Читать книгу Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band - Sascha Behringer - Страница 13

III. Platten und Villen

Оглавление

Wie manche Häuser, so täuschen auch viele Menschen durch ihre Fassade.

- Peter Sirius -

Greller Sonnenschein stach auf ihre Lider. Erschrocken riss Sunja die Augen auf und sprang aus dem Bett. Halb neun! Sie rannte ins Bad. Dass sie den Wecker überhörte, passierte selten.

Um sieben hatte sie heute am Schreibtisch sitzen wollen, um die Befragungen noch einmal durchzugehen. Gestern war sie bis nach Mitternacht im Büro gewesen. Heinz Böttcher, ihr Chef, hatte sie offiziell mit der Leitung der Mordkommission im Fall Weitlinger beauftragt. Zum Ermittlerteam sollten Matthias Müller, René Hartmann und Hans-Peter Große aus ihrer Abteilung gehören.

Sie hatte noch einmal ausführlich mit Sörensen von der Vermisstenabteilung gesprochen, über die Dresdner Polizeistelle die Eltern des Opfers benachrichtigen lassen, Gesprächsprotokolle von anderen Nachbarn abgehört, Zeugenaussagen verglichen und erste Thesen formuliert. Erst gegen zwei Uhr morgens war sie in ihrer Wohnung gewesen.

Unter der Dusche versuchte sie sich vorzustellen, wie es wäre, einen geruhsamen Job in einer Verwaltungsbehörde zu haben. Man stand auf, spazierte zum Bäcker, frühstückte gemütlich und verbrachte danach die gesetzlich vorgesehene Arbeitszeit auf dem weichen Bürosessel. Mittagspause garantiert. Klar, auch da konnte Arbeit auflaufen, aber um vier war Dienstschluss. Dann ging es nach Hause, wo der Mann mit einer Tasse Kaffee wartete … Ihr Magen knurrte, vor ihrem inneren Auge erschien ein Frühstücksbüfett.

Sie seufzte. Ob Salami, Mozzarella oder Lachs, es würde wieder einmal auf die üblichen belegten Brötchen mit Kaffee im Stehen hinauslaufen. Sie verspätete sich ohnehin, da kam es auf die zehn Minuten nicht an.

Sunja hielt vor der Bäckerei, in Gedanken schon wieder beim Fall Weitlinger. Unergiebige Zeugen wie diesen Herrn Ramser hatte sie schon Tausende erlebt. Einsame alte Leute, die froh waren, wenn ihnen endlich mal jemand zuhörte.

Mit müden Augen starrte sie in den Sahnenebel des billigen Kaffees und erschrak. Der Termin bei Frau März!

Nachdem sie eilig bezahlt hatte, rannte sie zum Auto, hetzte durch die Stadt und hastete schließlich atemlos die Treppen zum Büro der Staatsanwältin hinauf.

In deren Vorzimmer erfuhr sie jedoch, dass Frau März in dringenden Angelegenheiten auswärts beschäftigt sei und sich entschuldigen lasse. Sunja musste sich beherrschen, um nicht die Sekretärin anzuschreien.

„Früh dran heute!“, rief sie und legte so viel Anerkennung und gute Laune wie möglich in ihre Stimme. „Hi, Matthias, du bist der Mordkommission im Fall Weitlinger zugeteilt.“

Ihr Kollege saß im Büro und starrte triefäugig auf den PC-Bildschirm. Hatte ihn der Kleine wieder die halbe Nacht wach gehalten? Nach einem Mord bekam kein Ermittler genügend Schlaf, aber wie hielt Matthias das nur durch? Vielleicht hatte er ja neue Hinweise entdeckt, Matthias war ein Fuchs beim Recherchieren in Datenbanken. Wenn es nach ihm ginge, würde Polizeiarbeit ohnehin nur am Computer stattfinden.

