Читать книгу Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band - Sascha Behringer - Страница 19

IX. Verlorene Kinder

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Jedenfalls sind meine Eltern nicht an mir schuld.

- Adolf Muschg -

Erst vor dem Klinikum merkte Sunja, wie angenehm kühl es drinnen gewesen war.

Sie rief den Chef der Vermisstenabteilung an. Von Pascal gab es nichts Neues. Zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung waren eingegangen, genau wie Sörensen vermutet hatte, doch keiner hatte eine Spur ergeben.

Frustriert stieg sie ins Auto, lehnte sich zurück und sah das Bild Pascals vor sich. Segelohren, Strubbelhaare, große dunkle Augen. Bitte, dachte sie, bitte lass ihn noch leben.

Sie hatte Hunger und beschloss, noch irgendwo etwas zu essen, bevor sie nach Hause fuhr. Dort wartete der Brief ihres Vaters. Sie musste ihn endlich lesen.

Wenn er zu schrecklich für sie wäre, würde sie doch Silvia überfallen. Sie musste sie endlich mal sehen. Ihr war schon klar, dass man Freundschaften pflegen musste, nur war ihr Beruf dazu denkbar ungeeignet. Über die Jahre war Silvia die Einzige geblieben, die immer wieder Verständnis für ihre begrenzte Zeit aufbrachte.

Auf der Fahrt dachte sie an Frank. Und an diesen unheimlichen Russen, der sich im Odessa über Frank und sie lustig gemacht hatte. Und sie ertappte sich bei dem Wunsch, Frank möge bald mit konkreten Hinweisen anrufen.

Paris, 19.9.1976

Mein liebes kleines Mädchen!

Dein Papa schreibt Dir aus einem fernen Land. Frankreich. Bekomme bitte keinen Schreck. Mir geht es gut. Ich habe auch Mama einen Brief geschrieben, sie weiß also Bescheid und kann Dir alle Fragen beantworten. Du wirst traurig gewesen sein, weil ich an Deinem Geburtstag nicht mehr nach Hause kam. Ich musste eine Entscheidung treffen. Ich musste meinem Zirkus helfen und konnte es Dir nicht sagen. Dein Papa hat Dich lieb, Sunja. Du sollst wissen, dass ich Dir nicht wehtun wollte. Ich habe es trotzdem getan, und es tut mir leid. Manchmal gibt es im Leben Momente, wo man nicht alles richtig machen kann. Bald bin ich wieder zu Hause. Ich verspreche Dir, dass wir Deinen Geburtstag dann groß nachfeiern, mit Zauberkunststücken, die Du noch nie gesehen hast.

Hat Dir mein Geschenk gefallen? Hast Du die Musik schon angehört? Mein liebes Mädchen, ich denke immer an Dich. Und wenn ich wieder da bin, zeige ich Dir Bilder von der weiten Welt! Von unserem Zirkuszelt aus sieht man sogar den Eiffelturm. Das ist ein riesiger Turm aus Eisen. Ich freue mich, Dich bald wiederzusehen und in die Arme schließen zu können. Sei mir bitte nicht böse, meine Kleine.

Dein Dich liebender Papa

Sie ließ den Brief sinken.

Dein Dich liebender Papa. Geburtstag. Zaubern. Paris. Zirkus. Eiffelturm. Musik … Die Worte jagten durch ihren Kopf und erzeugten merkwürdige Bilder. Plötzlich war sie wieder acht Jahre alt, hockte auf dem Teppich im Wohnzimmer, zog die rote Schleife ab und packte die Schachtel aus, die der Vater ihr morgens gegeben hatte. Ein Kassettenrekorder. Ein schwarzer Kasten mit silbernen Tasten. Und zwei Musikkassetten. Sie freute sich! Trug den Kasten in die Küche und legte eine Kassette ein. Der Traumzauberbaum. Sie war selig. Papa hatte ihren Wunsch erfüllt. Mama schimpfte über die Verschwendung. Aber Karin, Renate und Tina beneideten sie. Sie saßen am Tisch, mit dem Rekorder, der Musik, dem Kuchen, der schimpfenden Mutter, und warteten auf den Vater. Warteten, warteten …

