Читать книгу Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band - Sascha Behringer - Страница 21

XI. Durch die Wand

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Und immerfort hört man den Schleicher vor der Tür. Alle wären schon glücklich, wenn er endlich hereinkäme, aber es geschieht nichts, niemand kommt herein.

- Franz Kafka -

Da sind Pappschachteln, riesige leere Pappschachteln. Dazwischen ein Kind. Es steht allein da, verloren in der Sammlung dieser Kartons, die aussehen wie Wohnblöcke mit hohlen Fenstern. Doch hier lebt niemand. Still und weiß ist alles, wie ein Salzsee.

Jetzt surrt es in den Ohren des Kindes, da ist etwas vor seinen Füßen. Das Kind kann den Kopf nicht drehen, um zu sehen, was es ist. Schließlich, mit unendlicher Anstrengung, senkt es den Kopf, es knirscht im Genick. Da ist ein Brummkreisel.

Ich bin das Kind. Ich liege auf dem Teller dieses gewaltigen Brummkreisels. Ganz nah am Rand. Ich staune und Lichter fliegen vorbei. Bunte Schlieren, ein Kettenkarussell. Da ist wieder das Surren, mit ihm kommt die Panik. Der Kreisel dreht sich schneller und schneller, das Surren wird höher, ich versuche mich festzuhalten, will festkleben auf der glatten Oberfläche. Will die Hände einbohren in das lackierte Metall, doch ich rutsche immer weiter an den Rand, gleich muss ich loslassen. Das Loslösen ist ein winziger, schrumpfender Moment …

Sunja kämpfte gegen die pulsierenden Lichter vor dem Innern ihrer Lider. Eine ganze Galaxis schien in ihr zu kreisen, während sie sich langsam auflöste. Im unendlichen Raum gab es nur Kälte. Warum konnte sie nicht atmen, warum war alles so kalt, so verschwommen …

Der Mann drehte den Wasserhahn über ihrem Kopf ab. Seine Mundwinkel wanderten nach oben, als sie halb ertrunken die Luft einsog. Er zögerte, löste ihren Körper vom Waschbecken, zerrte ihn zur gegenüberliegenden Wand und setzte ihn dort auf.

Die nassen Haare klebten an ihrem Kopf, ihr Satinkleid glich einem ausgewrungenen Lappen. Mühsam öffnete sie die Augen.

Der Mann grinste und warf ihr ein Handtuch zu. Ein Goldzahn blitzte in seinem Mund, er hatte ein schmales Gesicht und kurz geschorene Haare. Irgendetwas an ihm kam ihr bekannt vor.

Er sprach abgehackt: „Ein Bulle. Hier. Mit gute Kleider und viel Geld, ja? Bist eine teure Bulle, ja? Oder teure Frau?“ Sein „R“ ratterte wie ein Maschinengewehr. „Boss hat Treffen für dich. Mit Matrjoschka. Eine Stunde hat gesagt!“

Sunja schloss die Augen, weil sich alles wieder zu drehen begann. Jedes Haar auf ihrem Kopf brannte wie Feuer.

Jetzt öffnete der Mann die Tür, rief etwas auf Russisch in den Flur, begann zu fluchen und rannte davon.

Sie blickte auf die offene Tür. Sie musste auf die Beine kommen, sofort … aber ihr Körper gehorchte nicht. Allein der Gedanke ans Aufstehen war absurd. Nur noch ein wenig Kraft schöpfen, gleich … Die Augen fielen ihr wieder zu.

Als sie erwachte, war der Schwindel verflogen, das Brennen auf der Kopfhaut hatte sich merklich abgeschwächt. Sie fühlte sich wie nach einem Marathonlauf. Jemand rüttelte an ihrer Schulter, ein Gesicht mit einem purpurroten Mund tauchte vor ihr auf. Unter zwei gerunzelten Brauen leuchteten wie Lämpchen ein paar hellblaue Augen.

Die junge Frau strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht und sagte flüsternd: „Aufwachen! Schnell!“ Sie stemmte Sunja auf den Rand des Korbstuhls und setzte sie aufrecht, scheinbar in der Hoffnung, dass sie so nicht wieder einschlafen würde. Nun lief sie überall im Raum umher, öffnete Schranktüren, offenbar suchte sie etwas.

Die Einrichtung wirkte wie aus dem vorletzten Jahrhundert: ein dicker Perserteppich, glänzende Biedermeiermöbel, an der Decke Kristalllüster. Rüschengardinen und bodenlange Samtvorhänge mit Troddeln. Sunja gegenüber stand eine altmodische Frisierkommode mit einem riesigen ausklappbaren Spiegel.

Sie blinzelte angestrengt. Ihr Blick wanderte zur Tür, die nun wieder geschlossen war. Die Frau lief weiterhin geschäftig umher, sah unter Schränke und in Schubladen. Sie trug knallenge Jeans, eine weiße Bluse und Absatzschuhe.

Angestrengt versuchte Sunja, die Unbekannte im Auge zu behalten, gleichzeitig war sie bemüht, ihre Lippen unter Kontrolle zu bringen. Sie öffnete mehrmals den Mund, aber es kam nichts heraus. Ihre ersten Worte klangen wie rostiges Blech: „Sie sind Alina!“

Die Blonde antwortete nicht, doch ihre Suche schien endlich erfolgreich gewesen zu sein. Mit triumphierendem Blick hielt sie etwas hoch. Ein Klappmesser? Dann hörte Sunja ihren unverkennbaren russischen Akzent: „Ich werde dir erzählen. Alles. Aber müssen weg hier.“

Sunja wiederholte ihre Worte, diesmal als Frage: „Sind Sie Alina?“

„Alja, für meine Freunde!“, kam es von der Zimmertür, an der sich die Frau jetzt zu schaffen machte. Schabe- und Kratzgeräusche tönten herüber.

Man hat mich entführt, dachte Sunja. Die Russen. Die da gehört aber nicht dazu.

Mühsam hievte sie sich aus dem Sessel, hangelte sich hinüber zur Schminkkommode und stützte sich auf der kühlen Marmoroberfläche ab. Weiter zum Biedermeierschränkchen. Gott sei Dank war alles solide gebaut. So gelangte sie, obwohl ihre Beine sie kaum trugen, zu Alina. Erstaunt sah sie, dass diese ein schmales Loch in die Wand zwischen Türrahmen und Lichtschalter gekratzt hatte. Das Rasiermesser mit dem hölzernen Griff hatte Tapete und eine dünne Pappe entfernt, nun kamen kleine weiße Bruchstücke aus der Wand.