Sunja betrachtete das Durcheinander auf ihrem Schreibtisch. Obenauf lag ein Terminzettel: Frau Löwel bitte zur Rechtsmedizin, in einer Viertelstunde.

Sie verdrehte die Augen. Es hatte keinen Sinn, dem Pförtner zu sagen, dass es Telefone gab oder dass er auf seine Zettel wenigstens endlich mal Uhrzeiten schreiben sollte …

Sie riss die Fenster auf, doch selbst vom Hof kam keine kühlere Luft herein. Klimatisierte Büros gab es vielleicht in amerikanischen Detektivfilmen, aber nicht im Berliner LKA.

Matthias sah sie erwartungsvoll an.

„Ich wollte gerade zum Rapport bei meiner Freundin, Frau März“, begann Sunja. „Die Dame war mit mir verabredet, ist jedoch leider unterwegs. In wichtiger Angelegenheit, so ein Pech. Okay, was gibt’s Neues?“

„Leider nix“, gähnte Matthias. „Weder bei der Fahndung nach dem Kind noch etwas zum Mord. Ich guck gerade die Datenbanken durch, nach ähnlichen Fällen.“

„Gut. Ich fahr schnell in die Rechtsmedizin. Kannst du bitte im Büro der Staatsanwältin anrufen, die sollten den Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung von der Weitlinger faxen. Wenn ich bei Hansen fertig bin, ruf ich dich an, dann können wir gleich dorthin fahren. Köpenick, eine elende Strecke, guck doch mal nach dem Weg. Hast du noch ein bisschen Kleingeld für den Kaffeeautomaten?“

Bis zum rechtsmedizinischen Institut in der Turmstraße waren es mit dem Auto nur zehn Minuten.

Ole Hansen, siebenundvierzig, langjähriger Leiter der forensischen Pathologie, sah vom Sektionstisch auf, als Sunja von außen an die Glasscheibe pochte. Seine strohblonden Haare leuchteten im grellen Licht, um seine Augen über dem grünen Mundschutz bildeten sich kleine Runzeln. Er winkte ihr zu und machte eine Geste, dass sie hereinkommen solle.

Sunja ging hinein, sank auf einen Stuhl und schaute zum Fenster.

Dieser helle, offene Saal hatte nichts mehr von den düsteren Leichenkellern ihrer Ausbildungsjahre, er wirkte eher wie ein Labor. Und Ole Hansen war kein blasser Grufti, sondern ein fröhlicher, umgänglicher Familienmensch. Vollkommen in seine Arbeit vernarrt und äußerst genau. Leider hatte er sich seit Sunjas Scheidung völlig aus ihrem Privatleben verabschiedet, er hatte sich für die Freundschaft zu Henning entschieden, wie andere Freunde ihres Exmannes auch. Bei Ole bedauerte sie das besonders, weil sie ihn wirklich mochte. Sie kannte ihn sogar länger als Henning. Über ihn hatte sie ihren Mann ja erst kennengelernt. Und als sie nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte, war Ole der Einzige gewesen, der nicht weiter gefragt, sondern sie sofort kommentarlos mit ihrem neuen alten Namen angesprochen hatte.

Ole zeigte ihr die Tote mit einem Respekt, den viele seiner Berufskollegen vermissen ließen. Sunja schaute auf den geleerten Bauchraum der Studentin und zuckte zusammen. Sie war Ole dankbar, dass er den Körper gleich wieder zudeckte.

„Jana Weitlinger, hundertzweiundsiebzig Zentimeter, sechsundsiebzig Kilogramm“, begann er. „Sechzehn Messerstiche, alle mit derselben Waffe ausgeführt. Eine gerade, einseitige Klinge von circa fünfzehn Zentimetern Länge. Ein Messer mit Wellenschliff. Nur bei einem Stich besteht eine gewisse Abweichung. Dort sind die Wundränder minimal eingerissen, bei den anderen nicht. Für den Tathergang besitzt das keine Relevanz, ich will nur darauf hinweisen.“

Seine Stimme hatte jenen dozierenden Tonfall angenommen, der Sunja einen Vortrag von mindestens einer Stunde befürchten ließ. Er sah sich als Wissenschaftler und liebte es, wie in einem Hörsaal zu referieren.

