Читать книгу Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band - Sascha Behringer - Страница 15
V. Im Zickzack durch die Stadt
ОглавлениеSeine Zeit erzeugte am Morgen ein Computer, seine Irrwege wies ihm das Programm.
- Sascha Behringer -
Sunja zog den Stick aus dem Computer und legte ihn in die Kiste zurück. Schon drei viertel vier. Sie war immer noch verärgert. Hätte die Staatsanwältin heute auf das überflüssige Treffen verzichtet, hätte sie gleich in dem grünen Außenbezirk bleiben können und enorm viel Zeit gespart. Jetzt musste sie erneut in den Südosten der Stadt fahren, um Julius Dörfner, den Exfreund der Ermordeten, zu befragen. Mit dem Nachbarn Herrn Tienemann wollte sie auch noch einmal allein sprechen, ohne die Bewachung durch seine Ehefrau. Auch an Ramser hatte sie Fragen. Wie sollte sie das nur schaffen? Sie konnte ja nicht ständig hin und her fahren.
Es dauerte ewig, bis der Computer herunterfuhr. Leider hatte Jana Weitlingers USB-Stick seine Geheimnisse für sich behalten, alle Daten darauf waren passwortgeschützt.
Auf dem Flur traf sie ihren Kollegen HP, der augenblicklich sein charmantestes Lächeln aufsetzte. Trotzdem sah er nach dem nächtlichen Einsatz in Brandenburg so müde aus, wie sie sich fühlte. Hans-Peter Große war vierunddreißig, trug Elvis-Tolle, einen Dreitagebart und war immer nach der neuesten Mode gekleidet. Seit zehn Jahren arbeitete er am LKA in ihrer Abteilung und konnte es einfach nicht lassen, ihr den Hof zu machen. Sie waren deshalb schon öfter aneinandergeraten. Fachlich dagegen schätzte sie ihn als gründlichen Ermittler.
HP schaute ihr in die Augen. „Hey, Sunja, ich bin jetzt mit den Raubüberfällen durch und stehe dir vollkommen zur Verfügung. Hab am Nachmittag nichts vor … Übrigens: Auch heute Abend hätte ich noch Zeit für dich!“ Er lächelte. „Na, was meinst du?“
„Was das Ausgehen betrifft, ich dachte, das hätten wir geklärt“, gab sie zurück. „Bitte, gib es endlich auf, ja? Aber es wäre nett, wenn du jetzt mitkommst. Ich muss zu einer Befragung.“
„Gern, ich hol nur meine Jacke.“
Ihr Kollege hielt die Haustür auf. „Hier muss es sein.“ Er zeigte auf ein Klingelschild mit drei Namen. Darunter prangte ein JD.
Im dritten Stock öffnete ein blutjunges Mädchen in T-Shirt und kurzem Höschen.
„Wohnt hier ein Julius Dörfner?“, fragte Sunja.
„Ja, warten Sie, ich guck mal, ob er jemanden sprechen möchte.“
Sunja sah HP vieldeutig an. Sie warteten und betrachteten ein Plakat neben der Eingangstür. Verhalten bei Hausdurchsuchungen, stand da.
Die Minderjährige kam zurück. „Er will Sie nicht sprechen.“
Sunja zählte innerlich bis drei. „Junge Frau“, setzte sie an, „wir sind …“
In diesem Moment steckte ein junger Mann den Kopf aus der Zimmertür, durch die das Mädchen zuvor verschwunden war. „Wenn Sie keinen Haftbefehl haben, können Sie gleich wieder gehen. Ich kenne meine Rechte.“
Das Mädchen sah hilflos zwischen ihm und den Polizisten hin und her. „Er meint es nicht so, das ist nur wegen Jana …“
Sunja zückte das Handy, sie wandten sich zum Gehen.
„Warten Sie!“, ertönte es plötzlich in ihrem Rücken. „Was soll’s. Kommen Sie rein.“
HP ging in die Küche, um die Personalien der anderen Bewohner aufzunehmen, Sunja betrat Dörfners Zimmer und stellte sich vor.
An der Tür des Studenten klebte ein Plakat mit chemischen Formeln. An einem Bügel am Kleiderschrank hing ein Neoprenanzug, der noch tropfte. Das Wasser war teilweise in die nackten Dielen eingezogen. Auf dem Schreibtisch türmten sich Bücherstapel.
Julius Dörfner wirkte auf sie wie der Typ Mann, der braun gebrannt mit einem Surfbrett unter dem Arm und einem barbusigen Mädchen an der Hand am Strand entlangstolzierte. Im Zimmer roch es nach Gras und Zigaretten. Eine leere Weinflasche und eine beinahe abgebrannte Kerze zierten das Fensterbrett. Keine Vorhänge.