„Ist Gips. Nur Gips“, stieß Alina hervor, während sie verbissen weiterarbeitete. Sie schob die Finger in das entstandene Loch und bröckelte immer mehr von der zentimeterdicken Wand ab, bis ihre Faust darin verschwand.

„Wie hat Sergej Sie gefunden?“, fragte Sunja. „Es ist doch Sergej, oder?“

Alina antwortete nicht, sie fetzte die zum Vorschein gekommene hellbraune Isolierung heraus. Daraufhin machte sie sich mit dem Messer an die dahinterliegende Wand der gleichen Stärke. Hätte es draußen einen Bewacher gegeben, wären spätestens jetzt die Geräusche bemerkt worden. Das Messer schnitt und rupfte. Endlich konnte Alina ihre schmale Hand, an der ein goldenes Kettchen baumelte, durch die Wand schieben. Offenbar steckte draußen ein Schlüssel, denn im nächsten Moment klackte das Schloss.

Alina sah Sunja an, die hellblauen Lämpchen in ihrem Gesicht strahlten.

„Dawai, gehen wir.“ Mit zwei hastigen Bewegungen riss sie die Pumps von den Füßen, griff nach Sunjas Hand und öffnete leise die Tür.

Auf dem Gang war es schummrig, alles schien still. Von den vielen abgehenden Türen war nur eine geöffnet, aus dem Raum dahinter hörte man Musik, Lachen und Gegröle. Beiden war klar, dass sie an genau dieser Tür vorbeimussten, um zur Treppe zu gelangen. Vorsichtig schlichen sie dorthin, als sich plötzlich direkt neben ihnen eine andere Tür öffnete.

Den Bruchteil einer Sekunde standen sie starr, dann rannten sie los.

Sunja hörte russische Flüche und polternde Schritte. Sie lief, so schnell sie konnte, die Treppe hinab, doch ihre Beine versagten immer mehr den Dienst. Vor sich hörte sie Alinas keuchenden Atem. Im Umdrehen sah sie einen Mann in schwarzer Lederjacke, er war schon auf der Treppe über ihr, als sie an der Kellertür anlangten. Glücklicherweise war die nicht verschlossen. Alina riss die graue Stahltür auf, zog Sunja herein und legte hastig den schweren Hebel herum.

Kurz darauf hörten sie wummernde Schläge von der anderen Seite und dann sich schnell entfernende Schritte.

Nach Luft ringend lehnte Sunja an der Wand und verfluchte ihre Garderobe. Normalerweise hätte sie jetzt ein Handy in der Tasche, um Verstärkung anzufordern. Was hatte sie nur geritten, sich ohne Begleitschutz ins Odessa zu begeben?

Doch das Glück schien ihnen hold. Die Keller mehrerer Altbauten waren offenbar miteinander verbunden. Sie rannten durch Gänge, passierten unzählige Eisentüren und gelangten schließlich zu einer Tür, die ins Freie führte.

Vorsichtig sahen sie sich um, als sie das Haus verließen. Waren die Leute des mächtigen Russen in der Nähe? Hinter einem Zaun leuchtete der Schriftzug des Nachtklubs. Die Straße war menschenleer. Die beiden Frauen schlichen um die Ecke des Häuserblocks und liefen, so schnell es Sunjas Zustand zuließ, zur nächsten Bushaltestelle.

Der große Zeiger am S-Bahnhof Storkower Straße zeigte sechs Uhr, als sie aus dem Nachtbus stiegen. Sunja zitterte vor Kälte, ihr Kleid war noch immer klatschnass und sie war grauenhaft müde. Sie brauchte trockene Sachen, eine warme Decke, und sie wollte nach Hause, nur noch nach Hause. Alina hatte nach anfänglichem Zögern eingewilligt, mit zu Sunja zu kommen.

Sie mussten noch den Fußweg durch das Gelände des ehemaligen Zentralviehhofes bewältigen und dann Sunjas Nachbarn herausklingeln, der einen Ersatzschlüssel für sie verwahrte.

In der Wohnung schaffte sie einige Decken herbei und wies Alina einen Platz auf dem Sofa an. Sie schaffte es gerade noch, das enge Kleid auszuziehen, ohne es zu zerreißen, und schlüpfte ins Bett. Sie schlief sofort ein.

Kurz nach neun weckte sie das Telefon. Es war Matthias, der wissen wollte, wo sie blieb.

„Ich hab gestern eine Spur überprüft.“ Sunjas Stimme war kratzig. „Erzähl ich dir später. Muss mich erkältet haben. Kommt ihr heute ohne mich klar?“

Das sei kein Problem, versicherte Matthias.

Sie bat, über Neuigkeiten unterrichtet zu werden, legte auf und ließ sich aufs Bett zurücksinken.

Immer noch hatte sie das Gefühl, sich in einem bösen Traum zu befinden. Ohne Auftrag hatte sie den Russen gesucht und war in seinem Nachtklub gekidnappt worden. Um dann mit einer Mordverdächtigen zu fliehen und diese in ihre eigene Wohnung mitzunehmen. Wie sollte sie das ihrem Chef erklären? Sie musste die Sache schleunigst offenlegen. Aber wie? Hier konnten sie nicht bleiben, sie musste Alina schnell in Sicherheit bringen. Sie überlegte. Erst wollte sie hier, in privater Atmosphäre, noch etwas mit Alina reden und ihr Vertrauen gewinnen. Sie würden einen Kaffee trinken, sich unterhalten, und dabei fiel ihr bestimmt ein, was sie Böttcher sagen sollte. Danach würde sie mit Alina zur Dienststelle fahren und die Vernehmung fortsetzen.

Unter normalen Umständen hätte sie gleich morgens mit ihr ins Büro fahren müssen. Doch was war an dem Fall noch normal? Was echt, was falsch? Eine Mutter brachte ein Kind zur Welt, das nicht ihres sein durfte. Weil es eine andere bestellt hatte …

Sie schreckte von einem Geräusch auf.

Alina stand in der Tür.

„Ich mache uns Kaffee“, sagte sie schnell, nahm einen Pullover vom Stuhl und streifte ihn über. „Und dann hab ich ein paar Fragen.“

Nach dem Frühstück saßen sie im Wohnzimmer und rauchten. Sunja, bemüht, einen Rest Förmlichkeit zu wahren, suchte ihr altes Diktiergerät heraus, stellte es auf den Tisch und belehrte Alina über ihre Rechte. Sie erklärte ihr, dass sie in einem Mordfall ermittle, aber zunächst alles über Pascal wissen müsse, um ihn finden zu können.