… Sei mir bitte nicht böse, meine Kleine. Dein Dich liebender Papa …

„Papa“, flüsterte sie. Ihre Finger krallten sich in den Stoff der Couch. Sie wurde von Schluchzen geschüttelt, streichelte den Brief, legte ihn an ihre Wange und küsste ihn. Noch nie war die Sehnsucht nach ihm so stark gewesen. Erschrocken nahm sie das Blatt herunter und sah es an. Ihre Tränen hatten die Tinte verwischt.

Ihr Blick fiel auf das Datum. Paris? 1976? Dann war ihr Vater aus der DDR geflohen? Und die Mutter hatte Bescheid gewusst? Die Mutter hatte Post von ihm bekommen. Nur ihr hatte kein Mensch etwas erklärt. Und was sollte das bedeuten, dass er bald wiederkommen würde? Er war nie wiedergekommen … Immer hatte sie gewartet auf ihn. So viele Jahre.

Dein Dich liebender Papa …

Sie legte den Brief auf den Tisch. In der Speisekammer fand sie eine Flasche Merlot, trug sie in die Stube, holte das Bild ihres Vaters und legte es neben den Brief. Mit Zigarette und Weinglas setzte sie sich auf die Couch und sah das Foto an.

Der Ärger über ihre Mutter war eine Sache. Sie würde sie zur Rede stellen und keine Ausflüchte mehr gelten lassen. Aber das Versprechen des Vaters, bald wiederzukommen, löste neue und immer neue Wut in ihr aus. Nicht nur, dass er sich aus dem Staub gemacht hatte, er hatte sie in dem Brief auch noch belogen! Darüber geriet sie derart außer sich, dass sie um ein Haar seine anderen Briefe ungelesen in tausend Schnipsel zerrissen hätte. Sollte er doch in der Hölle schmoren, dieser verdammte Vater!

Energisch griff sie nach den restlichen Kuverts und warf sie in die erstbeste Schublade.

Nach dem zweiten Glas Wein fiel ihr Pascal ein. Sie hatte wenigstens einen Vater, wenn auch einen verschwundenen. Der kleine Junge wusste noch nicht mal eindeutig, wer seine Mutter war!

Sie versuchte sich auszumalen, dass ihre Mutter gar nicht ihre leibliche Mutter wäre. Dass es irgendwo auf der Welt eine Frau gäbe, eine Frau ohne Namen, in deren Bauch sie herangewachsen wäre … Eine absurde Vorstellung.

Pascal war nicht das Kind der Schwarzens.

Warf das nicht ein neues Licht auf den Fall? Wie empfand eine Frau, die sich ein Kind wünschte und keins bekommen konnte? Wie, wenn gar ihr Selbstwert davon abhing? Und wie sollte sie mit einem Kind umgehen, das sie jeden Tag daran erinnerte, dass sie in diesem Punkt versagt hatte? Das musste demütigend sein. Konnte so jemand sein Kind überhaupt lieben? Und Maria Schwarz hatte sich eigenartig benommen. Einerseits so kalt, andererseits hysterisch. Ihre aggressive Reaktion im Keller vor dem Kaninchenstall. Ihre merkwürdige Flucht aus dem Krankenhaus. Die Tatsache, dass sie nicht, wie andere Eltern, jede Stunde anrief und fragte, ob man ihr Kind schon gefunden habe. Dieses Verstummen, vorhin im Krankenhausflur. Die unheimliche Starrheit … Das passte alles nicht zusammen.

Doch Maria Schwarz hatte ein Alibi. Und am Tatort war sie zusammengebrochen. War sie lediglich eine gute Schauspielerin?

