Читать книгу Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band - Sascha Behringer - Страница 20
X. Unter Kollegen
ОглавлениеGreife nicht in ein fallendes Messer!
- Sizilianische Bauernregel -
Neukölln, Warthestraße. Sunja parkte vor dem Mietshaus, in dem sich Preußers Wohnung befand. Vor zehn Minuten sei er ohne Kind zurückgekehrt, berichtete René, der das Haus die ganze Zeit observiert hatte.
Draußen zog der schwarze Block vorbei. Transparente, Kapuzenpullis, Geschrei. Ein dicker Mann lehnte sich mit dem Rücken an die Seitenscheibe des Wagens. Die Show bot ihnen zumindest eine Abwechslung.
Zu dritt hockten sie im Auto, die Haustür im Blick. Die Sonne knallte aufs Autodach. HP, der hinten saß, knabberte Kürbiskerne. Die leeren Schalen warf er zurück in die Packung.
„Puh! Sauna gratis!“, stöhnte er und öffnete einen weiteren Knopf seines Satinhemdes. „Also, wenn das so weitergeht, reiche ich bald Urlaub ein und fahre in die Arktis. Hast du Wasser dabei?“
Sunja reichte ihm eine Flasche. Dann versuchte sie, ihre Haare zu bändigen. Observationen hatte sie schon immer gehasst. So viel vergeudete Zeit! Da half nur Rauchen. Wahrscheinlich war sie als junge Polizistin so zur Kettenraucherin geworden. Ihre letzte Zigarette lag eine halbe Stunde zurück. Sie langte in die Tasche, griff nach der Packung und musste feststellen, dass sie leer war.
Der Streit mit Matthias gärte in ihr. Sie erzählte ihren Kollegen davon und wollte wissen, was diese davon hielten.
Im Rückspiegel sah sie, wie HP die Augenbrauen hob, sich am Bart kratzte und eine Grimasse zog. „Ach, nein danke“, säuselte er. „Schwangerschaftsstreifen sind ja so was von unsexy. Und die Brust sitzt dann auch nicht mehr richtig.“
Sunja verdrehte die Augen. „Dich würde ich auch nicht als Leihmutter anfragen“, gab sie trocken zurück.
„Und wenn du richtig viel Geld bekommen würdest?“, fragte René. „Sie machen es schließlich nicht umsonst.“
HP gab vor zu überlegen, riss sich aber zusammen, als er Sunjas genervtes Gesicht sah.
„Im Ernst. Ich will keine Kinder. Wir haben sowieso kein Privatleben in dem Job. Erstens fehlt mir die Zeit und zweitens die Frau. Und Kinder generell … Nee. Ich könnte mein eigenes Leben nicht mehr so führen, wie …“
Sunja unterbrach ihn: „Mann, hast du eine Meinung? Findest du es verwerflich, wenn Leute so was machen?“
„Na, ich bin wohl der Letzte, der sich darüber Gedanken macht. Ich weiß nicht. Wieso nicht? Was denkst du denn? Du bist doch die Frau …“
Sie schüttelte den Kopf.
„Und du, René?“
Ihr junger Kollege nestelte an seinem Fernglas herum und guckte angespannt aus dem Fenster.
HP lachte leise. „Ja, Sunja, jetzt hast du ihn am Haken …“
Sie verstand nicht.
„René? Im Gegensatz zu HP hast du doch Vorstellungen von Moral, oder?“
René wich ihrem Blick aus, starrte auf die Straße und biss die Kiefer zusammen. Sie hatte das deutliche Gefühl, ihm zu nahe getreten zu sein, konnte sich aber nicht erklären, womit. Sonst war er immer offen und locker. Allerdings wusste sie nicht viel über ihn, außer dass er sich gern auf Mittelalterfestivals und bei Live-Rollenspielen herumtrieb. Was soll’s, dachte sie, ließ ihn in Ruhe und drehte sich zu HP.