„Können Sie mir etwas über sein Verschwinden sagen?“, begann sie.

Alina sah erschöpft aus. Trotzig schob sie die Lippen vor und schüttelte den Kopf.

„Du redest wie Miliz, ohne Herz. Aber ich gesagt, ich werde sprechen. Ich will, dass es Pascal geht gut, der kleine Hase. Ist Krolik. Eine Hase in die Erde. Wie sagt ihr?“

„Kaninchen?“

„Ja, der Kaninchen. Versteckt sich in jede Loch.“ Die Ukrainerin verstummte und warf Sunja einen Blick zu, als überlege sie, ob sie ihr vertrauen könne.

„Ich habe ihn in Bauch gehabt, hier“, sagte sie und legte beide Hände liebevoll über ihren Nabel. „Sie haben gesagt, vergiss es, aber du kannst nicht vergessen. Er hat in mir gelebt, er ist mein Sohn.“

Sie starrte aus dem Fenster.

Sunja sah sie neugierig an.

„Mein Sohn“, wiederholte Alina entschieden. „Donnerstag hab ich gesehen. Zweitausend Kilometer ich bin gefahren, damit ihn sehen. Aber nur von weit. Kleine Hase ist gelaufen aus Haus. Wollte bestimmt zu seine Versteck um die Ecke. In Strauch. Aber da war gleich das Auto, sie haben mitgenommen den Junge.“

„Wie sahen die aus, die ihn mitgenommen haben?“, fragte Sunja schnell.

„Ach, Maltschiki. Jungen, aber brutal. Mafia. Soldaten, ja? Sie sind schnell losgefahren. Ich stand mit Alex. Freund von Uni. Wir gleich hinterher.“

„Sie haben sie verfolgt?“

„Wir gefahren vorsichtig und gesehen, wie sie ihn in Hütte gemacht. Sie weg, und wir genommen kleine Krolik.“

„Wohin haben Sie Pascal gebracht?“

„Egal. Wo ist sicher. Gestern bin ich mit Krolik zu Odessa. Mit Alex, meine Freund von Uni. Er kannte Boss …“

„Wer ist der Boss vom Odessa? Kennen Sie seinen Namen?“

„Der Wolf. Heißt Sergej Chumtow. Alex wollte sprechen mit ihm. Weil wir alle wollten weg, nach England, verstehst du? Aber Mafia hat mich bekommen wie Maus, mit Käse. Sicher Alex auch ihre Soldat, hat Geld von sie bekommen. Er war weg, und sie haben Pascal genommen von mir. Ich hatte Angst. Denke, sie schneiden mir Hals.“ Sie machte eine Bewegung mit dem Zeigefinger über den Kehlkopf. „Aber sie haben mich gebracht zu dir. Na, du weißt das schon.“

„Was wollen denn Chumtow und seine Leute mit Pascal?“

„Mich suchen. Mich strafen, weil ich bin weg, vor ihnen, aus Ukraine. Ich ihnen gehöre.“

Beim letzten Satz zuckte Sunja zusammen. Kein Mensch gehört einem anderen, hätte sie am liebsten geantwortet. Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt für ethische Diskussionen.

„Wissen Sie, wo Pascal ist?“

Alina schüttelte den Kopf. Mit einem Mal wirkte sie völlig verzweifelt.

„Ich nicht gehen sollte! Von Odessa. Gestern!“, stieß sie hervor. „Dann ich arbeiten in Puff für sie. Oder tot. Aber er dann frei!“

Sie ließ den Kopf hängen, begann zu weinen, das Gesicht hinter den blonden Haaren verborgen. Ihr Schluchzen wurde heftiger.

Sunja setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schulter.

In den nächsten zwei Stunden kochte sie dreimal neuen Kaffee und erfuhr nach und nach alles über Alinas Leben.

Tawerowka, wo sie aufgewachsen war, lag ganz im Osten der Ukraine, verloren zwischen Wäldern und Seen. Es gab mehr Hütten als Häuser. Schlammige Wege und schiefe Gartenzäune. Ein Kirchlein mit Zwiebelturm. Die Kühe gingen abends allein nach Hause. Der Dnepr war breit wie ein Meer.

Alina wollte schon weg, als sie klein war. Einmal war sie ganz allein bis ins Nachbardorf gelaufen, das halbe Dorf hatte sie gesucht.

Die Mutter arbeitete, der Vater trank. Die meisten Männer tranken. Die Großmutter hatte ihr ein wenig Deutsch beigebracht. Und Alina lernte Englisch. Sie hatte einen Brieffreund in Glasgow. Der war ihr Tor zur Welt. In der Schule war sie gut. Aber der Vater wollte nicht, dass sie während der Woche im Internat in Charkow wohnte.

In Arkadij hatte sie sich früh verliebt, er schien ihr anders als die Männer, die sie kannte. Er interessierte sich für die Welt, war mit einem Freund in den Kaukasus und durch Russland gereist. Er trieb Kampfsport und war der Beste in der Fußballmannschaft. Aber dann erbte er von seinem Vater den Laden und wurde ein Geschäftsmann. Verkaufte Elektronik, die er aus Moskau und Sankt Petersburg besorgte. Die Leute aus dem Ort bewunderten ihn. Auf sein Drängen hin heirateten sie. Eine Familie wollte er und ein größeres Haus im Dorf.

Doch Alina wollte immer noch weg, alles war ihr zu eng, es gab keine Zukunft. Ihre Kinder sollten nicht dort aufwachsen. Sie stritten. Arkadij trank. Sie stritten mehr. Er trank mehr. Nachdem er sie das erste Mal geschlagen hatte, war sie zu einer Freundin nach Charkow gefahren und hatte sich versteckt. Die erzählte ihr von der neuen Klinik für Leihmütter und dass man viel Geld für ein Kind bekäme, 12.000 Euro. Alina brauchte Geld, wenn sie studieren wollte. Am liebsten in England, das war ihr größter Wunsch.

Sie vereinbarte einen Termin in der Klinik. Nett waren die Leute dort, zeigten ihr die hellen, freundlichen Räume. Alles sei ganz einfach, sie müsse sich nur einmal gründlich untersuchen lassen. Der Eingriff würde dann in einer der nächsten Wochen durchgeführt und sei unkompliziert. Nur verheiratet dürfe sie nicht sein, wegen der ausländischen Gesetze.

