wo selbst dieses uralte Baummeer schrumpfte?

Nadeschda hatte ihr das Häuschen für ein Wochenende überlassen. Ausruhen sollte sie und Kraft sammeln für die Geburt. Alles hier war so gewohnt wie vertraut: die dunklen, aus Bohlen gefügten Wände, die bemalten Fensterläden und der mit Holzkohle beheizte Samowar in der Ecke. Und die dicke Matrjoschka auf der Kommode, Spielzeug und Fruchtbarkeitssymbol in einem.

Behaglich wippte sie im Schaukelstuhl vor dem Fenster. Langsam breitete sich eine Wolkendecke über die Taiga, der Sturm krümmte die Kiefern und ließ die Haustür im Schloss hin- und herschlagen …

Sie erwachte aus dem Dämmerschlaf, sanft trommelte der Regen gegen die Scheiben. Draußen wirkte alles verschwommen, der Wind hatte nachgelassen.

Sie stand auf, streckte sich, drückte die Hände ins Kreuz und ging ein paar Schritte.

Wie die Dielen knarrten!

Mit vorsichtigem Blasen überredete sie das Feuer im Herd. Endlich begann es zu knistern, wärmte die Kascha, ihr geliebtes Kindheitsgericht. Sie goss Milch über die klebrige Buchweizengrütze.

Nach dem Essen legte sie sich wieder in den Stuhl, deckte sich zu, stieß sich ein wenig vom Boden ab und ließ sich vom Schaukeln einlullen. Die Bewegungen wurden kleiner, schließlich stand der Stuhl. Reglos lag sie da, schaute durch das Fensterchen ins fließende Grau.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Tiere des Waldes. Eine massige Bärin mit kleinen Mischkas, eine Rehmutter mit ihrem Kitz. Wölfe mit Jungen. Ein Luchs.

So einfach alles, dachte sie. Die sorgten für die Arterhaltung, nach irgendeinem genetischen Programm. Und sie? Hatte sie etwas Widernatürliches getan? Anfangs hatte sie nicht weiter nachgedacht, es schien zu leicht. Schwangere Studentinnen waren heute normal, sie hatte Zeit zum Lesen und Lernen. Neun Monate Zeit, bevor der Vorhang aufgehen würde für ihr richtiges Leben. Sie endlich wegkonnte, weit weg.

Wie billig sie war. Folgte einem Bündel Geldscheine wie irgendein Flittchen. Andere verdienten an ihrer Einfältigkeit. Skrupellose Anwälte und widerliche Aufsteiger, wie sie dieses Land zahlreich hervorgebracht hatte.

Ihr Menschenjunges schlug einen Purzelbaum nach dem nächsten. War es ein Junge? Nicht einmal das hatte man ihr gesagt. Sie sollte keine Beziehung aufbauen, hieß es in der Klinik. Sich keinesfalls auf ihn freuen, das würde sie nach der Geburt nur schmerzen.

Sie tippte mit dem Finger auf die Bauchkugel und prompt kam die Antwort. Wie kräftig der Kleine war! Du wohnst in mir, dachte sie, du hörst mein Herz schlagen, du bist mein Häschen.

Die Melodie eines alten russischen Kinderliedes schien plötzlich im Raum zu schweben, sie stand auf, ging ein paar Schritte, suchte nach den ersten Worten.

Allmählich fielen sie ihr ein, sie summte. Sang kaum hörbar für dies namenlose Menschlein, für den kleinen Fremden in ihr. Sacht tanzte das Lied immer weiter mit ihr durch die Stube. Die Mutter hatte es ihr gesungen, wenn sie Angst gehabt hatte:

Im Walde steht ein Tannenbaum

im immergrünen Kleid,

ist schlank und lieblich anzuschaun

zu jeder Jahreszeit.

Der Sturm singt dir ein Wiegenlied:

„Schlaf, Jolotschka, ei ei!“

Und deckt mit Schnee und Eis dich zu,

dass es schön warm dir sei …

Ein kleines Häschen hat vor Angst

sich unter dir versteckt,

der böse Wolf, der lief vorbei

und hat es nicht entdeckt …

Wie ging das Lied weiter? Sie hatte es vergessen. Tränen liefen über ihre Wangen, brannten auf der Haut. Sie rollte sich zusammen. Für diesen Winzling war sie das Universum. Er wusste nicht, dass fremde Menschen kommen und ihn holen würden.

Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band

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