Aber wenn Pascal eine russische Leihmutter hatte, konnte es dann nicht sein, dass diese den Jungen geholt hatte? Das wäre zwar immer noch Kindesentführung, doch der Gedanke an die leibliche Mutter hatte etwas Tröstliches. Doch wie hatte sie die Schwarzens gefunden?

Mit Weinglas und Zigarette trat sie auf den Balkon. Kurz vor Mitternacht roch die Luft angenehm frisch. Sie sah auf die Proskauer Straße hinunter, in der junge Leute die Nacht zum Tag machten. Gruppenweise schlenderten sie in Richtung Frankfurter Allee, saßen auf den Spielgeräten des Forckenbeckplatzes herum oder bevölkerten die Bürgersteige vor den Cafés.

Wenn diese Alina die Leihmutter war und wenn sie am Tatort aufgetaucht war, musste man sie finden können.

Nach kurzem Zögern angesichts der späten Stunde wählte sie die Nummer von Familie Schwarz. Auf die Frage nach dem korrekten Namen der Leihmutter erwiderte Frau Schwarz, Alina wäre wohl nicht ihr richtiger Name. Er hätte nur unter dem Foto in der Datenbank gestanden. Ein Nachname sei nicht angegeben gewesen.

HP war gut in solchen Sachen. Sunja schrieb ihm eine SMS mit der Bitte, den Nachnamen einer Alina zu ermitteln, vermutlich ukrainische Staatsbürgerin, die sich zurzeit in Deutschland aufhalte. Außerdem solle er Kontakt zur Klinik in Donezk aufnehmen, um herauszufinden, wer sich hinter dem Namen Alina verberge. Danach bat sie Matthias, alles zum Thema Leihmutterschaft und entsprechender Rechtslage zu recherchieren.

Gerade als sie das Handy aus der Hand legen wollte, sah sie, dass das Display zwei ungelesene Nachrichten anzeigte. Die erste war von Frank. Die zweite Nummer kannte sie nicht.

Neugierig öffnete sie das Postfach und las zuerst Franks Nachricht:

Hat was mit Sergejs Leihmutter-Geschäften zu tun. Ich bleibe dran. LG Frank

Das passt, dachte Sunja. Da bin ich sogar vor dir drauf gekommen. Aber Sergej? Warum Sergej?

Als sie die zweite Nachricht las, zuckte sie zusammen.

Schöne Frau Kommissar. Wir brechen Knochen, auch von Polizeitussis. Vielleicht hat Matrjoschka den Kleinen. Er lebt nicht mehr lange, wenn du vom Odessa redest und mich störst. Du weißt, was ich meine. Pass auf deine Mund auf. Sergej

Sie schluckte. Das war ungeheuerlich. Hatte er den Jungen in seiner Gewalt? Was sollte sie jetzt machen?

Gegen eins fiel sie ins Bett. Ihre Nacht war unruhig und traumreich.

Er erwacht auf einem Teppich.

Es ist warm und still. Das Zimmer ist groß. Eine Lampe brennt an der Decke. Ein Fenster gibt es nicht.

Er setzt sich hin, reibt sich die Augen und sieht sich um. Wo ist die Frau mit den Sternenaugen? Er ist allein. Neben ihm liegt eine hölzerne Puppe. An den Wänden sind Regale mit Kisten aus Pappe.

Pascal hat Durst.

Er erinnert sich. Die Frau ist mit ihm zu einem großen Haus gegangen. Sie hat gesagt, hier ist das Loch, hier verstecken wir uns, Krolik. Er hat gefragt, warum sie sich denn verstecken müssen. Damit wir ein gutes Leben haben, hat sie gesagt. Ein schönes Leben, du und ich, zusammen.