„Matthias meint, eine Leihmutter baut immer eine Bindung zum Kind auf. Es wäre unmenschlich, es ihr nach der Geburt wegzunehmen. Ich meine, schräg ist das schon, aber …“
„Der muss es ja wissen, der Bilderbuchpapa.“ HP spuckte Kürbiskernschalen aus dem Fenster. Plötzlich beugte er sich vor, fasste René an der Schulter und polterte: „Mann, du Feigling! Was ist schon dabei, es ihr zu sagen? Wir sind im 21. Jahrhundert angekommen. In deinem herrlichen Mittelalter wär das natürlich ein Problem gewesen, aber jetzt doch nicht mehr. Wach auf, Alter!“ Befriedigt lehnte er sich zurück und warf Sunja im Spiegel einen triumphierenden Blick zu.
Was hatten ihre beiden Kollegen da am Laufen? Sie fühlte sich wie bei einem Verhör. René saß verkrampft neben ihr. Seine braunen Locken fielen über seine Lederweste und den Beifahrersitz.
„Sollte ich irgendwas wissen?“, fragte sie.
„Wir … haben tatsächlich schon darüber nachgedacht“, begann René stockend. „Aber … noch keine Einstellung gefunden. Wahrscheinlich wollen wir eher adoptieren, als einer Frau diese Bürde …“
„Wir?“
Verwirrt sah sie ihn an.
„Mensch, Sunja!“, rief HP. „Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen!“ Er wies auf René. „Sein Macker und er. Die hätten eben auch gern Kinder.“
Einen Moment herrschte Stille.
Sunja merkte, wie sie rot wurde. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, René für schwul zu halten. Selten war ihr etwas so peinlich gewesen.
„Sorry“, murmelte sie, „aber bin ich Hellseherin? Ich hatte keine Ahnung! Hättet ihr mir ruhig bisschen eher sagen können …“
Noch bevor sie weitere Fettnäpfchen ansteuern konnte, rief HP: „Oh, wen haben wir denn da!“
In der von ihnen ins Visier genommenen Tür erschien Maria Schwarz. Sie verließ das Haus, wandte sich nach links und ging raschen Schrittes den Bürgersteig entlang. Als sie ihren Wagen fast erreicht hatte, riss Sunja die Tür auf, sprang hinaus und trat auf sie zu.
„Guten Tag! Welch eine Überraschung.“
Die Angesprochene, einen Autoschlüssel in der Hand, blieb abrupt stehen. „Was machen Sie denn hier?“, entfuhr es ihr.
„Genau das frage ich Sie“, entgegnete Sunja.
Die Anwältin sah sie an. „Ich habe Herrn Preußer besucht. Ist das verboten?“
„Sind Sie mit ihm befreundet?“
„Er ist ein Freund meines Mannes. Das sagte ich Ihnen bereits“, erwiderte sie scharf. „Er sorgt sich um Ulrich und hatte mich um eine Unterredung gebeten.“
Ein sonderbarer Begriff für ein Treffen unter Freunden, registrierte Sunja.
Laut sagte sie: „Darf ich fragen, worum es bei dieser Unterredung ging?“
„Er hat mir seine Unterstützung angeboten.“
„Inwiefern?“
„Wegen Ulrich. Besuche im Krankenhaus. Oder falls mal was am Haus … Warum fragen Sie das?“
Erneut hatte Sunja das Gefühl, die Anwältin spiele nicht mit offenen Karten. Sie sah sie direkt an.
„Worüber haben Sie noch gesprochen? Vielleicht über Pascal?“
„Was soll das?“, fuhr Frau Schwarz sie an. Sie schien ihren Fehler sofort zu bemerken und fügte freundlicher hinzu: „Verdächtigen Sie allen Ernstes mich, mein Kind versteckt zu haben, Frau Kommissarin? Reichlich absurd. Was finden Sie denn so merkwürdig daran, dass ich einen Freund der Familie besuche? Wäre es nicht sinnvoller, Sie würden Ihre Kraft darauf verwenden, Pascal zu finden, statt mir nachzuspionieren?“
„Könnte Herr Preußer etwas über den Aufenthaltsort Ihres Sohnes wissen?“
„Das hätte er mir wohl gesagt.“
„Hoffen wir’s“, entgegnete Sunja trocken, verabschiedete sich von der verdutzten Frau und steuerte auf die Haustür zu. Ihre Kollegen folgten ihr.