„Elf Stiche liegen im Bauch-, die restlichen im Brustbereich, drei quer geführte Schnittwunden am Hals, deshalb hat sie so viel Blut verloren. Abwehrspuren gibt es an den Armen. Die Aorta wurde nicht verletzt, aber wenn dieser Messerstich hier“, er wies auf einen Punkt in der Nähe des Bauchnabels, „nur zwei Zentimeter höher platziert gewesen wäre, hätte man mit einem sehr schnellen innerlichen Verbluten rechnen müssen. Das Abdomen …“

Sunja wurde nervös. „Bitte heute keine Anatomie-Vorlesung, Ole, ich brauche nur die wichtigsten Angaben. Wann ist sie gestorben? Wie lange hat sie nach dem Angriff noch gelebt? Irgendwelche Besonderheiten? Stammt das Messer aus dem Messerblock, den die KT gefunden hat?“

Der Rechtsmediziner riss die Augen auf, sah erst sie an und dann die Tote. Hastig zog er das Tuch über das leblose Gesicht und resümierte: „Zu deiner letzten Frage: ja. Ich konnte Spuren von dem Holz des Messerblocks in den Wunden nachweisen. Todeszeitpunkt … 27. April, zwischen 7.30 Uhr und 12.30 Uhr. Da der Notruf um 12.14 Uhr einging, ist euer Zeitfenster ziemlich eng. Sie hat höchstens noch zehn Minuten gelebt, Exitus durch hohen Blutverlust. Alles ganz einfach! Zufrieden?“

„Es tut mir leid, Ole. Ich hab grad wenig Zeit. Ich weiß doch, wie genau du bist und dass dir Sachen auffallen, die andere niemals bemerken. Also? Hast du noch irgendetwas für mich?“

Hansen wandte den Blick vom Schild ab, das am Fuß der Leiche hing. Nach kurzem Schweigen sagte er: „Heutzutage können wir sogar die zeitliche Abfolge der Verletzungen feststellen … Die ersten zwei Stiche sind nur leicht und ohne Torsion gesetzt. Wenn sich jemand wehrt, wird die Klinge im Körper verdreht. Sie hätte wegrennen können, den Mörder attackieren, hat es aber offensichtlich nicht getan. Die Abwehrspuren verweisen auf später, da lag sie schon am Boden. Das ist merkwürdig. Warum hat sie nicht auf den Angriff reagiert?“

Sunja überlegte. „Kann man sagen, dass sie sich in einer Art Starre befand, als sie auf ihren Mörder traf?“

„Könnte man.“

„Kann sie schon tot gewesen sein?“

„Nein. Todesursache waren definitiv die zugefügten Verletzungen. Vielleicht war sie betäubt. Aber bisher habe ich keine Ursache dafür gefunden. Da bin ich dran.“ Ole räusperte sich. „Ich hab zu tun, Sunja. Morgen kriegst du den Bericht. Wir sehen uns bei Gelegenheit. Mach’s gut, ja?“ Er gab ihr die Hand und entfernte sich rasch in Richtung seines kleinen Büros.

Sie ging zum Ausgang mit dem sicheren Gefühl, mal wieder etwas falsch gemacht zu haben.

„Hier war ich echt noch nie“, meinte Matthias. „Platten im märkischen Sand. Und trotzdem immer noch Berlin. Schon absurd.“

Die Neubauten des Allende-Viertels wirkten wie an den Waldrand geworfene Bauklötze. Ein Block mit der Aufschrift Seniorenstift fiel besonders ins Auge: abgeplatztes Mauerwerk, rissiger Beton, bröckelnde Balkone.