Dann waren sie in das Haus gegangen, und die Frau hat mit einem Mann gesprochen. Dabei hat sie ihn die ganze Zeit fest an der Hand gehalten. Dann kam noch ein Mann. Und dann haben die Erwachsenen sich gestritten. Er hat die Männer nicht verstanden. Aber sie wollten die Mamuschka mitnehmen, die seine Hand hielt. Da hat er so laut geschrien, wie er konnte. Aber sie haben sie trotzdem mitgenommen.

Und dann ist ein Mann gekommen, dick wie ein Elefant, mit Bildern auf dem Arm. Der hat ihn weggetragen. Der hat gesagt, jetzt kann er bei ihm Karussell fahren, wenn er Lust dazu hat. Er hat gar keine Lust gehabt, aber der Mann hat ihn trotzdem in einem riesigen Zimmer in einen Sessel gesetzt und gedreht. Er hat ihm eine Puppe aus Holz geschenkt, die Babys im Bauch hatte, und ihm gezeigt, wie man sie nacheinander aufmacht. Und dann hat er ihm ganz viele glitzernde Bonbons in die Hosentasche gesteckt und gelacht.

Weiter weiß er nicht mehr.

Er hat Durst.

Pascal nimmt die Holzpuppe, dreht sie auf und holt ein Baby nach dem anderen aus ihrem Bauch heraus. Die Babys werden immer kleiner. Sie sind bunt angemalt. Er schaut sie sich genau an und findet, dass sie traurig aussehen. Er sortiert sie der Größe nach und stellt sie so in einem Kreis um sich herum, dass sie ihn alle angucken.

Aber er hat Durst. Er weint. Er will keine Holzbabys mehr anschauen. Er will was trinken. Er heißt nicht Krolik. Er heißt Pascal. Er will nicht in dem Zimmer sein. Er will nach Hause zu Papa.

Papa soll ihn holen kommen. Jetzt gleich!

Er weint. Er schreit.

Papa kommt nicht.

Pascal steht auf und sucht etwas zu trinken. Nirgendwo ist eine Flasche mit Saft oder Tee oder Milch. Einen Wasserhahn gibt es auch nicht. Und in den Regalen sind nur die Kisten. Er macht einige von ihnen auf, aber da ist nur Papier drin.

Vielleicht kann er ja weglaufen? Er geht zur Tür, sieht zur Türklinke hoch, stellt sich auf die Zehenspitzen und versucht, sie mit der Hand zu erreichen. Aber er ist zu klein. Er sieht sich im Zimmer um, geht zu einem Regal und zieht eine Kiste aus dem unteren Fach heraus. Die Kiste ist schwer. Pascal stemmt sich auf dem Fußboden ab und schiebt die Kiste vor sich her bis zur Tür.

Jetzt hat er noch mehr Durst. Seine Zunge klebt im Mund und fühlt sich ganz trocken an.

Er klettert auf die Kiste, packt die Türklinke mit beiden Händen, drückt sie herunter und zieht. Er zieht mit aller Kraft. Er rüttelt an der Tür.

Die Tür ist abgeschlossen. Er ist eingesperrt!

Pascal beißt die Zähne zusammen. In seinem Bauch wird es heiß. Immer heißer. Das ist das Wutmonster. Das wird immer größer. Das tobt! Er klettert von der Kiste herunter und stampft mit den Füßen auf. Er will nicht mehr eingesperrt sein! Er will zu Papa! Jetzt! Er tritt gegen den Karton. Noch mal. Und noch mal! Aber das reicht nicht. Er tritt gegen die traurigen Holzpuppen. Sie fliegen durchs Zimmer. Er rennt zu ihnen und trampelt auf ihnen herum, so fest er kann. Das Monster ist ganz stark. Es will alles kaputtmachen!

Er trampelt und trampelt. Drei Puppen zerbrechen. Eine mitten im Gesicht. Die anderen sehen ihn immer noch an.

Jetzt muss er weinen. Und ganz nötig pullern muss er auch. Doch es gibt kein Klo.

