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VIII. Wolf und Wunschkind

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Diesen gut aussehenden Männern mit den blauen Augen kann man nicht trauen.

- Dorothy L. Sayers -

Ein Kellner im Frack führte sie durch die Bar. Gedämpftes warmes Licht fiel auf schwarze Ledersessel und geblümte Seidentapeten.

Sunja war gleichzeitig müde und überreizt, der Stress dieses Tages saß ihr noch in den Knochen. Nach dem Besuch bei Dörfner war sie kurz nach Hause gefahren und dann gleich wieder zum LKA, um HP und Matthias zu treffen. Doch dabei hatte sich nur herausgestellt, dass sie weiter im Dunkeln tappten. Natürlich hatte sie ihren Kollegen nichts von Hollmeyer erzählt. Danach war sie wieder nach Hause, hatte sich umgezogen und sich dann auf den Weg ins Odessa gemacht.

Bässe hämmerten auf sie ein, es war zu dunkel, um sich orientieren zu können. An tanzenden Menschen vorbei versuchte Sunja, dem Mann zu folgen und gleichzeitig ihrer Nervosität Herr zu werden. Eine Frau stieß sie an und lachte, goldene Ohrringe wippten im Takt der Musik. Am Ende des verwirrend großen Etablissements ging es eine Treppe hinab. Unten fiel die Tür hinter ihnen zu und es wurde schlagartig still.

Hier war es schummrig. Im Hintergrund erblickte sie ein Tanzparkett mit verspiegelter Wand. Sie näherte sich langsam der zweiten Sunja und stellte befriedigt fest, dass man die Waffe unter der dünnen Baumwollweste nicht sah.

Zwischen ihr und ihrem Zwillingsbild standen etwa zwanzig kleine gedeckte Tische. Nur ein einziger rechts in der Ecke war besetzt.

Sie sah den Mann an, der dort saß.

Frank Hollmeyer war älter geworden, hatte aber nichts von seiner beeindruckenden Statur verloren. Erste graue Strähnen durchzogen sein schwarzes Haar und seinen Bart. Er trug ein helles Leinensakko und sah müde aus.

Sie trat an seinen Tisch.

Gerade setzte er ein Weinglas ab, blickte auf und sah sie an.

„Hi, Sunja! Lange nicht gesehen. Danke, dass du gekommen bist!“

„Na, dramatisch genug hast du es ja gemacht“, entgegnete sie. „Wo brennt’s denn?“

Gut sieht er aus, dachte sie, das Alter macht ihn anziehender. Bei mir ist es umgekehrt.

Sie umfasste die Lehne des Stuhls.

„Setz dich doch“, bat Frank. „Was möchtest du trinken?“

Sunja nahm Platz, warf einen Blick in die Karte und hob die Augenbrauen. „Oh, nicht ganz meine Preisklasse.“

„Natürlich bist du eingeladen.“

„Also, Frank, was ist los?“

„Es geht um Folgendes …“

Sie hörte Schritte hinter sich und fuhr herum.

Es war der Kellner, der sie hergebracht hatte. „Madame“, sagte er. „Darf ich Ihnen etwas anbieten?“ Er sprach mit osteuropäischem Akzent.

Sie deutete auf Franks Rotweinglas und sagte: „Ich nehme von dem da.“

„Sehr gern, darf es sonst etwas sein?“

„Nein. Doch. Ein Aschenbecher.“

„Eigentlich ist das Rauchen nicht gestattet, Frau Kommissarin. Aber ich denke, für Sie wird eine Ausnahme gemacht“, entgegnete der Kellner trocken und verschwand.

„Frank, was soll das? Woher weiß der …?“

Hollmeyer sah sie etwas gequält an. „Äh … gut siehst du aus, Sunja.“

„Komm, lass das. Du wolltest mich nicht treffen, um mir das zu sagen, oder?“

„Ehrlich, du hast dich gar nicht verändert.“

„Ich hoffe, doch“, meinte sie nur. „So, und jetzt raus mit der Sprache. Ich habe mich dem Ober nicht als Kommissarin vorgestellt.“

Frank räusperte sich und sah zur Tür. Täuschte sie sich, oder war er nervös geworden, seit der Kellner an ihrem Tisch gewesen war?

„Es ist so“, begann er. „Ich möchte … ich muss dich um etwas bitten. Es wird dir wahrscheinlich absurd vorkommen. Hat aber auch damit zu tun, warum wir hier sind. Es ist eine längere Geschichte.“

„Ich habe Zeit“, entgegnete sie, kramte eine Zigarette aus der Handtasche und zündete sie an.