Noch in derselben Woche unterschrieb sie bei einem Anwalt den Vertrag und erhielt sogar einen Vorschuss. Sie verschwieg, dass sie einen Ehemann hatte. Von Arkadij wollte sie sich sowieso scheiden lassen. Voller Tatendrang schrieb sie sich an der Charkower Universität ein, um Sprachen zu studieren, Englisch und Spanisch. Doch als das Kind in ihr wuchs, wurde alles anders.

Das Band von Sunjas Diktiergerät war voll, es war Zeit für eine Pause.

Sie gingen auf den Balkon, rauchten und schauten schweigend den schnell davonwehenden Tabakwolken hinterher. Ein feiner Wind war aufgekommen, eine Wohltat nach den heißen Wochen. Am Himmel hatten sich ein paar Wölkchen gebildet.

„Bist du nur Miliz? Oder hast du Mann? Keine Kinder, nicht?“, fragte Alina unvermittelt.

Sunja zuckte innerlich zusammen. Sie mochte die junge Frau und war beeindruckt, wie diese sich trotz schwieriger Bedingungen durchkämpfte. Aber die Polizistin in ihr sah sie als mögliche Beteiligte in einem Mordfall, und da war eine gewisse Distanz unumgänglich.

„Wir haben uns auseinandergelebt, wie ihr“, sagte sie. „Mit Kindern hat es nicht geklappt. So, und wir beide fahren jetzt in mein Büro.“

Alina hob die Schultern und gähnte. „Ich will noch schlafen. Diese ganze Tage kein Bett, nitschewo.“

Sunja überlegte. „Gut, eine Stunde. Ich möchte schleunigst deine Aussage zu Protokoll nehmen und du musst es unterschreiben. Außerdem will ich den Rest der Geschichte hören.“

Sie lächelte und fragte sich, warum sie plötzlich zum Du gewechselt war.

Mit steif angewinkeltem Ellenbogen machte Alina eine Art Militärgruß. „Aye, aye, Sergeant. As you like it!“ Sie huschte ins Wohnzimmer. Durch die Balkontür sah Sunja, wie sie sich auf dem Sofa in die Decke kuschelte. Behutsam zog sie die Zimmertür zu und setzte sich an den Küchentisch.

Matthias meldete sich nach dem ersten Klingeln.

„Wie geht es dir?“

„Besser, danke. Wollte nur hören, was es Neues gibt.“

„Wir schaffen das schon, Sunja, kurier dich nur richtig aus! Ernesto ist auch grad wieder erkältet und hat Fieber, ich mach immer Quarkwickel und …“

„Ich habe kein Fieber! Ich will wissen, ob es neue Ermittlungsergebnisse gibt.“

„Ja, natürlich. Äh … HP hat die Adresse dieser Russin ausfindig gemacht, sie heißt … warte … Alina Dassol. Unter drei Alinas, die in den vergangenen Monaten aus dem Gebiet der ehemaligen SU eingereist sind, gab es nur eine, die blond ist und vom Alter her passt.“

Wie gut, dass du gerade nicht in mein Wohnzimmer gucken kannst, dachte Sunja. Laut sagte sie: „Super. Und sonst?“

„René ist noch mal zu der Sekretärin von der Schwarz. Er meint …“

„Stopp mal!“, rief Sunja. „Hat Frau Schwarz euch schon den Namen ihrer letzten Klientin vom Tattag mitgeteilt?“

„Eben nicht. Deswegen ist René ja hin!“

„Genau da stimmt was nicht“, entgegnete sie. „Die Sekretärin macht alle Termine, die hat einen Kalender. Da müssen die Namen der Klienten drinstehen! Warum kriegen wir ausgerechnet den einen Namen nicht, den der Klientin zur Tatzeit, auf den es ankommt? Hier geht’s nicht um Schweigepflicht, Matthias. Da steckt mehr dahinter. Die Schwarz muss einen Grund haben, uns den Namen nicht zu nennen.“

„HP meint, vielleicht war die Leihmutter bei ihr, diese Alina. Vielleicht sagt sie es deshalb nicht. Weil sie die angeblich nicht kennt?“

„René muss den Namen rauskriegen. Oder wenigstens eine Beschreibung der Klientin. Wär gut, wenn du ihm das noch mal durchgibst. Weiter?“

„Danach soll Preußer seine Aussage noch mal offiziell zu Protokoll geben. Ich bin am Laptop des Opfers. Vielleicht komme ich an das Passwort des USB-Sticks, bis jetzt hab ich noch nichts.“

„Das kann doch die KTU machen! Vielleicht hat das Ganze was mit Erpressung durch die russische Mafia zu tun. Wirtschaftskriminalität. Frag HP, ob er die Liste schon geprüft hat, auf der Ulrich Schwarz stehen soll. Von der die Staatsanwältin geredet hat. Da ist vielleicht was dran. Wenn nicht, klemmst du dich dahinter. Das ist wichtig.“

„Okay“, meinte Matthias. „Aber Mafia? Also, ich weiß nicht, Sunja.“

Sie legte auf. Im Kühlschrank herrschte gähnende Leere. Sunja überlegte, einen Pizzaservice anzurufen. Ein paar Lebensmittel hätte sie natürlich rasch besorgen können, doch der Gedanke, die Ukrainerin allein zu lassen, gefiel ihr nicht.

Zigaretten waren glücklicherweise ausreichend im Haus. Sie nahm eine neue Schachtel und ging durchs Wohnzimmer auf den Balkon.

Alina wachte auf und folgte ihr schlaftrunken.

Obwohl erst später Nachmittag, war es fast dunkel. Schwarze Wolkenberge hatten sich am Himmel zusammengeschoben, dazwischen sah man einzelne Streifen phosphorgelben Lichtes. Die Luft war wie elektrisiert. Heftige Windstöße fegten durch die Straße und wirbelten Staub und Papierfetzen auf.

„Wo wohnst du jetzt eigentlich?“, fragte Sunja.

„In Wohnheim für Studenten, seit eine halbe Jahr bin ich hier. Jana hat gesagt, ich …“

Später sollte sich Sunja vor allem an das hohe Surren erinnern, ähnlich dem Geräusch eines Bohrers beim Zahnarzt, und kaum an die ohrenbetäubende Explosion, den Regen von Glassplittern, die folgende Stille …

Jetzt aber reagierte ihr Körper instinktiv, sie warf sich auf Alina und riss sie zu Boden. Ein Surren wie von wild gewordenen Bienen, noch einmal knallte es. Der dritte Schuss schien die Balkonbrüstung zu treffen.