Pascal guckt sich um. Er sucht im Regal nach einem Karton, der nicht so schwer ist, findet einen, zieht ihn in eine Zimmerecke, macht ihn auf und pullert hinein. Mitten auf das Papier.

Seine Tränen tropfen auch in den Karton. Sie schmecken salzig.

Ob Papa ihn sucht? Hoffentlich kommt er bald.

Er geht wieder zum Teppich zurück. Dann legt er sich auf den Bauch. Irgendwann schläft er ein.

Zum Montagsreport um elf war im LKA nur die Stammbesetzung da, der Rest war mit den Maidemonstrationen beschäftigt. Matthias’ Frau war krank, und er hatte notgedrungen seinen Jüngsten mitgebracht. Nur für ein paar Stunden, wie er sagte. Er ging vor dem Schreibtisch auf und ab, das Baby hing im Tragetuch vor seiner Brust und schlief.

Staatsanwältin März hatte am Tag der Arbeit offenbar nicht vor aufzutauchen.

Böttcher eröffnete die Besprechung mit der Feststellung, Pascal sei immer noch nicht gefunden worden. Der Chef wirkte deprimiert und elend. Die Chancen, den Jungen lebend zu finden, sanken mit jeder Stunde, das war allen klar.

Sunja biss sich auf die Lippen. Die Beamtin in ihr wollte auf der Stelle alle Informationen weitergeben. Doch Frank hatte gemeint, er würde ihr nur weiterhelfen, wenn sie auf ihrer Dienststelle dichthielt. Wenn sie jetzt von dem Treffen berichten würde, wäre im Odessa in kürzester Zeit die Hölle los. Bestenfalls lachte der Russe sie aus. Schlimmstenfalls hatte er wirklich das Kind und sie würde es zusätzlich gefährden. Vorerst mussten sie einfach in alle Richtungen weiter ermitteln. Sie entschied, ihr Treffen mit Sergej und Frank zu verschweigen. Stattdessen berichtete sie vom Krankenhaus, von Frau Schwarz und den dort ermittelten Fakten.

Ihre Idee, dass vielleicht die ukrainische Mutter das Kind zu sich geholt haben könnte, schien Böttcher aber nicht aufzumuntern.

„Leihmutterschaft und ein Kind aus der Ukraine?“, fragte er müde und sah Sunja nachdenklich an. „Ich glaube, wir haben die Leute gehörig unterschätzt. Sei nicht zu optimistisch.“ Er blickte in die Runde. „Was habt ihr sonst?“

HP hatte eine russischsprachige Kollegin gebeten, im Leihmutter-Institut in Donezk anzurufen. Dort war von den Verantwortlichen allerdings niemand zu sprechen gewesen. Auskünfte über für sie arbeitende Leihmütter würden aus Datenschutzgründen nicht erteilt, hatte die Sekretärin gesagt, im Zweifel möge man sich an die örtliche Polizei wenden. Auch bei der Suche nach Alina war HP nicht weitergekommen.

René hatte das Umfeld der Familie Schwarz recherchiert. Er zählte auf, was er zu Ulrich Schwarz’ Kollegen, Toni Preußer, herausgefunden hatte, der den beiden bei der Adoption behilflich gewesen sein sollte. Der Mann arbeitete im gleichen IT-Bereich, auch er reiste beruflich häufig in osteuropäische Staaten. Außer einer Jugendstrafe wegen Autodiebstahls lag nichts gegen ihn vor.

Sunja schickte René trotzdem auf dessen Spur. Man konnte nie wissen.

„HP“, meinte sie, „klärst du noch die Geschichte mit der Pädophilen-Liste, damit wir die Theorie der Staatsanwältin endlich vom Hals haben?“

HP nickte. Selbst er, der sonst an Coolness kaum zu übertreffen war, blickte jetzt müde und ratlos in die Runde.

„Dieser Pascal lebt bestimmt noch“, murmelte René, nestelte an seinen Locken und zog die Stirn kraus.