„Also, du bist doch an diesem Fall, diese ermordete Studentin und der entführte Junge …“ Er stockte.

Sunja biss die Zähne zusammen. „Red weiter!“

„Ich könnte da was für dich tun, vielleicht. Hab da ein paar Kontakte zu gewissen Kreisen. Aber ich würde dich gern um eine Gegenleistung bitten.“

„Könntest du dich allmählich etwas klarer ausdrücken?“

Frank sah nach links und erbleichte.

Eine Hand stellte ein bauchiges Glas mit Wein vor Sunja ab. Der Kronleuchter spiegelte sich in der tiefroten Flüssigkeit.

Sie hatte den Ober schon wieder nicht kommen hören, griff nach dem Weinglas und merkte, dass der Mann neben ihr stehen geblieben war.

„Danke“, sagte sie, wandte den Kopf und erschrak.

Das war nicht der Kellner. Ein Riese mit Stoppelschnitt blickte auf sie herab. Er maß mindestens zwei Meter, hatte einen bulligen Schädel und ein zerfurchtes Gesicht. Über der Fliege am Hals prangte die Tätowierung eines verzierten Dolches. Der Mann steckte in einem Maßanzug, seine Oberarmmuskeln zeichneten sich deutlich unter dem Stoff ab.

Er grinste bis über beide Ohren. „Sunja!“, dröhnte er. „Das Sternchen von meinem lieben Freund Holly!“ Er hielt ihr seine Pranke entgegen.

Sie schaute erst ihn irritiert an, dann Frank.

Der Riese lachte erneut. Er nahm einen Stuhl, drehte ihn schwungvoll auf einem Bein herum und setzte sich rittlings darauf. Dann streckte er mit gönnerhafter Geste die Arme vor und legte die gewaltigen, tätowierten Hände auf den Tisch.

„Willkommen bei mir zu Haus, Frau Kommissarin. Nennen Sie mich Sergej.“

„Ich verstehe nicht …“, murmelte sie. „Könnte mir mal jemand erklären …“

„Aber warum so eilig, Sunja? Ich darf doch Sunja sagen?“

Noch bevor sie ein Nein ausstoßen konnte, registrierte sie Franks warnenden Blick. Sie griff nach ihrem Glas und nickte zögernd.

„Sunja. Heiße Kommissarin vom LKA. Dich wollte ich mal persönlich kennenlernen, wo wir vielleicht Geschäftspartner werden. Aber erst mal sollt ihr einen schönen Abend haben. Ich dachte, ich könnte die Familie zusammenbringen. Kennst du Bitte melde dich?“ Der Mann lachte so laut, dass das Weinglas in ihrer Hand vibrierte.

Unsicher sah sie zu Frank hin, doch dieser starrte auf die Tischplatte.

„Maltschik! Nicht so schüchtern, nicht so schüchtern!“

Sunja sah den Arm des Russen hinter Hollmeyers Rücken auftauchen und fühlte, wie ihre Rechte in Richtung Waffe zuckte. Doch die Pranke klopfte nur sanft auf Franks Schulter.

„Sunja und Holly, was für ein Paar! Heute seid ihr meine Gäste. Ja! Fühlt euch wie zu Hause. Lasst es euch gut gehen! Tanzt, meine Süßen! Wo ihr doch nun bald Mann und Frau seid, nicht wahr? Wollt ihr euch nicht einen Kuss geben?“

Der Riese stand auf, hob den Holzstuhl mit zwei Fingern hoch, als wäre er aus Papier, drehte ihn in der Luft und schob ihn wieder unter den Tisch.

Die Bedrohung war mit Händen zu greifen, Sunja roch Hollmeyers Angst und überlegte fieberhaft, was das alles zu bedeuten hatte. Frank warf ihr einen flehenden Blick zu. Da sie jedoch nicht die geringste Ahnung hatte, um was er sie gerade bat, zog sie es vor zu schweigen.

„Also, Sunja, mach meinem Freund Holly eine schöne Nacht, und dann sehn wir weiter!“

Er klatschte zweimal in die Hände, und leise Klavierklänge erfüllten den Raum.

Der Russe verschwand so lautlos, wie er gekommen war.

Sunja saß wie festgenagelt. Ihre Zigarette war bis auf das Mundstück heruntergebrannt, die Asche lag am Boden. Wütend drückte sie die Kippe auf der Messingschale des Kerzenständers aus.

„Was war das denn!“, stieß sie hervor. „Was hast du mit diesem Typen zu tun? Wenn du mich jetzt nicht aufklärst, gehe ich auf der Stelle!“ Zornig sah sie Frank an.