Direkt das Haus daneben war die Nummer siebenundvierzig. Auf dem Klingelschild klebte ein Pflaster mit dem Namen Weitlinger in krakeliger Schrift unter einem anderen: M. Junik.

„Eine WG?“, murmelte Sunja.

Der Türöffner summte ohne weitere Nachfrage, die Wohnung lag im Hochparterre. Auf dem Treppenabsatz schaute ihnen eine schmächtige Frau Mitte zwanzig mit schulterlangen Haaren in Strickjacke und Jeans entgegen.

Sunja zeigte ihre Dienstmarke. „Frau Junik, ist das richtig? Können wir kurz reinkommen?“

Sie zwängten sich durch den engen Flur. In der winzigen Behausung gab es neben Küche und Bad nur ein einziges Zimmer mit großem Fenster. Zwei schmale IKEA-Schreibtische standen nebeneinander, ein Bett, ein Sofa und ein Tischchen bildeten den Rest des Mobiliars.

Die junge Frau wies auf die Couch und blieb mit hängenden Armen am Fenster stehen. „Ist etwas mit Jana?“, fragte sie mit zittriger Stimme.

„Wie kommen Sie darauf?“

„Na, ich mach mir halt Sorgen, weil sie nicht nach Hause kommt.“ Sie sah Sunja nervös an. „Hab’s auch schon dauernd auf dem Handy versucht. Aber sie geht nicht ran.“

Sunja holte tief Luft, um die Sätze zu sagen, die sie am meisten hasste und die sie für diese Gelegenheiten auswendig gelernt hatte. Warum in aller Welt musste immer sie die Initiative ergreifen? Matthias stand neben ihr, schaute betroffen und machte natürlich keine Anstalten, den Mund zu öffnen.

„Wir müssen Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen, Frau Junik. Ihre Mitbewohnerin ist gestern Mittag verstorben. Mein herzliches Beileid.“

Die junge Frau stand wie erstarrt, sie schien kaum zu atmen. Ihre Hand krallte sich um den Fenstergriff. Plötzlich begann sie zu schluchzen und stürzte nach nebenan.

Sunja hörte Wasser rauschen.

Dann kam sie zurück, die nassen Haare klebten ihr an der Stirn. Mit zitternden Fingern klaubte sie eine Zigarette aus einer Schachtel.

Sunja gab ihr Feuer.

„Erzählen Sie uns doch bitte etwas über Ihre Mitbewohnerin“, sagte Matthias. „Was hatten Sie für ein Verhältnis zueinander?“

Frau Junik hob die Schultern. Sie sah erschöpft aus. „Ich hab Jana gleich am Anfang meines Studiums vor zwei Jahren kennengelernt. Sie hat auch erst Slawistik gemacht. Als ihre Wohnung im Prenzlauer Berg zu teuer wurde, ist sie zu mir gezogen. Da war grad mit ihrem Freund Schluss. Aber wie … wie ist sie denn …?“ Ihre Stimme war in ein Flüstern übergegangen, mit unbeweglicher Miene starrte sie an ihnen vorbei auf die Wand.

Sunja zündete sich selbst eine Zigarette an.

„Jana ist ermordet worden“, sagte sie behutsam. „Sagen Sie uns bitte: Kennen Sie vielleicht jemanden, der ihr Böses wollte?“

Das Mädchen überlegte kurz und schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht. Sie war doch bei allen beliebt. Hat sich überall beteiligt. Bei Amnesty, in der Kirchengemeinde, im AStA … Ich hab mich immer gefragt, wie sie das alles schafft. An der Uni war sie eine der Besten. Und dann noch Babysitten. Jana mochte Kinder so gern, deshalb hat sie ja auch Pädagogik …“ Die junge Frau wisperte und schniefte, sodass sie kaum zu verstehen war.