„Unten bleiben!“, brüllte sie und schob Alina hektisch über die Schwelle der Balkontür ins Innere der Wohnung. Geduckt rannte sie in den Flur, zerrte ihre Dienstwaffe aus dem Holster, hastete zurück, kauerte sich unter das Fensterbrett und steckte vorsichtig den Kopf über die Brüstung. Ihr Herz raste. Langsam kam sie nach oben und öffnete das Fenster.

In der Nähe war niemand zu sehen. Sunja beugte sich vor. Die Straße war so gut wie leer. Ein Mann mit Hund und eine kleine Frau mit Regenschirm waren mehrere Hundert Meter weiter zu sehen, beide gingen eiligen Schrittes in Richtung Frankfurter Allee.

Die ersten Tropfen klatschten schwer auf den Asphalt. Eine Windböe stülpte den Schirm der Frau nach vorn und riss ihn ihr fast aus der Hand.

Auf dem Forckenbeckplatz war niemand.

Von wo hatte man auf sie geschossen? Die Schüsse mussten aus nächster Nähe erfolgt sein. Die Entfernung zu einem der gegenüberliegenden Häuserblocks war für so einen gezielten Schuss viel zu groß.

Der Schreck saß ihr in den Knochen, doch im Moment schien keine weitere Gefahr zu bestehen. Sie rief nach Alina, erhielt aber keine Antwort. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie lief ins Wohnzimmer. Die Ukrainerin war weg. Schnell sah sie in alle Zimmer, rief ihren Namen und schaute sogar im Kleiderschrank nach. Erst als sie die offene Wohnungstür entdeckte, wurde ihr klar, dass Alina verschwunden war.

Die Zigaretten lagen auf dem Balkon. Dorthin wollte sie nicht. Sie zog die Tür zu, schloss ab, ging in die Küche, tastete mit zitternden Händen nach einer neuen Schachtel und riss sie auf. Nach ein paar hastigen Zügen rief sie in der Zentrale an und bat um einen Streifenwagen und die Spurensicherung.

Erschöpft sackte sie auf den Küchenstuhl. Die Angst griff wie eine eiserne Hand nach ihrem Hals. Ein Mordanschlag mitten am Tag! War sie gemeint gewesen oder Alina? Wie auch immer, jetzt konnte sie ihren Alleingang nicht mehr unter der Decke halten, und im Grunde war sie froh darüber. Sie vertrug einiges, aber einer solch ungezügelten Brutalität wollte sie nicht länger allein gegenüberstehen.

Am besten brachte sie den Ärger gleich hinter sich. In Erwartung einer scharfen Reaktion ihres Chefs wählte sie Böttchers Nummer. In diesem Moment brach draußen das Gewitter los. Es krachte ohrenbetäubend, ein Blitz zuckte vor dem Fenster und gleich noch einer. Der nachfolgende Donner grollte zwischen den Häusern, als wollte die Welt untergehen.

Anwalt Tschukin stand in Schlips und Kragen neben der Kraftbank, auf der Chumtow sein Hanteltraining absolvierte. Sein heruntergeleierter Rapport wurde nur vom gelegentlichen Schnaufen des Wolfs unterbrochen.

„… sind die Zigarettenschmuggler der Vietnamesen gestern fast alle aufgeflogen. Es muss einen Maulwurf gegeben haben. Ihr Boss hat angeboten, das Geschäft weiter für uns zu übernehmen. Wir haben wie üblich eine Probelieferung verlangt, also gut 80.000 Euro. Danach müsste über eine Zusammenarbeit entschieden werden … Die Angelegenheit mit den Matrjoschkas kommt langsam ins Laufen. Manchmal gibt es Probleme mit den Angehörigen, wenn die Frauen als vermisst gemeldet werden, aber da haben wir ja unsere Mittel … Bereich Abfallverschiebung: Da hat Kruschkin eine neue Quelle ausfindig gemacht. In unseren Technikfilialen kann man jetzt kostenlos Termine für das Abholen der Altgeräte vereinbaren, so schleust man die Ware an den Recyclinghöfen vorbei und kann gleich beim Neuerwerb eines Gerätes beraten. Ein sehr elegantes Modell, finde ich, da die Ware damit sicher in unseren Containern landet und nur noch am Zoll vorbeimuss. Aber das ist ja kein Problem, weil …“

„Weiter!“, schnaufte Chumtow mit verzerrtem Mund. Ein Schweißtropfen rann von seiner Stirn über die Schläfe.

„Bei den sauberen Geschäften haben wir im Gasverkauf Gewinneinbrüche von bis zu zwanzig Prozent zu verzeichnen, das hat sicher mit den politischen Gegebenheiten zu tun. Die Absatzlage erfordert …“

Es krachte. Der Wolf hatte das Gewicht in seine Halterung über dem Kopf befördert.

Jetzt setzte er sich auf, er keuchte.

„Gewinneinbrüche! Wie du wieder redest, Anwalt! So geschwollen! Ich hab nicht in England studiert, wie oft soll ich das sagen. Ich weiß, dass die Geschäfte schlechter gehen wegen der Kämpfe im Land. Aber erklär mir das mal genau!“ Er griff nach einem Handtuch und wischte den Schweiß von Stirn und Nacken.

Der Anwalt entfernte sich vorsichtig einige Zentimeter von der Bank und ließ die Mappe mit den Papieren sinken.

„Na ja“, stammelte er, „ich bin ja auch kein Betriebswirt. Der Westen hat Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland verhängt. Sie hoffen, dass die Russen ihre Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine aufgeben. Manche Politiker sprechen schon von der Möglichkeit eines dritten Weltkrieges. Mir scheint das übertrieben, die Russen sind halt, wie sie sind. Die haben sich doch genau wie die Amerikaner noch nie um den Rest der Welt geschert. Aber Bürgerkrieg gibt es schon. Im Osten die Banden russischer Separatisten in Donezk, Slawjansk und Luhansk. Da versucht das ukrainische Militär inzwischen Ordnung zu schaffen, mit begrenztem Erfolg. In Kiew eine zerstrittene Übergangsregierung, dort sitzt der vierte Präsident innerhalb von ein paar Jahren. Jedenfalls will der Westen mit dem Sperren von Konten und mit Einfuhrverboten Druck auf Putin ausüben, sie haben aber Angst vor seiner Reaktion. Ein Drittel der europäischen Öl- und Erdgasimporte stammt aus Russland, wir hängen an deren Tropf. Durch die Sanktionen ist der Rubel zwar auf Talfahrt, die europäischen Währungen sind aber auch gefährdet. Na ja, und weil der Hauptteil unseres Geschäfts immer noch in Russland liegt, sind wir natürlich betroffen. Das könnte sich ändern, wenn die Gasversorgung von Russland rationiert wird, dann steigen wieder die Preise. Man wird …“

„Was für eine Welt“, grollte der Wolf kopfschüttelnd. „Russland mit dieser Spitzmaus als Zar und die Deutschen, die kuschen müssen. Alles ist verdammt kompliziert geworden! Ich sag dir, Petka, als ich in Kiew angefangen habe, gab es nur eine einzige Kasse und die hab ich verwaltet. In den Obschag gingen alle Einnahmen, daraus hab ich die Leute bezahlt, und fertig. Wir hatten kein Bankkonto, verstehst du? Viel zu unsicher. Aber heute … Erzähl, was hast du noch?“

Und wie auf einem Spaziergang durch das Panoptikum der Menschheitssünden nahm Tschukin erneut seine Litanei auf.