„Herr Dörfner, kennen Sie eine Jana Weitlinger?“
Dörfner nickte. „Ich weiß sogar, dass sie tot ist.“
„Woher?“
„Martha hat es mir erzählt. Mit der wohnt … wohnte sie zusammen. Sie hat mich angerufen.“
„Hatte Jana in der Zeit vor ihrem Tod eine Beziehung, von der Sie wissen?“
„Ja, ähm, nein. Nicht mit jemand anderem. Wir hatten uns gerade wieder angenähert in den letzten Wochen … also, ich hab gehofft …“
„Sie wissen also nichts von einem älteren Mann aus Hessenwinkel, der Jana Avancen gemacht hat?“
„Sie stand nicht auf alte Knacker!“ Julius nahm Blättchen, Filter und Tabak aus einer Schublade. Auf das Drehen seiner Zigarette konzentriert, sagte er: „Ich weiß nicht, was Sie hier wollen. Jana ist tot. Aber ich hab damit nichts zu tun.“
„Wo waren Sie denn gestern zwischen zwölf und fünfzehn Uhr?“
„Im Labor. Ganz brav.“ Dörfner lachte auf. „Fragen Sie meinen Prof. Jana hat immer gesagt, ich soll meine Promotion endlich fertigbekommen und was mit meinem Leben anfangen. Tja … das hab ich jetzt befolgt.“
„Was machen Sie im Labor? Und wo ist das genau?“
Dörfner drehte mit geschickten Fingern eine Zigarette. Er ließ sich Zeit mit der Antwort.
„In Adlershof. Ich promoviere zu Phytotoxinen, Mondsamengewächsen. Das sind brasilianische Pflanzen, die von den Indianern für ihr Pfeilgift verwendet werden. Sie kennen sicher Curare? Die Frage ist, ob die Spezies als Narkotikum, als Herzmedikament oder Ähnliches in Betracht kommt.“
Sunja fiel die Äußerung von Ole Hansen ein, dass Jana sich zumindest anfangs nicht gewehrt hatte. War das endlich die Spur?
„Wann haben Sie Jana Weitlinger das letzte Mal gesehen?“
Der Student legte den Tabak in die Schublade und sah ihr fest in die Augen. „Kommissarin Löwel, richtig? Das klingt ja ziemlich gefährlich für eine Frau. Ich verstehe, es ist aufregend, so einen Verdächtigen zu haben, oder? Politisch links, staatskritisch eingestellt. Vorbestraft wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt. Wissen Sie doch sicher. Sie könnten mich jetzt einfach verhaften. Fühlt sich diese Macht toll an?“
Sunja schüttelte den Kopf. Was für ein arroganter Schnösel. Draußen hörte sie HP mit den Studentinnen lachen.
Sie entschied sich, einfach eine Weile zu schweigen. Viele Befragte ertrugen die Stille nicht.
Dörfners Grinsen fror langsam ein. „Frau Kommissarin, ich habe Jana nach wie vor geliebt. Sie können mir glauben, dass ich nie gewollt hätte, dass ihr irgendetwas zustößt. Sie hat etwas in mir gesehen. Sie hat mich herausgefordert. Ohne sie wüsste ich wahrscheinlich immer noch nicht, was ich will.“ Kam bei diesem Menschen tatsächlich ein Gefühl durch? „So, das war’s. Und jetzt sag ich nichts mehr. Nur noch zu dem Jungen: Da haben Sie definitiv am falschen Ende Witterung aufgenommen.“ Er zündete die Zigarette an, schlug die Beine übereinander und blies Sunja den Rauch ins Gesicht.
„Gibt es vielleicht einen Hinweis für mich, was das richtige Ende betrifft?“, fragte sie ironisch.
„Sorry, ich mache meine Arbeit und Sie machen Ihre, nicht wahr? Das müssen Sie schon selbst herausfinden.“
„Verdammt, ein kleines Kind wird vermisst! Und befindet sich womöglich in Lebensgefahr! Ist Ihnen das egal? Wenn Sie Informationen in einem Entführungsfall verschweigen, machen Sie sich strafbar!“
„Das wäre ja nicht das erste Mal, nicht wahr. Außerdem können Sie mich nicht zwingen, etwas zu sagen. Mein Mund gehört mir.“
„Ich hoffe nur, dass Sie nie Kinder haben werden“, zischte Sunja. „Die tun mir jetzt schon leid. Wir werden Sie zur Vernehmung aufs Revier laden.“
Julius nickte. „Wegen mir. Aber ich will mal nicht so sein. Als kleines Leckerli hab ich doch noch einen Tipp für unsere Helden von der deutschen Polizei: Fragen Sie mal Martha-Mäuschen. Die hatte nämlich am Mittwochabend ganz ordentlich Streit mit Jana.“
„Die März, ach, soll ich nicht lieber fahren und du rufst sie an?“
„HP, bitte!“ Sunja hatte den Kollegen gebeten, eine Vorladung für Dörfner zu erwirken.