Der saß da, als hätte er gerade dem Tod ins Auge geblickt. „Oh Gott“, murmelte er. „Jetzt bin ich geliefert.“

Entschlossen stand sie auf. „Sorry, Frank, mir reicht’s. Ich bin keine achtzehn mehr. Damals hätte ich so was vielleicht spannend gefunden. Und zuständig für deine Probleme bin ich auch nicht.“

Doch Hollmeyer hielt sie am Unterarm fest. „Bitte. Wenn du gehst, wird alles nur noch schlimmer. Sergej widerspricht man nicht.“

Sie sah zum Ausgang. Ein Bodyguard hatte sich in den Türrahmen geschoben.

„Ach, so ist das. Bist du sein Schoßhündchen? Hat er dich in der Hand? Woher kennst du ihn? Mann, rede!“

Frank seufzte. „Bitte setz dich. Ich sag dir alles.“

Was folgte, war eine so hanebüchene Geschichte, dass Sunja anfangs Mühe hatte, sie überhaupt zu glauben. Frank Hollmeyer erzählte, er habe die Polizeiausbildung erst deshalb so spät begonnen, weil er als Jugendlicher abgerutscht sei. „Drogenmäßig. Ging mit fünfzehn schon los. Zuerst als kleiner Dealer, später größere Sachen. Das zog sich. Eines Tages, kurz nach der Wende, hab ich zufällig in Sergejs Revier operiert. Wir hatten zuerst ziemlichen Ärger miteinander, das kann ich dir sagen. Neulinge konnte er nicht leiden. Der Wolf, so hieß er schon damals. Ein junger, schlaksiger Kerl, schnell mit dem Messer. Und trotzdem schon eine Autorität, ein Boss. Er war gerade nach Berlin gekommen. Na ja, ich sprach fließend Russisch, ich kannte mich in der Szene aus, er konnte mich gebrauchen, kurz, ich fing an, für ihn zu arbeiten. Kannst es dir vielleicht vorstellen, in dem Alter plötzlich ein Haufen Geld, das war natürlich was.“

Immer wieder sah er nervös zur Tür. Doch der Bodyguard war verschwunden. Sie schienen allein zu sein. Dennoch redete er sehr leise.

„Und dann wurde ich eines Tages mit ’ner Menge Koks geschnappt. Eigentlich hätte mir ein Strafverfahren bevorgestanden und ich wär für ein paar Jahre eingefahren. Aber der Ermittler hat mir ein Angebot gemacht. Ich sollte ihm helfen, ein paar größere Fische zu schnappen.“ Frank deutete auf ihre Zigarettenschachtel. „Darf ich?“

Sunja nickte.

„Die Chance hab ich natürlich genutzt. Erfolgreich übrigens. Das Verfahren wurde ausgesetzt. Und wie das so geht, nachdem ich noch zweimal für die Polizei unterwegs gewesen war, war meine Strafakte plötzlich spurlos verschwunden. Nicht mehr aktenkundig. Da war ich vierundzwanzig.“

Obwohl hochbegabt, hatte er damals weder Abitur noch Ausbildung. Mit reingewaschener Weste entschied er sich, Polizist zu werden. Er hatte Blut geleckt. Es reizte ihn, die Strukturen der staatlichen Macht von innen kennenzulernen, während er seine Kontakte ins kriminelle Milieu weiter ausbaute. Seit diesem Zeitpunkt führte er ein Doppelleben. Und verdiente auf beiden Seiten.

„Als du zum LKA gegangen bist, Sunja, fing ich als V-Mann beim BKA an. Das ist lange her … Und Sergej“, er wurde nachdenklich, „mit ihm zu tun zu haben, ist ein Spiel mit dem Feuer. Solange er sagt, was läuft, geht’s gut. Doch du kontrollierst ihn nicht. Und wenn du etwas von ihm bekommen hast, wirst du es dreifach zurückzahlen.“

Sie hatte staunend und mit zunehmendem Widerwillen zugehört, während sie ihren Wein trank. Immer hatte Frank etwas ausgestrahlt, was sie nicht hatte greifen können. Ja, das hatte auch seinen Reiz ausgemacht, besonders als sie jünger war. Es hatte einige leidenschaftliche Szenen zwischen ihnen gegeben. Aber das war lange her.

„Und warum erzählst du mir das alles?“, fragte sie.