Wieder einmal war Sunja beeindruckt von ihrem Chef. Er hatte ihr aufmerksam gelauscht und kein Wort der Missbilligung geäußert. War das Altersweisheit? Oder waren ihm solche Alleingänge wie ihrer in der letzten Nacht nicht fremd?

Sie hatte eine Kurzfassung der Ereignisse geliefert und lediglich ihr Treffen mit Frank Hollmeyer beim ersten Besuch im Odessa verschwiegen.

Böttcher hatte einen schriftlichen Bericht von ihr gefordert, darin sollte „bitte erwähnt sein, dass der Einsatz zu zweit durchgeführt und der Nachtklub erst zu später Stunde mit einer Zeugin verlassen worden war“. Er sei heilfroh, sagte er, dass ihr nichts passiert sei, und gehe davon aus, dass sie sich in Zukunft solche Aktionen zweimal überlege.

„Du bleibst da und wartest auf die Spusi“, hatte Böttcher gesagt. „Ich veranlasse das. Und lass dein Fenster reparieren. Wir sehen uns morgen früh.“

Er hatte eine Fallbesprechung anberaumt, für den nächsten Tag um acht. Ohne Staatsanwältin, um die Faktenlage zu klären.

Gewöhnlich konnte sie ihre Gedanken am besten sortieren, wenn sie diese aufschrieb, aber heute war sie zu aufgeregt. Sie saß in der Küche vor dem Laptop und grübelte über dem Bericht. Was sollte sie erwähnen, was weglassen? Sollte sie auf eine mögliche Täterschaft der Mafia verweisen?

Endlich war der Glaser fertig.

Sunja fegte den letzten Dreck zusammen. Auch die Kollegen der Spurensicherung waren inzwischen abgerückt, die Ergebnisse bisher dürftig, obwohl sie die Proskauer Straße zwischen ihrem Haus und dem Forckenbeckplatz großräumig durchkämmt hatten, und das im Dunkeln bei strömendem Regen. Lediglich drei leere Patronenhülsen hatten sie auf dem Gehweg vor ihrem Haus gefunden, eindeutig Pistolenmunition, doch die lag so nah an der Hauswand, dass Schüsse von dort unten aus auf den Balkon in der dritten Etage schlicht unmöglich waren. Die Kollegen meinten, sie würden alles gründlich auswerten und Böttcher die Analyse zukommen lassen. Aber das könne dauern.

Hatte der Täter versucht, die Spur zu verwischen? Dann hätte sie ihn aber doch sehen müssen, als sie kurz danach aus dem Fenster geschaut hatte. Und sowohl der Mann mit dem Hund als auch die Frau mit dem Schirm waren viel zu weit weg gewesen.

Sunja schüttelte den Kopf und klappte den Laptop zu. Sie war fix und fertig. Den Bericht würde sie am nächsten Morgen schreiben, sie konnte ja früh genug aufstehen. Nachdenklich goss sie sich ein Glas Rotwein ein, ging in die Stube hinüber und schaltete den Fernseher ein.

Nach dem Weckerklingeln rief René an und teilte ihr mit, er habe Scheffler vom BKA zur Besprechung eingeladen und ihm das Wichtigste zum Fall dargelegt.

Ihr wurde flau im Magen, was sicher nicht am fehlenden Frühstück lag. Bald musste sie von den Erlebnissen der letzten vierundzwanzig Stunden berichten und die Fragen der Kollegen über sich ergehen lassen. Die würden wenig begeistert sein von ihrem Soloeinsatz. Teamarbeit sah anders aus. Darüber hinaus würde die Geschichte im gesamten LKA die Runde machen, nichts funktionierte in dieser Behörde so gut wie der Buschfunk. Wenigstens wusste Böttcher schon Bescheid und würde sich hoffentlich vor sie stellen, falls es Ärger mit der Staatsanwältin gäbe. Rasch schrieb sie den Bericht zu Ende und schickte ihn an ihren Chef.

Die frische Luft tat ihr gut. Es nieselte. Ihr Auto sah erstaunlich sauber aus, die Straße glänzte und die Kastanienbäume vor der Haustür wirkten lebendiger.

Der Besprechungsraum dagegen war trotz des Vortagsgewitters noch immer aufgeheizt. Seit der Asbestsanierung fiel im LKA gelegentlich die Klimaanlage aus.

Sunja schilderte die vergangenen Ereignisse so kurz und sachlich wie möglich. Erfreulicherweise brauchte sie die Sache nicht vor dem BKA-Mann auszubreiten. Er hatte mitgeteilt, dass er später käme.

Nachdem sie fertig war, sah sie in die Gesichter der Kollegen. Alle starrten sie an. Matthias hatte sein Tablet beiseitegeschoben und stieß hörbar die Luft aus. René drehte nervös eine Locke um den Finger. In HPs Gesicht lag eine Mischung aus Entsetzen und anbetender Bewunderung.

„Mensch, Sunja, hast du Schwein gehabt!“, brach es aus ihm heraus.

„Fragen dazu bitte noch verschieben“, unterbrach ihn Böttcher. „Zuerst möchte ich die Neuigkeiten im Fall Weitlinger hören, auch Vorschläge zur weiteren Vorgehensweise. Über den Pädophilie-Verdacht der Staatsanwältin werden wir reden, wenn der Kollege vom BKA da ist.“

HP berichtete von seinen Recherchen zu Alina Dassol. Gemeldet war sie in der Storkower Straße 72, einem Studentenwohnheim. Er war schon dort gewesen, hatte sie aber nicht angetroffen. Inzwischen war sie zur Fahndung ausgeschrieben. Er hatte auch Ulrich Schwarz befragt, von ihm jedoch wenig mehr erfahren, als sie bereits wussten. Der Mann war HP depressiv erschienen, natürlich konnte dies auch vorgetäuscht oder eine Folge seiner Verletzungen sein.