Dein Wort in Gottes Ohr, dachte Sunja.

„Hast du schon recherchiert, Matthias?“, fragte sie.

Ihr Kollege nickte und zückte sein Tablet. Die linke Hand auf dem Rücken seines Babys, begann er: „Die Basics. Leihmutterschaft ist bei uns verboten. Gemacht wird so was, wenn eine Frau mit Kinderwunsch kein Kind bekommen kann, zum Beispiel weil die Gebärmutter entfernt wurde. Eine andere – die Leihmutter – trägt dann das Kind aus. Nach der Geburt übergibt sie es den sogenannten Bestelleltern. Es werden zwei Formen unterschieden. Die, bei der die Leihmutter ihre Eizellen zur Verfügung stellt, das ist die genetische oder traditionelle Form. Und die andere, bei der eine befruchtete Eizelle eingesetzt wird. Das ist die …“ Er schaute auf sein Tablet und sprach Silbe für Silbe: „… die ges-ta-tio-nale Form. Aber in Deutschland gilt § 1591 des Bürgerlichen Gesetzbuchs: ‚Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat.‘ Weshalb Leihmutterschaft hier verboten ist. Erlaubt ist sie zum Beispiel in Belgien, Griechenland, Großbritannien, Indien und der Ukraine. Nicht mal in Europa gibt es einheitliche Gesetze. Man muss schon Rechtsexperte sein, um da durchzublicken. In einem Fall hat das Verwaltungsgericht Berlin die Elternschaft eines in Indien geborenen Kindes nicht anerkannt, obwohl nachgewiesen war, dass der deutsche Mann der biologische Vater war. Man hat die Eltern mit dem Kind einfach nicht einreisen lassen! Drei Jahre waren die in Indien! Unglaublich. Na ja, jedenfalls gilt bei uns der als Vater, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Gebärenden verheiratet war. Da kommen dann so Sachen raus, dass der Ehemann der Leihmutter als der Vater des Kindes gilt …“

„Genau!“, rief Sunja. „So muss es bei dieser Alina gewesen sein. Frau Schwarz hat mir doch erzählt, dass die Leihmutter verheiratet war.“

Sie diskutierten über die rechtlichen Belange. Sunja suchte nach ermunternden Worten, fand jedoch keine. So schloss sie mit einem nachdenklichen Blick auf Böttcher die Versammlung.

Auf dem Weg in ihr Büro betrachtete Sunja das Baby vor Matthias’ Brust, das immer noch friedlich schlief. Wie klein es war! Es irritierte sie, ihren Kollegen als Vater zu erleben.

„Was machst du denn, wenn er wach wird?“

„Ach, der dürfte jetzt total müde sein, so wenig, wie er in der Nacht geschlafen hat. Notfalls hab ich noch abgepumpte Milch im Fläschchen. Aber das mit der Leihmutterschaft, das ist wirklich ein Irrsinn. Ich hab dir ein paar Links geschickt. Was die mit den Frauen machen …“

„Mit welchen Frauen?“

„Na, mit den Leihmüttern! Das Kind nach der Geburt wegnehmen, brutaler geht’s ja wohl nicht.“

„Aber du hast doch gesagt, die wissen, worauf sie sich einlassen“, meinte sie. „Die müssen das ja nicht tun.“

Sie waren am Büro angekommen, gingen hinein, und Matthias starrte sie entgeistert an. „Meinst du das ernst?“

Sie gab zu, sich noch nicht mit der Materie beschäftigt zu haben.