„Weil ich deine Hilfe brauche. Ich will aussteigen.“ Er packte ihre Hand, seine Stimme klang gehetzt. „Sunja, ich bin total unter Druck. Das BKA lässt mich gehen, die haben schon zugestimmt. Aber hier …“, er blickte einmal durch den Raum. „Scheiße, ich glaub, ich hab’s versaut. Hab Sergej gesagt, ich hätte ’ne Freundin. Wäre verlobt. Wolle heiraten, Familie gründen. Ich hab deinen Namen nie genannt! Dass er den jetzt kennt, kann nur bedeuten …“

„… dass er Bescheid weiß. Und wieso soll ich dir jetzt ausgerechnet helfen?“

„Ich hab doch niemanden sonst! Du bist meine letzte Rettung, Sunja. Ich hab gute Kontakte, ich weiß, dass du in einem schwierigen Fall steckst. Ich könnte für dich ermitteln, wie damals, weißt du noch, das verschwundene Mädchen.“ Sein Blick wurde flehend.

„Und was willst du dafür?“

„Ich wollte dich bitten, meine zukünftige Frau zu spielen.“

Sie schluckte und starrte Frank an, der gequält lächelte.

Dann blickte sie zur Tür und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

Am Sonntagmorgen hatte sie endlich einmal lange geschlafen. Wirre Träume waren wie Irrlichter durch ihre Nacht gehuscht.

Sie blinzelte in den grellen Lichtstreifen, der links am Rollo hereinfiel, und schloss für einen Moment die Augen. Sie hatten geredet. Und gegessen. Und getrunken. Und immer mehr geredet. In den Morgenstunden hatten sie den Nachtklub verlassen, waren durch die dunkle Stadt gelaufen, immer neue Seitenstraßen hatten sie eingeschlagen. Erst gegen vier war sie zu Hause gewesen.

Sie schälte sich aus dem Deckbett, befreite sich aus dem Strom der hereingebrochenen Vergangenheit, ging in die Küche und bereitete Kaffee zu. Trug Knäckebrot, Marmelade, Joghurt ins Schlafzimmer und fläzte sich aufs Bett. Ein bisschen fühlte sie sich wie früher in den Schulferien. Das Rollo ließ sie unten.

„Ich melde mich!“, hatte Frank gesagt. „Hab schon eine Ahnung, was diese tote Studentin betrifft. Und vielleicht sogar das Kind. Sobald ich was Konkretes habe, hörst du von mir, okay. Vertrau mir …“

Sie zündete eine Zigarette an, angelte den Ascher vom Boden und lehnte sich zurück.

Vertrauen. Welchem Mann in ihrem Leben konnte sie schon vertrauen? Heinz Böttcher vielleicht? Immerhin war er ihr Chef, und ein guter dazu. Ein Ermittler alter Schule, er war ein bisschen wie ein Vater für sie, hatte immer zu ihr gehalten. Und ihre Kollegen? Was die Arbeit betraf, konnte sie sich auf die verlassen. René war ein junger Kerl, sensibel, aber stets engagiert und korrekt im Umgang. Ihn mochte sie sehr. HP dagegen war ein Gockel und seine ständigen Avancen wurden allmählich zu viel. Trotzdem war er ein zuverlässiger Kollege, aber über persönliche Probleme wollte sie mit ihm nicht sprechen. Das würde er sofort falsch verstehen. Und Matthias? Für ihre Begriffe machte der es sich zu einfach. Wie konnte man Polizist sein und dann dauernd fehlen! Elternteilzeit. Ging das in ihrem Beruf überhaupt?

Frank Hollmeyer war jedenfalls kein Mensch, dem sie vertraute. Einer, dessen Leben aus Taktieren bestand? Der nicht für einen Cent Moral hatte? Menschlich tat er ihr leid und sie machte sich Sorgen um ihn. Offenbar steckte er bis zum Hals in Schwierigkeiten. Aber warum sollte sie seine Lügen mittragen? Sie hatte nicht auf seine Frage geantwortet. Kein Nein, kein Ja. Hätte sie den Kuhhandel nicht sofort ablehnen müssen? Erschrocken stellte sie fest, dass auch sie taktierte. Sie hatte garantiert nicht vor, seine Verlobte zu spielen. Aber wenn er ihr neue Fakten lieferte …

Wahrscheinlich war sie an einem Punkt angelangt, an dem sie niemandem mehr vertraute.

Frustriert ging sie in die Küche und spülte das Geschirr.

Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, fiel ihr Blick auf die Briefe ihres Vaters. Geistesabwesend nahm sie das Päckchen vom Tisch. Die Umschläge waren vergilbt und rochen muffig, nach dem Kleiderschrank der Mutter. Ein verblichenes, poröses Einweckgummi hielt sie zusammen. Es zerriss, als sie den oberen Umschlag herauszog. Hastig breitete sie alle Briefe auf dem Sofa aus.

Achtundzwanzig waren es. Auf jedem stand ihr Name in der schmalen, korrekten Handschrift ihres Vaters. Anfangs hatte er mit Füller geschrieben, später mit Kugelschreiber. Die Briefe waren ordentlich nach Datum sortiert. Der erste zeigte eine französische Briefmarke mit der Abbildung des Eiffelturms und dem Poststempel 20. September 1976, beim letzten konnte man nur die Jahreszahl erkennen: 1989.

Erschüttert blickte sie auf die Kuverts. Dreizehn Jahre! Dreizehn Jahre lang hatte ihr Vater an sie gedacht! Und sie hatte nichts davon gewusst.

Der Kloß in ihrem Hals wuchs. Wut auf die Mutter packte sie. Wie hatte sie diese Briefe einfach zurückhalten können! Und jetzt drückte sie ihr mal eben dieses Päckchen in die Hand, als wäre damit alles erledigt!

Sie nahm den ersten Umschlag und drehte ihn hin und her. Ihr Herz raste. Zu gern hätte sie jetzt Silvia bei sich gehabt oder wäre nach Kreuzberg gefahren und hätte bei ihr geklingelt, um sich von ihr trösten zu lassen. Es wurde Zeit, dass sie sich bei ihrer Freundin meldete und sich mal mit ihr traf. Sie konnte sich nicht immer nur an sie wenden, wenn sie sie brauchte.

Endlich gab sie sich einen Ruck, angelte einen Kaffeelöffel vom Tisch und öffnete mit dem Stiel den Umschlag.

Als sie ihn zur Hälfte aufgeschlitzt hatte, klingelte ihr Handy. Sunja fluchte, legte den Brief aufs Sofa und suchte das Telefon, das sie in der Jacke im Flur fand.

Ein verschlafen klingender HP teilte ihr mit, das Krankenhaus habe angerufen. Herr Schwarz sei aus dem Koma geweckt worden und bei Bewusstsein. Sie dürfe ihn kurz unter Aufsicht eines Arztes befragen. Noch heute.

Sunja versprach, in anderthalb Stunden in Rüdersdorf zu sein.

„Guten Tag, Herr Schwarz.“

Ein blasser, hagerer Mann lag da und schien zu schlafen. Schläuche führten unter die Bettdecke, Flüssigkeiten wurden in seinen Körper gepumpt. Ein Überwachungsmonitor fungierte als Amme und gab alle Regungen des Patienten preis. Der Puls von Ulrich Schwarz ging regelmäßig bei etwa siebzig Schlägen pro Minute.

Tatsachen regten nur auf, hatte der ebenso blasse Assistenzarzt gesagt. Die meisten Patienten erinnerten sich sowieso an nichts.

Sie wollte es trotzdem versuchen. „Wie geht es Ihnen? Ich bin Hauptkommissarin Löwel von der Kriminalpolizei.“ Eigenartig, zu jemandem zu sprechen, der sie gar nicht ansah. Automatisch war Sunja lauter geworden und artikulierte deutlicher.

Die Herzkurve auf dem Monitor kletterte nach oben, zehn Schläge mehr. Hatte die Erwähnung der Polizei Schwarz aufgeregt oder war das normal?

Blaue Augen blickten Sunja an und wurden sofort wieder durch die Lider begraben. Verglichen mit dem Foto, das sie im Haus gefunden hatte, schien er deutlich gealtert. Er war achtundvierzig, sah aber wie sechzig aus.

„Bitte geben Sie mir ein paar Minuten, Herr Schwarz“, sagte sie, „es geht um Ihren Sohn.“

Abrupt wurde er wieder wach und murmelte: „Pascal … Was ist mit ihm? Wo ist meine Frau?“

Sein Puls stieg auf achtundneunzig. Der Arzt trat von einem Fuß auf den anderen und atmete hörbar ein, sagte jedoch nichts.

Der Patient versuchte sich aufzurichten, fiel aber ins Kissen zurück.

„Bleiben Sie ruhig liegen. Ihrer Frau geht es gut“, beruhigte ihn Sunja. „Ich habe nur ein paar Fragen. Können Sie mir helfen?“

Der Kranke nickte.

Vorsichtig fragte sie: „Wissen Sie, wo Pascal ist?“

Schwarz leckte sich über die trockenen, blutleeren Lippen und flüsterte: „Wieso? Zu Hause. Geht es ihm gut?“

Der Arzt warf ihr einen strafenden Blick zu.