Sie bat HP, unten zu bleiben und die Augen offen zu halten, und betrat mit René das Treppenhaus.
Toni Preußer, ein sympathischer Mittvierziger mit sonnigem Gemüt, schien nicht im Mindesten überrascht über den Besuch der Kriminalisten. Im Plauderton schilderte er seine freundschaftliche Beziehung zu Ulrich Schwarz, erzählte, wie sie sich kennengelernt hatten, führte die Kommissare ins geräumige Wohnzimmer und bot ihnen Kaffee an. Dazu befragt, was Frau Schwarz bei ihm gewollt habe, sagte er genau dasselbe wie sie. Sunja konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Antworten abgesprochen waren.
Die Altbauwohnung musste ein Vermögen an Miete kosten. Preußer gab an, vier Zimmer zu haben und allein zu wohnen. Er sei gebürtiger Neuköllner, hätte die Wohnung schon ewig und würde niemals wegziehen.
„So eine Wohnung könnte ich mir nie wieder leisten. Alter Mietvertrag, Sie verstehen.“
René fragte nach der Toilette und verschwand im Flur.
Sunja brachte das Gespräch auf Pascal und erkundigte sich, was Preußer von der Leihmutterschaft wisse. Dieser zögerte. Erst als sie ihm versicherte, Frau Schwarz habe ihr selbst davon berichtet, begann er zu erzählen.
„Das war hart für meine Freunde. Maria wollte Kinder, von Anfang an. Denkt man nicht, wenn man sie sieht, Karrierefrau und so. Aber es stimmt. Dann die Enttäuschung. Es klappte nicht. Jahrelang. Schließlich erfuhren sie, dass es an ihr lag. Sie war am Boden zerstört, kann ich Ihnen sagen.“
„Wann war das?“
„Vor fünf Jahren ungefähr. Zuerst haben sie wegen einer Adoption überlegt. Aber das war auch nicht so einfach. Und da bekommt man ja quasi die Katze im Sack. Viele Kinder sind vorgeschädigt, alkoholkranke Eltern und so. Die beiden hatten kein anderes Thema mehr. So kam es, dass auch ich mich zunehmend damit befasste, um ihnen zur Seite stehen zu können. Dabei entdeckte ich die Möglichkeit der Leihmutterschaft und erzählte Ulrich davon. Das schlug ein wie eine Bombe. Es schien einfach die Lösung für alles zu sein! Ulrich wäre der leibliche Vater, es wäre ihr eigenes Kind, und sie hätten es von Anfang an. Er hat Maria davon erzählt. Auch sie war begeistert. Wir fanden die Idee alle klasse!“
„Und die leibliche Mutter?“
„Was meinen Sie?“
„Na ja, eine Frau trägt ein Kind aus, dann wird es ihr weggenommen. Ist das nicht …“
„Ich bitte Sie! Weggenommen – wie klingt das denn? Das geht doch an den Tatsachen vorbei. Es gibt schließlich Verträge, die Frauen werden doch nicht gezwungen! Außerdem, für viele ist es eine Möglichkeit, endlich aus der Armut herauszukommen. Sie verdienen ja nicht schlecht.“
„Ich vermute, jemand anderes verdient wesentlich besser“, entgegnete Sunja knapp.
„Natürlich. Die Agentur. Und die Klinik. Und die Leute bei allen möglichen Behörden im Herkunftsland, die man bestechen muss, damit sie die Papiere ausstellen. Klar, es gibt viele, die daran verdienen. Aber die Leihmutter eben auch.“
„Und moralisch finden Sie das in Ordnung?“
Preußer sah sie irritiert an.