Peter Tienemann hatte er mit der Aussage unter Druck gesetzt, er sei einer ihrer Hauptverdächtigen, da nur seine Frau seinen ersten Aufenthalt am Tatort bestätigen könne und er aufgrund von Janas Ablehnung ein starkes Motiv gehabt habe. Dieser war in Tränen ausgebrochen und hatte sich in einen Weinkrampf hineingesteigert. Auf HPs Frage, ob er öfter die Nerven verliere, hatte er angegeben, wegen Burn-out in Behandlung zu sein. Er sei beruflich überfordert, auch in der Ehe stehe es nicht zum Besten. Seine Beziehung zu Jana hatte er als etwas Heiliges hingestellt und geschworen, er hätte ihr niemals etwas antun können. HP hatte sich die Adresse seines Therapeuten geben lassen. Gleich darauf war es zu einer unschönen Szene mit Larissa Tienemann gekommen, die HP angeschrien hatte, sie hätten ja nun genug durchgemacht. Sie war sogar handgreiflich geworden, hatte versucht, ihn aus der Wohnung zu schieben, und erst abgelassen, als er mit einer Anzeige gedroht hatte.

„Kurz gesagt“, beendete HP seinen Bericht, „ich weiß mal wieder, warum ich single bin …“

Sunja wollte wissen, was Renés Besuch bei der Sekretärin von Frau Schwarz ergeben hatte.

„Eine nette, kooperative Frau“, meinte dieser. „Aber als ich sie auf die Klientin vom Mordtag ansprach, wurde sie unruhig. Wenn du mich fragst, der hat ihre Chefin verboten, den Namen zu nennen. Hab mit Engelszungen auf sie eingeredet, Behinderung der Ermittlungen in einem Mordfall und so.“

„Jetzt mach’s nicht so spannend!“

„Schließlich hat sie ihr Bestellbuch aufgeschlagen“, fuhr er fort, „und es mir rübergeschoben. Und jetzt haltet euch fest. Die ersten beiden Klienten waren korrekt eingetragen, Name, Uhrzeit, die Zeiten stimmten mit denen überein, die sie mir vorher gesagt hatte. Aber dann, um 11.45 Uhr, war nur ein Kreuz. Kein Name.“

„Ein Kreuz?“

„Ein großes X. Anweisung, sagt sie. Manche Klienten wollten ihre Anonymität wahren, dann dürfe sie nur ein Kreuz machen. Und den Namen der Frau wisse sie wirklich nicht. Aber die sei schon oft da gewesen, und jedes Mal hätte ihre Chefin danach schlechte Laune gehabt.“ René lächelte geheimnisvoll. „Na ja, dann haben wir noch ein bisschen geplaudert, und irgendwann hab ich gefragt, wie die Frau denn aussah. Ich dachte ja die ganze Zeit an diese Alina. Aber sie meinte, eine Russin sei das nicht gewesen, sie hätte akzentfrei Deutsch gesprochen. Und dann beschrieb sie sie mir und ich dachte, mich tritt ein Pferd. Sie beschrieb mir Martha Junik!“

„Was?“, rief Sunja. „Verdammt, ich Idiot!“ Plötzlich wusste sie, was sie die ganze Zeit vergessen hatte, was sie nicht hatte greifen können. Das fehlende Puzzlestück war die Aussage Martha Juniks zu ihrem Alibi!

„Die hat mir was von einer Rechtsberatung erzählt“, sagte sie. „Am 27. April mittags. Und ich Depp hab vergessen, mir die Adresse geben zu lassen und das Alibi zu prüfen! Eine Rechtsberatung wegen Unterhaltszahlungen … Wieso Unterhaltszahlungen? Ist doch Unsinn. Sagt mal, sollte die Junik über Jana Weitlinger von der Leihmutterschaft erfahren und Familie Schwarz erpresst haben? Gibt es eine Beziehung zwischen ihr und der Anwältin?“

René bot an, das herauszufinden. Er wollte erst mit Martha Junik sprechen, ihr Alibi überprüfen und dann Frau Schwarz damit konfrontieren.

„Nein, andersherum. Erst gehst du mit einem Foto von der Junik noch mal zur Sekretärin“, schlug Sunja vor. „Und wenn sie es war, fragst du die Anwältin, was sie bei ihr wollte! Okay, was haben wir noch?“

Matthias berichtete, er suche noch immer nach möglichen Schlüsselwörtern für den USB-Stick von Jana Weitlinger.

Gerade als Sunja eine Liste der verbliebenen Verdächtigen erstellen wollte, traf Scheffler vom BKA ein, ein älterer, durchtrainierter Mann in Lederjacke. Seine Botschaft war eindeutig: Der Ulrich Schwarz auf der Liste mit den Pädophilen war ein anderer als Pascals Vater. Offenbar war Frau März einer Namensgleichheit aufgesessen. Scheffler äußerte sein Befremden darüber, dass eine Staatsanwältin, die nur kurz Praktikantin bei ihm gewesen sei, ihre Informationen in anderen Zusammenhängen verwandte.

Damit hatte sich eine weitere Spur in Luft aufgelöst.

Der Blick, den Scheffler Sunja zuwarf, sprach Bände.

Sie war sich sicher, Böttcher hatte ihn über ihren Soloeinsatz im Odessa und die Vorfälle in ihrer Wohnung informiert.

Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln bat Sunjas Chef den BKA-Mann, ihnen etwas über seine Erfahrungen mit der Russenmafia in Berlin zu erzählen.