Sunja überlegte kurz, aber sie konnte jetzt nicht aufhören. „Herr Schwarz, Pascal wird vermisst. Wissen Sie, wo er sich versteckt haben könnte? Kennen Sie jemanden, der Ihnen schaden will?“

Er sah sie an. „Bitte … Pascal ist mein Sohn!“

„Ja, natürlich. Können Sie sich erinnern, was passiert ist, als Sie aus dem Auto stiegen?“

Er sah Sunja erstaunt an. „Aus dem Auto? Ich habe Schmerzen.“

Der Arzt ging zum Tropf und stellte ihn schneller ein. Er sah Sunja streng an, hob die Brauen und tippte auf seine Armbanduhr.

„Bitte Herr Schwarz, uns hilft alles, woran Sie sich erinnern können. Wer ist am Donnerstag in Ihr Haus eingedrungen?“

„Haus?“ Er runzelte die Stirn und schien zu überlegen. „Pascal, ich … Alina war da.“

Sunja versuchte ihm zu folgen, verstand ihn aber kaum noch. Seine Stimme wurde immer leiser und brüchiger.

Sie sah den Arzt an.

„Das Schmerzmittel …“, sagte dieser und hob die Schultern. „Sie müssen ohnehin gehen, es strengt den Patienten zu sehr an.“

„… Toni gebeten“, lallte Herr Schwarz.

„Toni? Wer ist Toni?“

Keine Antwort.

„Wissen Sie, wer Ihr Kindermädchen ermordet hat?“, fragte Sunja.

„Was? Jana?“ Wie durch einen Nebel sah der Kranke sie entsetzt an. Er bekam rote Flecken im Gesicht, sichtbar bemüht, die Augen offen zu halten. „Pascal … seine Mutter wollte ihn sehen.“

„Ihre Frau? Aber die hat doch zu der Zeit gearbeitet?“

„Nein … Alina …“ Er hustete.

„Jetzt ist es wirklich genug“, sagte der Arzt streng. Rasch ging er zum Patienten und setzte ein Stethoskop kurz oberhalb des Verbandes auf. „Wir müssen ihm Ruhe geben. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn Sie weitere Fragen stellen können.“

Die Kommissarin verabschiedete sich und ging auf den Flur hinaus.

Im selben Moment trat gegenüber der Zimmertür Maria Schwarz aus dem Fahrstuhl. Sie versuchte auszuweichen, doch Sunja stellte sich ihr in den Weg.

„Lassen Sie mich zu meinem Mann!“

„Tut mir leid. Sie können jetzt ohnehin nicht zu ihm. Er schläft.“

„Was fällt Ihnen ein!“

„Bitte warten Sie … wir könnten die Zeit für ein kurzes Gespräch nutzen. Ich habe ein paar Fragen an Sie.“ Sunja wies auf eine der Metallbänke, die den Flur rechts und links säumten.

Maria Schwarz fuhr sich durchs Haar. „Ganz kurz, wenn ich bitten darf!“ Sie blickte ihr geradewegs in die Augen.

Sunja fröstelte und erklärte rauer als beabsichtigt: „Wir müssen Ihr Alibi überprüfen.“

„Aber meine Sekretärin hat Ihnen …?“

„Solche Angaben sollten immer von mehreren Zeugen bestätigt werden. Wir wüssten gern, wer am 27. April von Viertel vor zwölf bis um ein Uhr bei Ihnen zur Beratung war.“

„Als Anwältin unterliege ich der Schweigepflicht.“

„Sie müssen uns den Namen ja auch nicht nennen. Vielleicht bitten Sie die Klientin einfach, uns das Gespräch kurz zu bestätigen.“

Frau Schwarz rückte ihre Handtasche zurecht. „Gut, ich werde im Büro nachsehen und mich bei Ihnen melden. Auf Wiedersehen.“ Mit diesen Worten ging sie auf das Krankenzimmer ihres Mannes zu.

„Einen Moment!“, rief Sunja.

„Was denn noch?“

Sunja trat zu ihr. „Ihr Mann sagte vorhin etwas, das mich irritiert hat. Er sprach von Pascals Mutter, meinte damit aber offensichtlich nicht Sie …“

Augenblicklich schien Frau Schwarz zu erstarren. Sie schwieg mit schmalen Lippen.