„Völlig. Das Problem war nur, als Pascal geboren war, klappte es mit der Einreise nicht. Die deutsche Botschaft stellte keine Papiere aus. Weil die Mutter, also die Leihmutter, entgegen ihren Angaben doch verheiratet war. Und Leihmütter dürfen in der Ukraine nur ledige Frauen sein. Dass sie gedacht hat, sie kommt damit durch …“
„Kennen Sie die Leihmutter?“
„Natürlich nicht!“
„Wissen Sie, wie sie heißt?“
„Nein.“
„Und Familie Schwarz? Kann es sein, dass sie die Frau kennt?“
„Ausgeschlossen. Die Eltern, die das Kind bestellen, wissen nie, wer es geboren hat. Da wird vonseiten der Klinik drauf geachtet. Allerdings …“ Er legte die Stirn in Falten. „Einmal … Ulrich war ja lange in der Ukraine. Ein Jahr saß er da fest. Und wie ich ihn kenne, hat er vor Ort alles versucht, eine Ausreise möglich zu machen. Als sie zurück waren, hat er einmal eine Bemerkung gemacht über eine Galina oder Kalina, das kam mir sonderbar vor.“
„Inwiefern? Was hat er gesagt?“
„Pff! Wenn ich das noch wüsste! Ist ja ewig her.“ Preußer rieb sich das Kinn. „Er hat sie wohl getroffen, in der Ukraine. Er hat nicht direkt gesagt, dass sie die Leihmutter ist, aber mir kam das merkwürdig vor. Er ist kein Frauenheld, müssen Sie wissen. Von der Russin hat er aber nie gesprochen, wenn Maria dabei war. Ja, ich glaube, Galina hieß sie. Ich dachte damals gleich, dass die irgendwas mit Pascal zu tun haben muss.“
„Erwähnte er den Nachnamen?“
„Nein.“
Allmählich war René zu lange weg. Das musste Preußer auffallen. Doch der wirkte entspannt. Sunja hoffte inständig, dass ihr Kollege sich bei seiner Suche geschickt anstellte. Sie fragte Preußer, inwiefern er Familie Schwarz bei Pascals Einreise geholfen habe.
„Sind Sie deshalb hier?“, entgegnete er misstrauisch. „Ist das ein Verhör? Woher wissen Sie überhaupt, dass ich …“
„Von Frau Schwarz.“
Er seufzte. „Hören Sie, ich bin mir bewusst, dass diese Art, zu einem Kind zu kommen, Rechtsprobleme aufwirft. Und dass ich mich wahrscheinlich strafbar gemacht habe, indem ich das unterstützt habe. Aber was sollten die beiden denn machen? Sie können mir glauben, ich musste meinen Freunden helfen. Das war kein Zustand mehr. Ich konnte doch nicht mit ansehen, wie die vor die Hunde gehen.“
Sie beruhigte ihn. Es sei nicht ihre Absicht, die Sache zu verfolgen. Sie wolle lediglich Pascal finden und müsste dazu so viel wie möglich über die Familie wissen.
„Okay. Ich habe in dieser unerträglichen Situation für Ulrich herausgefunden, welche Leute er bestechen muss.“
„Und? Welche?“
„Beamte in der Ukraine, die Ausreisepapiere ausstellen, wenn man etwas über den Tisch schiebt. Was Ulrich mit diesen Infos angefangen hat, ist klar. Aber ich hoffe, Sie machen ihm deshalb keine Schwierigkeiten …“
In diesem Moment kam René zurück und zwinkerte ihr zu.
„Gut“, nahm sie das Gespräch wieder auf. „Nun zum eigentlichen Grund unseres Besuches, Herr Preußer. Sie hatten vor etwa eineinhalb Stunden einen kleinen Jungen bei sich, als Sie das Haus verließen. Wir wüssten gern, um welches Kind es sich dabei handelte und wo es jetzt ist.“
Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit, dass Toni Preußer in herzhaftes Lachen ausbrechen würde.
„Was?“, rief er prustend. „Sie glauben, ich habe Pascal? Ach du meine Güte! Das ist nicht Ihr Ernst!“
„Ich weiß nicht, warum Sie es komisch finden, wenn ein Kind verschwindet“, gab Sunja trocken zurück.