Er räumte seine Sachen in den Rucksack. „Ich muss jetzt. Ist schon zwölf durch. Nach der Elternzeit bin ich wieder voll dabei.“

Elternzeit! Allmählich ging ihr dieses Wort auf die Nerven. Die Bemerkung, dass seine Frau doch wegen der Kinder zu Hause sei, verkniff sie sich. In letzter Zeit kam er ständig zu spät, auch heute war er erst kurz nach neun da gewesen. Vier Stunden hatte er also noch keineswegs rum. Und das bei einem Fall, wo jeder gebraucht wurde! Gerade er, als Vater, sollte bei so einem Fall doch alles dransetzen, um die Aufklärung voranzutreiben! Sunja schob eine Tasse unter die Düse der Espressomaschine.

Ihr Kollege steuerte die Tür an.

„Trotzdem“, warf sie hin, „warum muss das so kompliziert sein? Wenn eine Frau nun mal kein Kind bekommen kann, und eine andere hilft ihr …“

Matthias hielt in der Bewegung inne. „Ach ja? Und wenn eine Frau von ihrem Mann gezwungen wird, ein fremdes Kind auszutragen? Weil er das Geld haben will?“

Sie schüttelte den Kopf. „Die meisten machen es ja wohl freiwillig. Warum erlaubt man das nicht? Dann kann man das doch viel besser regulieren.“

„Jetzt mach aber mal einen Punkt, Sunja!“ Er sah sie zornig an. „Die Reichen kaufen sich also eben mal ein Baby! Schöne heile Welt. In der Ukraine kostet ein Kind knapp 28.000 Euro. Geradezu ein Schnäppchen! Und wie es der Frau geht, die es austrägt, ist ihnen komplett egal!“

„Bleib doch mal sachlich“, fuhr sie auf. „Seit wann bist du Frauenrechtler? Was soll denn zum Beispiel ein schwules Pärchen machen, das unbedingt Kinder will?“

Der Espresso lief in die Tasse. Kaffeeduft breitete sich im Büro aus.

Matthias hob hilflos die Arme. „Genau, Sunja, du kannst alles nachlesen.“ Wütend wies er auf ihren Computer. „Jedenfalls ist es ein gutes Geschäft! Alles hochmodern. Die Leihmütter werden super versorgt und gründlich vorbereitet. Und man bringt ihnen auch gleich bei, in der Schwangerschaft ja keine Beziehung zum Kind aufzubauen, damit es keinen Schaden nimmt!“

Sie hatte Matthias noch nie so zynisch erlebt.

Er sah sie zornig an. „Das kann nicht dein Ernst sein! Du argumentierst genau wie die Kliniken, die diese Kinder verkaufen! Du meinst also, das geht? Neun Monate ein Kind in sich zu haben und keine Beziehung zu ihm aufzubauen?“

Matthias merkte nicht, wie laut er geworden war. Sein Sohn strampelte unruhig im Tragetuch und streckte die Ärmchen in die Luft. Dann machte er ein empörtes Gesicht und fing an zu schreien.

Matthias stöhnte, er blickte Sunja vorwurfsvoll an.

Doch sie war nicht gewillt zurückzustecken. Langsam reichte es ihr. Als ob es die größte Errungenschaft der Zivilisation war, ein Kind großzuziehen! Und sie durfte dann die Arbeit ihres Kollegen mit machen! Hatte er darüber mal nachgedacht?

„Jedenfalls finde ich“, versuchte sie das Thema abzuschließen, „dass die Gesetze in Deutschland völlig unhaltbar sind. Da lassen sie die Leute und die Kinder ewig nicht einreisen. Wie bei Familie Schwarz ja offenbar geschehen. Das richtet doch viel größeren Schaden an. Warum sollen denn Menschen, die sich ein Kind wünschen, diesen Weg nicht beschreiten?“

„Weil man sich vielleicht nicht jeden Wunsch erfüllen kann?“

„Na, du hast leicht reden. Bei euch hat ja auch alles wunderbar geklappt mit den Kindern.“

Ihr Kollege sah sie an. „Eben. Ich weiß, dass Kinder ihre Eltern brauchen. Kinder sind etwas Wunderbares.“

Wie um ihn Lügen zu strafen, schrie sein Sohn jetzt wie am Spieß. Matthias schwitzte, während er versuchte, ihm eine Nuckelflasche mit Milch in den Mund zu schieben.