„Und ihr Freund oder Exfreund – was wissen Sie über den?“, fragte Matthias.

„Julius? Er hat ab und zu hier bei ihr übernachtet, wenn ich nicht da war. Wohnt aber eigentlich in einer Fünfer-WG. Für Jana war es was Festes, aber ich hab dem Typ nie recht über den Weg getraut. Der hat immer von der absoluten Freiheit geredet. Aber der wusste doch nicht, was er will. Einmal hab ich ihn direkt mit ’ner anderen gesehen.“

„Kennen Sie seinen Nachnamen?“, fragte Matthias.

„Dörfner.“

Sunja hatte sich vorbeugen müssen, um alles zu verstehen. Das Genuschel der jungen Frau ging ihr zunehmend auf die Nerven. Hoffentlich wollte die Studentin mit dieser Aussprache später nicht als Dolmetscherin arbeiten.

„Warum hat sich Jana denn von Julius getrennt, wenn es für sie was Festes war?“, fragte sie, betont laut und deutlich.

Frau Junik zuckte mit den Achseln. „Ich glaube, der war ihr zu anstrengend. Dauernd hat er gekifft und sie dann aufgezogen. Weil sie sich für alles Mögliche engagiert hat. Voll zynisch, der Typ. Und eifersüchtig! Nach der Trennung ist er hier aufgekreuzt und hat sie belagert. Hat gesagt, sie würde es noch bereuen.“ Das Mädchen kniff die Augen zusammen.

Nein, sie wisse nichts von einer Beziehung zwischen Jana und einem Herrn Schwarz oder von irgendeinem Katzenarmband, das sie geschenkt bekommen hatte. Ja, der kleine Pascal, der sei richtig vernarrt in Jana gewesen. Sie habe mit ihrer Energie wohl ein bisschen Farbe in die Welt dieses Puppenstuben-Kindes gebracht.

Den Durchsuchungsbeschluss nahm die Studentin ebenso achselzuckend zur Kenntnis wie die Aufforderung, ihre Fingerabdrücke und DNA zur Verfügung zu stellen.

Sunja ließ sich die Sachen der Toten zeigen und beschlagnahmte den winzigen Laptop sowie eine Kiste mit Fotos, Heftern und Tagebüchern.

Im Flur drehte Sunja sich noch einmal um, wobei sie mit dem Karton fast die schmale Garderobenstange von der Wand riss. „Sagen Sie, warum wohnt man als Studentin denn hier draußen, im Neubau? Und nicht im Friedrichshain, im Zentrum?“

Frau Juniks Stimme klang lebhafter. „Natürlich ist das eng hier, aber es kostet ja auch wenig Miete. Friedrichshain? Vielleicht haben Sie so viel Kohle. Ich bekomme keine Unterstützung von meinen Eltern. Beim Studium hat man immer zu tun, ich geh jedenfalls abends kaum weg. Klar, hier wohnen sonst meist alte Leute, dafür liegt aber der Müggelsee vor der Haustür. Ich bin in Wolfen aufgewachsen, im Neubaugebiet, dann hab ich in Sankt Petersburg Praktikum gemacht, da leben alle Studenten in der Platte, da ist so was ganz normal, sogar in einem extra Stadtteil. Manchmal wünsch ich mich zurück in die Vergangenheit, aber das ist ja normal, nicht? Mein Leben ist ja nicht zu Ende hier, ich muss nur …“

Sunja überraschte dieser plötzliche muntere Redeschwall, und da war ein Anflug von Fanatismus in der Stimme, den sie nicht einordnen konnte. Täuschte sie sich oder war die Studentin erleichtert, dass sie gingen?

Vor dem Haus telefonierte sie mit René, der im Büro die Stellung hielt.

René erzählte ihr, dass er mit der Vermisstenabteilung gesprochen habe, dort würde unter Hochdruck gearbeitet, aber von dem Jungen gäbe es keine Spur. Außerdem habe das Krankenhaus Rüdersdorf ihm bereits vor zwei Stunden mitgeteilt, dass ein Besuch bei Frau Schwarz jetzt möglich wäre.