Sofort wurde er ernst. „Ich mache mir Sorgen um den Kleinen. Aber dass Sie ausgerechnet mich verdächtigen! Das ist nun doch …“
„Herr Preußer, welches Kind hatten Sie vorhin bei sich?“
„Den Sohn einer Freundin. Er heißt Dominik.“
„Wo ist er jetzt?“
„Bei seiner Mutter, ich habe ihn vorhin zurückgebracht.“
„Und warum haben Sie Ihrer Nachbarin dann etwas von einem Neffen erzählt?“
„Ach, daher weht der Wind! Diese … Entschuldigung, aber würden Sie gelangweilten alten Frauen jedes Detail Ihrer Lebensgeschichte preisgeben? Das ist eine Klatschtante, die über alle Bescheid wissen will und anschließend damit hausieren geht. Es macht mir Spaß, ihr Unsinn zu erzählen. Hätte ich natürlich gewusst, dass ich überwacht …“
„Wir würden dieses Kind gerne sehen“, schnitt Sunja ihm das Wort ab. „Und zwar sofort.“
„Sie vertun Ihre Zeit. Aber bitte.“ Lässig griff er zum Handy und wählte eine Nummer. „Hi, Toni hier. Ja. Bist du noch zu Hause? Dann warte bitte einen Moment. Die Polizei möchte deinen Sohn sehen.“ Wieder lachte er. „Nein, nein, nichts passiert, keine Sorge. Das werden sie dir schon erklären. Wir kommen gleich.“
Gemeinsam brachen sie auf. Die Freundin wohnte nur fünf Minuten Fußweg entfernt. Preußers Aussage bestätigte sich. Zur angegebenen Zeit hatte er auf den Sohn der Bekannten aufgepasst, weil diese einen Arzttermin hatte. Auch der Junge erzählte, dass er heute bei „Onkel Toni“ gewesen sei.
Sie gingen zum Auto zurück. Frustriert ließ sich Sunja auf den Fahrersitz fallen und kurbelte das Fenster herunter. Automatisch griff sie in die Jackentasche, bis ihr einfiel, dass die Schachtel schon vorhin leer gewesen war.
„Wieder nichts!“, fluchte sie. „Mann, wir kommen überhaupt nicht weiter! Ich hoffe, dass Pascal noch lebt …“
„Kopf hoch!“ HP tippte ihr auf die Schulter. „Schau mal hier. Kleines Geschenk für dich zum Tag der Arbeit. Von einem geduldigen Verehrer.“
Er grinste und reichte ihr eine Schachtel Zigaretten ihrer Marke.
„Nett von dir.“ Sie riss die Schachtel auf. „Wenigstens wissen wir jetzt, dass Preußer nichts mit der Entführung zu tun hat.“
„Wenn du dich da mal nicht irrst!“ Triumphierend holte René eine Plastiktüte aus der Jackentasche und hielt sie ihr vors Gesicht. „Hab ich im Zimmer neben dem Bad gefunden. Der ganze Raum war super aufgeräumt. Kein Stäubchen. Aber die hier lagen in einer Ecke auf dem Boden.“
In der Tüte waren fünf Duplo-Steine und eine Figur mit schwarzer Mütze. Es war genau solch ein kleiner Lokführer, wie Sunja ihn schon einmal gesehen hatte. Im Kinderzimmer von Pascal Schwarz.
Eifrig fuhr er fort: „Ansonsten hab ich alle Räume abgesucht. Der Junge ist dort nicht, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Aber wir können die hier zur KTU bringen. Vielleicht finden die Material von Pascal daran.“
„Gute Arbeit“, lobte Sunja. „Machst du das? Danke. Und du warst echt leise beim Suchen. Ich hab nichts gehört.“
Sie überlegten, was nun zu tun sei. HP wollte weiter nach dieser Alina suchen. Bisher wusste niemand, wie sie genau hieß und wie oder wann sie in Deutschland eingereist war. René sollte zur Kriminaltechnischen Abteilung fahren. Sunja beschloss, vor der Rückfahrt noch mal in der Vermisstenabteilung anzurufen.