„Also, er erwähnte einen Namen, eine … Alina, falls ich das richtig verstanden habe. Haben Sie eine Idee, wen er damit meint?“

Die Anwältin schluckte und starrte vor sich hin. „Ich denke, er schläft? Sie haben mit ihm gesprochen? Haben Sie überhaupt eine Erlaubnis dazu?“ Abrupt drehte sie sich um und ging auf eins der Bilder im Flur zu. Das helle Aquarell zeigte eine Savannenlandschaft. Sie schien es aufmerksam zu betrachten.

Sunja folgte ihr. „Warum arbeiten Sie nicht mit uns zusammen?“, fragte sie. „Ihr Sohn wird vermisst. Ist Ihnen das egal?“

Jäh drehte Frau Schwarz sich um und funkelte sie wütend an. „Jetzt reicht es! Was unterstellen Sie mir? Und lassen Sie gefälligst meinen Mann in Ruhe!“

„Dann reden Sie mit mir!“

„Was wollen Sie wissen?“

„Haben sich die Entführer inzwischen bei Ihnen gemeldet?“

„Nein.“

„Wissen Sie, wo Pascal ist?“

„Nein!“

„Warum sind Sie neulich zu meinem Kollegen gegangen?“

„Ich wollte nur nachfragen, wegen Pascal.“

„Gibt es etwas, was Sie uns noch sagen wollen?“

„Was sollte das sein?“

„Wissen Sie, wer Alina ist?“

Die Anwältin räusperte sich und schaute Sunja durchdringend an. Ihre Stimme bebte. „Hören Sie, wenn ich eine Aussage mache, müssen Sie mir zusichern, dass diese Informationen unter uns bleiben.“

„Sie wissen, dass das schwierig ist.“

„Also gut“, begann Maria Schwarz. „Pascal … ist nicht mein leibliches Kind.“ Sie drehte sich wieder dem Aquarell zu und sprach leise weiter. „Über diese Angelegenheit habe ich bisher geschwiegen. Weil sie nach hiesigem Gesetz illegal ist. Ich hatte gehofft, dass man meinen Sohn findet …“ Sie zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn. „Vermutlich ist Ihnen die Materie fremd. Pascal ist von einer Leihmutter ausgetragen worden.“

Sunja sah verblüfft auf den Hinterkopf der Frau. „Er ist gar nicht Ihr Kind?“

„Natürlich ist er unser Kind. Ich wusste, dass Sie es nicht verstehen. Wer versteht das schon? Pascal ist unser Kind.“

„Setzen wir uns doch“, schlug Sunja vor. „Kommen Sie, erzählen Sie mir mehr darüber.“

Die Anwältin ging neben ihr her zur Bank. Sie sah erschöpft aus.

„Nachwuchs auf natürlichem Weg zu bekommen, war uns nicht vergönnt. Ich kann kein Kind austragen. So hatten wir zunächst an Adoption gedacht.“ Sie verstummte.

„Und dann?“

„Man muss endlose Anträge ausfüllen. Belegen, dass man geeignet ist. Gespräche führen mit dem Jugendamt. Dem Kinderheim. Mit Gutachtern … Außerdem sind diese Kinder oft gestört, man liest immer wieder von massiven Problemen bei der Erziehung. Da mein Mann beruflich viel nach Osteuropa reist, ist er auf die Idee mit einer Leihmutterschaft in der Ukraine gekommen.“

„Ist das nicht kompliziert?“, hakte Sunja nach.

„Sperma und Eizelle werden dort abgeliefert und kommen ins Reagenzglas. Dann bekommt die Leihmutter sie eingesetzt“, sagte die Anwältin tonlos. „Mein Mann hat die Verbindung hergestellt, über einen Anwalt, der mit dem Direktor der Klinik in Kontakt stand. Wir sind hingefahren und haben uns alles angesehen. Es wirkte professionell, sie hatten positive Referenzen in vielen Fällen. Der Vertrag war dann Minutensache. Wir konnten gleich das … Material dalassen. Es gibt eine Datenbank, in der man die Leihmutter aussuchen kann. Mit Fotos und einigen Informationen zum Bildungsstand. Es sollte ja alles halbwegs übereinstimmen … Mit der Frau, die das Kind austrägt, darf man natürlich keinen Kontakt haben. Aber die nehmen da nur gesunde, gebärfähige Mädchen.“ Der Sarkasmus in ihrer Stimme war unüberhörbar.

Eine Schwester huschte vorbei. Für einen Moment schwiegen sie beide.

„Und das war diese Alina, die Pascal geboren hat?“, fragte Sunja.