Sunja wäre bei dem Lärm am liebsten hinausgerannt, tat jedoch, als nehme sie das Baby nicht wahr. Sie trug den Kaffee zum Schreibtisch, setzte sich und blickte demonstrativ auf ihren Monitor.

„Wir beide werden die Gesetze nicht ändern“, sagte sie, „wir sind keine Abgeordneten. Wolltest du nicht gehen?“

„Gleich. Also, ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber ich habe eben im Gegensatz zu dir Kinder. Ich habe zwei Schwangerschaften meiner Frau begleitet. Ich habe meinen ungeborenen Kindern vorgelesen und vorgesungen, um sie an meine Stimme zu gewöhnen. Ich war bei den Geburten dabei. Vielleicht verstehe ich deshalb, dass das in einem fremden Bauch nicht funktionieren kann.“

Als hätte ihr jemand in den Solarplexus geschlagen, zuckte Sunja zusammen. Genau an diesen Punkt hatte sie nicht geraten wollen. Dieser Supervater! Dieser selbstgerechte Moralist! Was wusste der denn von ihrer Fehlgeburt, von ihrem Kampf mit ihrem Exmann, von ihrer Trauer über ihre verpfuschte Ehe. Das ging ihn auch nichts an, verdammt!

„Schönen Feierabend“, zischte sie.

Matthias schulterte den Rucksack, mit dem Kind im Tragetuch und einer Packung Windeln in der Hand war er beladen wie ein Maulesel.

„Bis morgen“, murmelte er und schloss die Tür hinter sich.

Sunja schickte ihm einen Fluch nach. Mit einem Schluck kippte sie den Espresso hinunter, steckte die Zigaretten ein und eilte hinaus.

Die Luft stand zwischen den Häusern wie in einem Backofen. Sunja ging in Richtung Kanal. Am Lützowufer war es genauso heiß, aber wenigstens gab es hier Bäume. Ans Geländer gelehnt, sah sie aufs Wasser. Warum regte sie sich nur immer wieder über Leute wie Matthias auf? Konnte sie in ihrem Alter nicht mal gelassener werden? Das waren Nebenschauplätze, die unnötig Kraft kosteten.

Sie war davon überzeugt, dass Pascals Verschwinden mit der Leihmutterschaft zu tun hatte. Vielleicht war Janas Tod eine Folge der Entführung gewesen? Hatte sie sich den Entführern in den Weg gestellt? Hoffentlich konnte Ulrich Schwarz sich noch an irgendetwas erinnern. Sie musste die Sache mit diesem Sergej klären. Welche Rolle spielte er in der Geschichte wirklich?

Das Wasser beruhigte sie. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, ihr fehle ein Puzzleteil. Irgendein Detail hatte sie vergessen. Welches nur?

Das Handyklingeln riss sie aus ihren Gedanken.

Es war René. Er hatte trotz des Feiertags über die Servicenummer einen Mitarbeiter der IT-Firma von Ulrich Schwarz erreicht und erfahren, dass Toni Preußer bereits seit letztem Mittwoch krankgeschrieben war. René war zu dessen Wohnung gefahren, hatte ihn aber nicht angetroffen.

„Und jetzt halt dich fest!“, sagte er. „Eine Nachbarin hat ihn vor einer halben Stunde aus dem Haus gehen sehen und kurz mit ihm gesprochen.“

„Und, sah er krank aus?“

„Darum geht es nicht.“ Ihr Kollege machte eine Kunstpause. „Er war mit einem kleinen Jungen unterwegs. Angeblich sein Neffe, mit dem er auf den Spielplatz wollte.“

Sunja hielt den Atem an.

„Lass mich raten …“

„Genau. Preußer hat überhaupt keine Geschwister!“

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