Zwei von den Hunderten von Hinweisen aus der Bevölkerung schienen vielversprechend, berichtete Sörensen. Einer habe mit dem Ferienhaus im Wald zu tun, in dem Pascals Sachen gefunden worden waren. Sie hätten den Besitzer der Hütte ermittelt, zwei Kollegen waren zu ihm unterwegs.
Der andere Hinweis galt einer blonden Russin, die von einer Zeugin am Vortag auf dem S-Bahnhof Charlottenburg mit einem kleinen dunkelhaarigen Jungen gesehen worden war. Die Anruferin war sicher, dass der Junge Pascal war, sie meinte, ihn auf dem Foto wiedererkannt zu haben. Er war ihr aufgefallen, weil er weinte und Deutsch sprach, seine Begleiterin dagegen in mit Russisch vermengtem Deutsch geantwortet hatte. Darüber hatte sie sich gewundert. Die Zeugin sollte noch heute aufs Präsidium kommen. Mit ihrer Hilfe sollte ein Phantombild angefertigt werden.
Sunja bedankte sich bei Sörensen und wünschte ihm viel Erfolg.
„Schon wieder die Russin!“, rief sie. „Ich fresse einen Besen, wenn das nicht unsere Alina ist!“ Im selben Moment fiel ihr Sergej ein. Verdammt, sie musste mit dem Mann reden. Er wusste bestimmt mehr. Wenn er nicht sogar selbst in der Sache mit drinsteckte. Sie konnte doch nicht warten, bis Hollmeyer ihr irgendwelche Infos brachte! Telefonisch war er nicht zu erreichen, das hatte sie probiert. Dann musste sie diesen Sergej eben privat treffen. „Also los. An die Arbeit“, rief sie und startete den Wagen.
Allein im Büro, fuhr sie den Computer hoch und gab das Odessa in die Suchmaschine ein. Doch auf der ganzen grellbunten Website tauchte der Name Sergej nirgends auf, weder als Geschäftsführer noch als Inhaber.
So kam sie nicht weiter. Sie würde dort hinfahren. Ob sie Matthias eine Info über ihr Vorhaben hinterlassen sollte, zur Sicherheit? Nein. Schließlich ging es niemanden etwas an, was sie nach Feierabend tat. Jedem stand es frei, einen Nachtklub zu besuchen. Sie warf einen Blick auf die Website. Das Odessa öffnete heute um dreiundzwanzig Uhr.
Nachdem sie einen Haufen Kleinarbeit erledigt hatte, fuhr sie gegen acht nach Hause, wobei sie die Straßen mied, in denen die Erster-Mai-Krawalle jetzt erst so richtig losgingen.
Ihre Wohnung sah chaotisch aus. Für ihr Vorhaben war es noch viel zu früh. Den Brief ihres Vaters nahm sie in die Hand, als wäre er zerbrechlich, faltete ihn zusammen, steckte ihn in den Umschlag zurück und legte ihn zu den anderen in die Schublade. Keine Tränen jetzt, keine Aufregung. Heute Nacht brauchte sie gute Nerven.
Nach einem ausgiebigen Bad begann sie, sich in Schale zu werfen. Sie war aus der Übung. Ein weinrotes Abendkleid aus Satin, das Eleganteste, was sie besaß, streifte sie über. Dann schminkte sie sich aufwendig und bearbeitete ihre Haare so akribisch mit Gel, dass sie sich nach der Prozedur kaum selbst wiedererkannte.
Um halb elf fuhr sie los.
Sie betrat den Nachtklub, sah sich betont gelangweilt um und steuerte auf den Tresen zu. Es war noch nicht viel los, drei Paare saßen an den Tischen und unterhielten sich. Leise Musik spielte. Der Barkeeper beäugte sie neugierig. Ein fahriger Typ mit wässrigen Augen.
„Zu früh zum Tanzen, oder?“, warf sie beiläufig hin.