HP wand sich, hin- und hergerissen zwischen der Begeisterung für seine Kollegin und der Abneigung gegenüber Frau März. Schließlich griff er zum Handy: „Ich tu das nur für dich, Sunja.“
Sie hörte den Rufton, während HP nervös auf seinem Sitz herumzappelte.
„Große hier, guten Tag …“ Er begann, der Staatsanwältin von dem Problem mit Dörfner zu berichten. „Nein, die fährt gerade, deshalb kann sie …“ Sein Mund stand offen, während er lauschte. „Nein, keine Freisprech… Doch. Aber. Nein, nicht verdächtig, aber …“ HP schluckte hörbar. Dann sah er Sunja an: „Unglaublich. Sie hat einfach aufgelegt. Mein Gott, ist die ätzend! Hättest du mal selbst angerufen …“
„Na super“, fluchte Sunja. Diese Büro-Zicke bequemte sich nun ins Wochenende und vertraute darauf, dass der Rest der Belegschaft weiterarbeitete. Mittlerweile machte auch die Presse Druck, vor allem wegen des verschwundenen Kindes. Ständig hingen Reporter vor dem Haus in Hessenwinkel und vor dem LKA herum und nervten mit Fragen. Meist fing Böttcher sie ab und gab ihnen häppchenweise Futter. Aber sie brauchten endlich Ergebnisse!
Herr Ramser stand mit seinem Rollstuhl schon in der Wohnungstür.
„Sie sind die Polizistin von gestern“, stellte er fest. „Sie rauchen zu viel!“ Mit einem knochigen Zeigefinger wies er auf Hans-Peter Große: „Und Sie kenn ich gar nicht.“ HP setzte zu einer Vorstellung an, wurde jedoch sofort unterbrochen: „Dass die Polizei mal was unternimmt, ist ja wirklich selten. Dabei ist man ja nirgendwo mehr sicher, bei den ganzen Ausländern, die die reinlassen. Da sollten Sie mal durchgreifen, die Kriminalität …“
„Herr Ramser, dürfen wir reinkommen und Ihnen ein paar Fragen stellen?“
Der Alte wackelte derart mit dem Kopf, dass Sunja belustigt dachte, dieser würde gleich abfallen: „Stellen Sie die Fragen doch hier, Frau Kommissarin! Löwel, das ist auch nicht deutsch, oder? Jüdisch?“
Sunja schloss die Augen. „Das tut nichts zur Sache. Ich möchte gern etwas über Ihren Nachbarn Herrn Tienemann wissen.“
„Kümmern Sie sich lieber um die ganzen Ausländer hier! Räumen Sie mal auf! Sie haben ihn doch gehört, den Sarrazin. Recht hat er! Was, bitte, ist mit dieser blonden Frau? Ich erkenne doch eine Russin, wenn ich sie vor mir habe …“
Sunja sah durchs Fenster Herrn Tienemann vor seinem Haus und bat HP weiterzumachen. Sie lief hinaus.
Als sie Tienemann anrief, wandte er sich abrupt weg. Sie erwischte ihn gerade noch, bevor er im Haus verschwinden konnte. Er zeigte sich überrascht, dass sie ihn noch einmal allein sprechen wollte, winkte sie aber mit säuerlicher Miene herein. Seine Frau sei ohnehin unterwegs, meinte er.
Kurz darauf saß Sunja einem Mann gegenüber, der hemmungslos schluchzte. Sie hielt ihm ein Taschentuch hin. „Herr Tienemann, wir untersuchen hier einen Mord. Sie sollten diese Angelegenheit mit Ihrer Ehefrau klären.“
Er begann wieder zu weinen. „Es war ja nicht mal eine Affäre! Und wenn, dann wäre es mehr als das gewesen … Jana war ein wunderbares Mädchen. Sie verstehen das nicht. Sie haben sie ja nicht gekannt. Eine Seele von Mensch! Und so … ganz Frau, sie war ganz Frau. Ich möchte nicht, dass Sie denken …“
„Ich denke gar nichts. Jana Weitlinger war volljährig. Können Sie uns sagen, ob Jana sich in den letzten Tagen vor dem Ereignis auffällig benommen hat?“
Tienemann sah auf. „Ja, ja. In der Tat. Das hat sie. Sie wirkte angespannt. Und vor vier oder fünf Tagen trug sie plötzlich dieses Armband. Genau dasselbe wie Ulrich Schwarz. Das mit der Katze.“
Das merkwürdige Katzenamulett. Sunja erinnerte sich.