„Ach, wissen Sie“, entgegnete Scheffler, „zum Thema organisierte Kriminalität könnte man gut ein fünftägiges Seminar halten. Mit Sicherheit würde man dann zwei Drittel der Zeit nur über Vermutungen reden. Wie bekannt sein dürfte, war die deutsche Polizei allein vierzig Jahre damit beschäftigt, den Begriff der OK überhaupt zu definieren. Diese jahrzehntelange Blauäugigkeit und der Glaube, in unserem Land gäbe es so etwas nicht, haben dazu geführt, dass unser Handlungsspielraum heute auf diesem Gebiet geradezu lächerlich gering ist. Gut, inzwischen ist amtlich, dass es auch bei uns mafiöse Strukturen gibt, das würde niemand mehr ernsthaft bezweifeln. Der Irrtum aber, dass organisiertes Verbrechen immer mit großen Delikten einhergehen muss, hält sich hartnäckig. Stattdessen ist die fast unübersehbare Anzahl von kleinen bis mittleren Delikten das wirkliche Problem. Schutzgelderpressung, Prostitution, illegales Glücksspiel, Betäubungsmittel, Güterdiebstahl, Schwarzarbeit, Billiglöhne, Bauspekulation … ach, einer Ermittlung aufgrund einer konkreten Straftat hält dieses unsichtbare Geflecht mühelos stand. Und was die Ermittlung von Drahtziehern oder Mittätern betrifft, ist es quasi dasselbe, wir haben nie genug Informationen, weil niemand von denen redet.“ Scheffler guckte in die Runde. Er wirkte frustriert. „Bei der Russenmafia wird es noch spezieller“, fuhr er fort. „Bisher hat erst ein Gericht bestätigt, dass es sie als kriminelle Vereinigung überhaupt gibt. Ihre Struktur hat jedenfalls nichts mit dem zu tun, was man sonst unter organisierter Kriminalität versteht. Das sind einzelne Banden, die autark arbeiten, wie bei islamistischen Zellen. Ihr Boss hat den Draht zur ‚Autorität‘, wie das bei denen heißt. Der kleine Verbrecher kennt den nie persönlich. Oft weiß er nicht mal, dass es ihn gibt. Die obere Ebene hat Gebiete und Geschäftsbereiche aufgeteilt, darüber wird auf den Treffen der Bosse regelmäßig diskutiert. Sie haben sogar einen Vermittler bei Streitigkeiten, alles ziemlich professionell.

Geldwäsche ist ihr wichtigster Geschäftszweig, ein Teil unserer Wirtschaft funktioniert sozusagen durch Mafiagelder, milde ausgedrückt. Die ehrenwerten Herren gehen mit Politikern essen, reden mit Konzernchefs über Märkte, manipulieren Presse, Richter oder Schöffen. Jedenfalls kriegst du von den großen Bossen keinen dran. Außerdem sind wir mit unserer Ausrüstung im Vergleich zu denen im Mittelalter stehen geblieben, selbst beim BKA. Ist der Politik eben alles zu teuer. Oder zu heikel, weil eben zu viel Macht dahintersteckt. Bei den meisten Politikern ist ohnehin bis heute nicht angekommen, welche Gefahr von diesen Organisationen ausgeht. Dabei würden ein gezielteres Vorgehen und eine höhere Aufklärungsrate garantiert Unsummen in die Staatskassen spülen.“

„Habt ihr Infos über den Nachtklub Odessa?“, fragte Böttcher.

Scheffler winkte ab. „Bleib mir bloß mit denen vom Leib. Was meinst du, wie viele Razzien wir da schon gemacht haben. Mal ein bisschen Rauschgift, mal eine kleine Erpressung oder Körperverletzung. Das war’s. Immer kleine Fische. Und die reden nicht, das wäre ihr Ende. Eingesessen zu haben ist dagegen eine Ehre bei ihnen. Der Klub gehört einem gewissen Chumtow. Prostitution und Drogenhandel, das Übliche. Einmal gab es sogar eine Anklage, natürlich wurde er freigesprochen. Soll gute Beziehungen zum Bausenator unterhalten, der verkehrt auch gelegentlich im Odessa. Wie kommst du eigentlich aufs Odessa? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Chumtow sich für eine Entführung interessiert. Wenn der was genug hat, dann Geld. Da müsste schon noch was anderes dahinterstecken.“

Bei dem Namen Chumtow zuckte Sunja zusammen. „Wissen Sie, ob der Mann bei Leihmutterschaften seine Finger im Spiel hat?“, erkundigte sie sich. „Erpressung der Auftraggeber, weil das illegal ist? Oder irgendeine Ausnutzung der Leihmütter?“

Scheffler wirkte irritiert. „Leihmütter? Nicht, dass ich wüsste. Aber Sie können davon ausgehen, dass den sauberen Herren jedes menschliche Elend recht ist, wenn sich daraus Dollars prägen lassen. Diese Währung hat übrigens bei allen Russen einen geradezu mystischen Ruf.“

Gemeinsam versuchten sie, Hypothesen zum Mord an Jana Weitlinger mit einer Beteiligung der Mafia zu konstruieren.

Die direkteste Verbindung lief über Alina Dassol. Wenn deren Aussagen stimmten, kam sie als Tatverdächtige nicht infrage. Sunja gegenüber hatte sie behauptet, die Mafia habe das Kind entführt, um sie in die Falle zu locken. Aber warum waren die hinter ihr her, versuchten sie sogar zu ermorden? Ein Racheakt? Oder war Alina ungewollt Geheimnisträgerin geworden und sollte deshalb verschwinden?

Scheffler hielt nicht viel von der Hypothese eines Racheaktes, die archaischen Zeiten seien auch bei den Russen vorbei, meinte er. Obwohl, wissen könne man nie.

Und warum hatte Jana Weitlinger sterben müssen? Sie hatte Kontakt zu Alina gehabt. Gab es etwas, das beide wussten und das der Mafia Schaden zufügen konnte? Hier fehlte ein Verbindungsstück, wenn es denn existierte. Vielleicht würde die Tatortanalyse aus Sunjas Wohnung neue Erkenntnisse bringen, die Ergebnisse standen noch aus. Trotz der geringen Erfolgswahrscheinlichkeit einigte man sich darauf, eine Durchsuchung des Odessa vorzunehmen, um eventuell auf Spuren von Sunjas Entführern zu stoßen.

Böttcher notierte etwas, sein Füller kratzte über das Papier, da hörte Sunja es wieder.

Das Surren.

Es durchschnitt ihren Magen, eine Welle von Eis flog auf sie zu, ihre Hände umkrampften die Tischplatte.

HP sah sie groß an. Sein besorgtes Gesicht bewegte sich auf sie zu.

Sunja schoss nach oben, ihr Stuhl fiel zu Boden, sie rannte zum Fenster und zog im Laufen ihre Waffe. Diesmal riss sie die Fensterflügel auf, ohne an Deckung zu denken. Mit der Waffe in der Hand lehnte sie sich über die Brüstung, sicherte nach links, nach rechts, nach unten …

Nichts.

Sie ließ die Waffe sinken. Ihr Atem tobte.

Nach oben sah sie nicht.

Sonst hätte sie vielleicht das kleine stählerne Insekt bemerkt, das vor der Dachrinne des Hinterhofgebäudes schwebte.

Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band

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