Sunja beschloss, sofort hinzufahren.

Auf dem Weg nach Rüdersdorf sprach Matthias zuerst über die zu hohen Emissionswerte der Dienstwagen der Berliner Polizei und wechselte dann zu seinem Lieblingsthema, dem Einsatz von Entschlüsselungssoftware und Datenbanksystemen bei der Ermittlung. Man merkte ihm die drei Semester Maschinenbau immer noch an, die er in Aachen studiert hatte. Sie unterbrach ihn mit der Bitte, in der Zentralkartei anzurufen und den Namen Julius Dörfner eingeben zu lassen. Ihr Kollege griff zum Handy.

Kurz darauf erhielt er Bescheid, dass Dörfner in der Polizeidatenbank aktenkundig war. Er war vorbestraft, es hatte zwei Verfahren wegen tätlichem Widerstand gegen Polizisten gegeben und einen Bußgeldbescheid. Außerdem war er als politisch links eingestuft, und es war zu mehreren Ordnungsstrafen wegen Beleidigung gekommen. Seine Fingerabdrücke und DNA lagen vor.

„Na, das ist doch schon was“, kommentierte Sunja.

Matthias redete weiter über Quantencomputer und vergleichende Ermittlungstechnik und leitete über zu gesunder Lebensweise und Burn-out-Gefahr in Polizeikreisen. Endlich war er bei der Bedeutung einer geregelten Mittagspause angelangt und ihr Auto vor dem Krankenhaus.

Sie gingen in die Kantine. Matthias schaufelte Rinderfilet mit Klößen in sich hinein und Sunja widerstand der Versuchung, ihn über seine Haltung zu Fleischkonsum zu befragen. Sie selbst aß nur eine Bockwurst, da Medizingeruch und der Anblick von Patienten in Bademantel und Rollstuhl ihr immer auf den Magen schlugen.

Nach einigem Suchen fanden sie die Krankenstation und das Arztzimmer. Hinter einem Berg von Patientenakten hockte eine Schwester am Schreibtisch.

„Frau Schwarz ist weg.“

„Was soll das heißen?“, fragte Sunja irritiert. „Wann haben Sie sie denn zuletzt gesehen?“

„Die Patientin ist gestern hier angekommen, zuerst saß sie nur apathisch auf einem Stuhl. Die Ärztin hat ihr bloß ein paar Fragen gestellt, da begann sie schon zu schreien, aber nach einer Beruhigungsspritze hat sie die Nacht durchgeschlafen. Heute früh war ich um fünf zum Wecken drin und hab Frau Schwarz gefragt, wie es ihr geht. Sie wirkte wieder depressiv. Wollte nicht mal ihren Mann sehen, der ja auch bei uns liegt. Und bei der Visite um elf war sie dann weg. Ihre Bettnachbarin meinte, sie müsse sich in einem unbeobachteten Moment davongeschlichen haben. Und das ohne ärztlichen Befund!“ Die Schwester schüttelte den Kopf.

„Wir fahren zum Rialtoring!“, entschied Sunja. „Wenn sie da auch nicht ist, können wir gleich noch eine Fahndung rausgeben.“

Kaum saßen sie im Wagen, hörten sie die Sirene eines Rettungsfahrzeuges und dann versperrten gleich fünf Rettungswagen die Einfahrt.

Sunja hieb mit der flachen Hand aufs Armaturenbrett. Sie hasste solche Warterei. Die Zeit lief ihnen davon, und es gab noch immer keine Nachricht aus der Vermisstenabteilung über das verschwundene Kind.