Er brummte zustimmend und drehte die Musik etwas lauter. Sunja bestellte einen Rotwein, nahm auf einem Barhocker Platz und ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen.
Das Licht war schummrig. Erst nach einer Weile entdeckte sie weiter hinten, am Rand der Tanzfläche, zwei Männer an einem Tisch. Einer saß mit dem Rücken zu ihr, er war breitschultrig, seine Glatze glänzte wie poliert. Doch die Ausmaße Sergejs hatte er nicht. Seinen Nachbarn sah sie im Profil, ein hageres Gesicht, Bürstenschnitt. Sein eckiges Kinn wirkte wie der Schnabel einer Krähe. Bildete sie es sich ein, oder hatte der Dünne eben gerade für den Bruchteil einer Sekunde zu ihr herübergesehen?
Ein Paar um die vierzig kam herein, wohl Stammkunden, der Barmann winkte ihnen zu. Die Frau lachte spitz, als sie an Sunja vorüberging. Eine Goldbrosche blitzte auf.
Sie bat um einen Aschenbecher, rauchte und stellte dem Barkeeper belanglose Fragen über das Odessa. Doch der antwortete einsilbig. Er war schwer aus der Reserve zu locken.
Mittlerweile war es zwölf Uhr. Immer mehr Gäste kamen. Es schienen alles Russen zu sein. Sunja fühlte sich auf ihrem Barhocker wie auf dem Präsentierteller. Männer wie Frauen sahen zu ihr herüber, schmunzelten, riefen sich etwas zu, lachten. Sie hätte die Bemerkungen gern aufgeschnappt, die offenbar ihr galten, doch von ihrem Schulrussisch war nicht mehr viel übrig.
Der Kellner, der sie neulich in den separaten Raum geführt hatte, war nirgends zu entdecken. Stattdessen bediente eine junge füllige Frau. Die ersten Paare gingen aufs Parkett.
„Noch eins?“, fragte der Barmann und deutete auf ihr leeres Glas.
Sie nickte.
„Warten Sie auf jemanden?“ Er hatte eine steile Falte auf der Stirn und seine Augen wanderten ständig umher. In unregelmäßigen Abständen schob er den Lautstärkeregler der Musikanlage nach oben. Mittlerweile dröhnten die Rhythmen ohrenbetäubend durch den Raum, der sich zunehmend füllte. Je lauter die Musik wurde, umso schummriger wurde das Licht. Die Kellnerin lief jetzt ununterbrochen mit Tabletts zwischen Tresen und Tischen hin und her.
„Ja“, erwiderte Sunja, nickte und sah sich um, als suche sie jemanden. Dann drehte sie sich dem Barmann zu. Sie musste schreien, um sich Gehör zu verschaffen.
„Vielleicht kennen Sie ihn. Er sollte längst hier sein. Sergej. Haben Sie den heute schon gesehen?“
Der Mann hinterm Tresen wandte sich ab. Wonach suchte sein unruhiger Blick?
„Haben Sie mich verstanden?“, fragte Sunja.
„Wie heißt er?“
„Sergej.“
„Nie gehört.“
Er hantierte mit Gläsern, goss Sekt ein und stellte ein Tablett bereit. Seine Nervosität war nicht zu übersehen.
Auch sie war angespannt. Durch die Tanzenden hindurch sah sie den Glatzköpfigen und den mit dem Bürstenschnitt noch immer am hinteren Tisch sitzen. Was taten die dort? Scheinbar interessierten sie sich nicht für das Geschehen ringsum, sie wirkten wie eine Dekoration. Jetzt holte der Schlanke ein Handy aus der Tasche und telefonierte.
Die Kellnerin kam, nahm das Tablett vom Tresen und wollte gehen. Der Barmann rief ihr etwas zu, sie hielt inne, ging zu ihm, die beiden tuschelten, die junge Frau nickte und verschwand.
Wieder schob der Barkeeper den Regler höher.