„Ich hab sie darauf angesprochen“, fuhr Tienemann fort. „Aber sie ist wütend geworden und hat gesagt, dass ich ja wohl kaum ein Recht hätte, eifersüchtig zu sein. Und dann sagte sie etwas Eigenartiges, eher zu sich selbst. So in der Art, dass sie nur an solche kranken Typen geriete. Wie Julius. Ich kenn keinen Julius, aber ich habe es verstanden und mich zurückgezogen. Ich weiß, wann ein Kampf beendet ist.“
„Was für ein Kampf, Schätzchen?“ Frau Tienemann stand plötzlich im Türrahmen. Sie hatte tiefe Augenringe und wirkte noch ausgemergelter als gestern.
Sunja nickte Tienemann zu und verabschiedete sich.
Sieben Uhr abends. Sie standen vor dem Auto. Keine Ergebnisse. Auch HP, der den Zeugen Ramser weiter befragt hatte, hatte nichts Neues zu berichten. Sunja biss sich auf die Lippen. Die ersten achtundvierzig Stunden nach einem Mord waren die wichtigsten. „Können Verbrechen nicht wenigstens zu Beginn der Woche passieren?“, knurrte sie.
„Wollen wir nicht doch auf dem Rückweg was essen gehen?“, schlug HP vor.
Statt einer Antwort griff sie zum Mobiltelefon. Aber auch Sörensen aus der Vermisstenabteilung konnte keine Ergebnisse melden. Vormittags hatte ein Suchhund eine Spur bis zum Spielplatz verfolgt, wo Jana mit dem Kleinen innerhalb der letzten zwei bis drei Tage gewesen sein musste. Ein anderer Hund hatte die Suchmannschaft bis zum Wald geführt, aber dann die Witterung verloren. Derzeit wurde eine Suchkette gebildet, die demnächst starten sollte.
„Das ergibt alles keinen Sinn.“ Sunja sprach mehr zu der glimmenden Zigarette in ihrer Hand als zu HP. „Dörfner arbeitet in einem Labor mit Pfeilgiften. Ich muss mit Ole sprechen, der soll die Leiche auf Gift untersuchen. Martha Junik hatte Streit mit Jana. Tienemann eine wie auch immer geartete Affäre mit ihr, wobei sich das vielleicht auch nur in seiner Fantasie abgespielt hat.“
Sie beschlossen zurückzufahren und stiegen ins Auto.
Wenige Minuten später summte ihr Handy, sie bog in eine Seitenstraße und stoppte, um den Anruf entgegenzunehmen.
„Du hattest versprochen, zu meinem Geburtstag zu kommen!“
„Entschuldige, Mama, alles Gute für dich! Herzlichen Glückwunsch. Ich hatte heute so viel um die Ohren, tut mir echt …“
„Das sagst du immer“, plärrte es aus dem Apparat.
Sie wandte sich zu HP und zog die Schultern hoch.
„Mama, es gab einen Mord und ein Kind wird vermisst.“
„Ja, ich weiß.“ Die Theatralik war nicht zu überhören. „Ich vermisse mein Kind auch. Soll ich die Polizei anrufen, um dich sehen zu können?“
„Ich komme noch schnell bei dir vorbei, ja? Oder willst du schon schlafen?“
„Wie könnte ich denn? Komm nur. Ich weiß ja gar nicht, ob ich dich noch erkenne.“
Sunja legte auf und rieb sich die pochenden Schläfen. Den ganzen Tag war sie im Zickzack durch die Stadt gefahren. Und jetzt sollte sie zu später Stunde Geburtstag mit einer jammernden Mutter feiern. Da wäre ihr ja fast ein gemeinsames Abendessen mit HP noch lieber, gegen dessen Aufdringlichkeit konnte sie sich wenigstens erfolgreich zur Wehr setzen.
Sie lud ihren Kollegen an einem Taxistand ab und fuhr Richtung Weißensee weiter.
Als sie gegen halb neun endlich in der Schönstraße aus dem Auto stieg, tönte das Handy erneut. „Weier, ich bin der Führer der Hundestaffel. Tut mir leid, Frau Löwel, sicher sind Sie schon im Feierabend.“ Die Stimme des Mannes klang müde.
„Ganz und gar nicht, schießen Sie los.“
„Einer der Hunde hat angeschlagen. Er hat eine Spur.“
Sie lauschte gespannt, doch am anderen Ende blieb es still. „Gut! Und?“
Weiers Schweigen war beunruhigend. Endlich sagte er: „Wissen Sie, hin und wieder irren sich die Hunde auch.“
„Okay, aber …“
„Hören Sie, es ist keiner der Suchhunde. Es ist der Leichenhund. Er bellt nur, wenn er einen Toten wittert …“