Maria Schwarz schien die Frage überhört zu haben. „Ulrich ist dann hingefahren und wollte das Kind abholen, mit einer kompletten Baby-Ausstattung. Und da gab es auf einmal Probleme mit der Ausreise. Die Leihmutter sei doch verheiratet gewesen, hieß es. Nach ukrainischem Recht ein Hinderungsgrund. Die erforderlichen Papiere könnten nicht ausgestellt werden, weil in diesem Fall der Ehemann der Frau als Vater gilt. Sie hatte das Krankenhaus betrogen! Und uns auch! Der deutschen Botschaft in Kiew war das egal. Sie würden auf ihrer Website extra auf diese Probleme hinweisen, teilten sie uns mit. Das Kind sei nach deutschem Recht ukrainischer Staatsbürger und Sohn der Leihmutter.“ Frau Schwarz sah ins Leere. Sie atmete schwer.

„Und dann?“, fragte Sunja.

„Mein Mann hat alles in Bewegung gesetzt, um Pascal mitnehmen zu können. Es bei der ukrainischen Botschaft versucht. Aussichtslos. Mit Unterbrechungen war er ein Jahr lang dort. Unsere Beziehung ist fast daran zerbrochen. Dann meldete er sich plötzlich und sagte, es gäbe einen Weg. Über einen Kollegen hat er mir Fahrkarten bringen lassen und ein Visum. Zwei Tage später war ich in Donezk im Hotel, wo er mit Pascal auf mich wartete. Das mit den Papieren hat dann noch gedauert. Aber irgendwann konnten wir heimfahren. So. Das ist alles.“

„Ich glaube nicht“, entgegnete Sunja. „Wie hat Ihr Mann die Papiere denn so plötzlich bekommen?“

„Keine Ahnung!“

„Haben Sie ihn gefragt?“

„Natürlich. Aber er ist ausgewichen. Und schließlich war Pascal ja da. Nur darum ging es doch. Er hat unser Leben wieder lebenswert gemacht.“

Nur mit Mühe konnte Sunja sich die Bemerkung verkneifen, dass das eine schwere Aufgabe für ein kleines Kind sei. „Ich glaube, Sie wissen mehr, Frau Schwarz“, sagte sie stattdessen. „Sie müssen reden, damit wir Pascal finden können. Ich warte.“

Die Anwältin saß steif wie eine Statue auf der Bank.

„Ist Ihnen in letzter Zeit irgendetwas an Ihrem Mann aufgefallen? War er anders als sonst?“, hakte sie nach.

„Ja. Bedrückt.“

„Wissen Sie warum?“

„Ja.“

„Und?“

„Man hat ihn erpresst.“

Es fiel Sunja schwer, angesichts dieser wortkargen Antworten höflich zu bleiben.

„Wer?“

„Er sagte mir, es hinge mit der Einreise von Pascal zusammen. Gebühren eben. Nachforderungen. Immer höhere Summen. Und dass er nicht weiß, wie es weitergehen soll.“

„Was hat er damit gemeint?“

„Wenn in der Firma bekannt wird, dass er in eine Erpressung verwickelt ist, wäre er seinen Job los. Und erst der Skandal in unseren Familien, wir haben es doch keinem gesagt.“

Es entstand ein Schweigen, aus dem sich Sunja mit belegter Stimme vernehmen ließ: „Wer wusste noch von der Leihmutterschaft?“

„Nur eine Freundin von mir. Und meine Mutter. Und Jana.“

„Jana? Wie das?“

„Durch Zufall. Ulrich hatte einen Brief der Geburtsklinik auf dem Schreibtisch liegen lassen, und Pascal hat ihn gegriffen und zu ihr gebracht. Sie konnte ja Russisch.“

„Wer, meinen Sie, hat Ihren Mann erpresst?“, fragte Sunja.

Doch Frau Schwarz wirkte jetzt endgültig wie aus Stein gemeißelt. Sie verzog keine Miene mehr, nicht die kleinste Regung war in ihrem Gesicht zu entdecken. Von einer Minute auf die andere schien die Kühle des Krankenhausflures von ihr auszugehen. Sie erhob sich.

„Ach, eins noch“, sagte Sunja. „Kennen Sie einen Toni?“

„Ja.“

„Wer ist das?“

„Ein Freund und Kollege meines Mannes. Toni Preußer. Er hat uns geholfen, bei der Sache mit Pascal.“

„Ach. Was genau hat er denn getan?“ Sunja sah Frau Schwarz direkt in die Augen.

Doch die Anwältin antwortete nicht mehr. Kommentarlos steuerte sie das Krankenzimmer ihres Mannes an und verschwand durch die Tür.

Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band

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