Selten war Sunja sich so deplatziert vorgekommen. Musik und Stimmengewirr dröhnten in ihren Ohren. Ihr Kleid war hinderlich, sie saß unbequem, hatte einen steifen Hals und merkte, wie ihr die Glieder schwer wurden. Der Wein musste stark sein. Was machte sie hier überhaupt? Sie erreichte doch nichts. Sie würde unverrichteter Dinge abziehen müssen.
Einmal wollte sie es noch versuchen. Sie sah den Barmann an. „Sergej ist so ein Großer, Breiter mit vielen Tätowierungen.“
Mittlerweile hörte sie wegen der lauten Musik ihre eigene Stimme nicht mehr.
„So sehen hier viele aus“, entgegnete er.
Langsam glitt sein Blick in die hintere Ecke in Richtung der beiden mysteriösen Männer.
Sunja schaute dorthin.
Die Männer waren verschwunden.
„Aufs Haus“, rief der Barkeeper lachend und schob ihr ein drittes Glas Rotwein hin.
Woher dieser plötzliche Sinneswandel? Sie schluckte. Irgendetwas stimmte nicht. Der Mann wirkte mit einem Mal so gelöst. Er grinste sie frech an.
„Wieso das?“, fragte sie.
„Sie tun mir leid, weil Ihr Freund nicht kommt.“
Er hatte jetzt etwas Überhebliches an sich. Sie mochte ihn nicht, aber vielleicht war nun die Gelegenheit gekommen, mit ihm zu sprechen?
„Danke! Sagen Sie, neulich war so ein älterer Kellner hier, drahtig, mit Backenbart. Kommt der heute noch? Ich glaube, der kennt Sergej …“
Was war nur mit ihr los? Sie hatte Mühe, die Worte deutlich auszusprechen und einen klaren Gedanken zu fassen. Seit wann vertrug sie keinen Wein mehr?
Es war kurz nach zwei. Eine bleierne Müdigkeit hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie wollte ins Bett. Nach diesem Glas würde sie gehen. Es hatte keinen Sinn.
Sie zündete eine Zigarette an und nahm noch einen Schluck. Ein köstlicher, herber Rotwein.
„Erlauben Sie mir ein Tänzchen, Madame? Sie sehen einsam aus.“
Sie drehte sich um. Neben ihr stand ein eleganter Mann im weißen Anzug. Er war um die fünfzig und trug ein violettes Seidenhemd unter dem Sakko. Seine spärlichen Haare waren exakt mittig gescheitelt, was ihm etwas Clowneskes verlieh.
Ihr fielen fast die Augen zu.
„Ich wollte gerade gehen“, murmelte sie.
„Sie hat nach einem Sergej gefragt“, mischte der Barmann sich lautstark ein.
„Welch ein Zufall!“, lachte der Mann vor ihr und entblößte seine strahlend weißen Zähne. „Ich bin Sergej!“
Es lag etwas Scharfes in seiner Stimme, das nicht zu seiner sonstigen Erscheinung passte. Überhaupt passte hier einiges nicht zusammen. Alles kam ihr wie eine Maskerade vor, wie eine Theatervorführung, einzig gespielt, um sie zu verwirren. Das gedimmte Licht, das viele Gold, die glitzernden Steine an den Hälsen der Frauen, die beiden Männer am Tisch, wo waren die geblieben …
„Nein, nicht Sie …“
Sie hatte eindeutig zu viel getrunken. Sie versuchte aufzustehen, dabei sackten ihr die Beine weg und sie musste sich am Tresen festhalten.
Der Mann im weißen Anzug hakte sie blitzschnell unter, als hätte er nur darauf gewartet.
„Nichts gewöhnt, junge Frau?“ Er lächelte.
Ihr Kopf dröhnte. „Moment. Ich muss noch bezahlen.“
Sie drehte sich halb zum Barhocker, um ihre Tasche zu nehmen. Doch die war verschwunden.
Der Mann hatte ihren Arm nicht losgelassen.
„Ich begleite Sie zur Tür“, sagte er.
Sie ging noch genau drei Schritte. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.