„Also, was wissen wir vom Ehepaar Schwarz?“, begann sie. „Sie sind seit 2001 verheiratet, also seit dreizehn Jahren. Bester Leumund. Ihr Leben scheint hauptsächlich aus Arbeit zu bestehen. Er ist Programmierer bei der Firma Intertec. Seit vierzehn Jahren. Hochkarätiges Gehalt.“

„Viele berufsbedingte Auslandsaufenthalte“, ergänzte Matthias. „Um Kundenwünsche vor Ort zu eruieren. Besonders in Osteuropa. Meist geht es um komplexe Datenlösungen für Firmen, für die sie Programme nach Maß entwickeln. Seine Kollegen sind auch ständig unterwegs. Überstunden sind selbstverständlich. Die Firma lobt ihn in höchsten Tönen.“

„Und sie“, fuhr Sunja fort, „ist erfolgreiche Anwältin für Wirtschaftsrecht, Jurastudium mit Auszeichnung, seit achtzehn Jahren mit eigener Kanzlei. Eine Karrierefrau, wie sie im Buche steht.“

„Das arme Kind“, kommentierte Matthias.

Gerade wollte Sunja losfahren, da versperrte ein Lieferwagen der Krankenhausversorgung die Ausfahrt.

Der schwarze Chevrolet mit den abgedunkelten Scheiben glitt langsam durch die Einfahrt. Geräuschlos schlossen sich die Stahltore hinter ihm, dicke Reifen knirschten auf feinem Kies. Der Wagen kam vor einer prunkvollen Freitreppe zum Stehen, die zu einer jagdschlossähnlichen Villa gehörte. Hier, am Ende der Halbinsel Schwanenwerder im äußersten Westen der Hauptstadt, spürte man nichts mehr vom hektischen Pulsschlag Berlins.

Sergej Chumtow wartete, bis der Chauffeur den Wagenschlag öffnete, und sprang mit erstaunlicher Leichtigkeit aus dem Fahrzeug. Mit seinen fünfundfünfzig Jahren hatte er nur wenig von der Körperkraft verloren, die ihn früher berühmt gemacht hatte. Muskelbepackt und fast zwei Meter groß, mit bulligem Schädel und zerfurchtem Gesicht, hätte man ihn eher für einen ehemaligen Boxer gehalten als für den Boss eines russischen Mafia-Clans.

Chumtow ging mit schaukelndem Oberkörper auf das gut geschützte Domizil zu, gefolgt von den Leibwächtern, Lolek und Bolek genannt. Er eilte die Treppen hinauf zum Arbeitszimmer, riss krachend die schwere Eichentür auf und brüllte durch das Haus nach Tschukin, dem Anwalt. Im Zimmer streifte er sich die schwarzen Leder-Slipper von den Füßen und zerrte an der Krawatte.

Als Pjotr Tschukin in den Raum schlich, stellte Chumtow schon die gesamte Bildergalerie seines Körpers zur Schau, angefangen von dem Kraken auf den riesigen Säulenbeinen bis zum flammenden orthodoxen Kreuz auf dem rollenden Bizeps. Ein von einer Schlange umwundener Dolch wies ihn als Bandenchef aus, eine Rose in mit Handschellen gefesselten Händen verriet dem Eingeweihten mindestens zehn Jahre Arbeitslager. Von Stacheldraht umrankte Jahreszahlen markierten unterschiedliche Stationen in russischen Gefängnissen. Das einschüchterndste Detail dieser Zurschaustellung von Lebensgeschichte und Kraft prangte auf der Brust: ein zottiger grauer Wolfskopf mit aufgerissenem Schlund und tropfenden Lefzen.

„Tschukin, hast du geschlafen? Ihr Gesetzesschinder vergoldet euch den Arsch, und ich halte den Kopf dafür hin!“

Chumtow wählte aus dem Palisanderkästchen vor ihm eine fette Havanna und entflammte sie saugend. Die Füße auf einem Marmortischchen, dröhnte er Richtung Anwalt: „Bei den Temperaturen ein Geschäftsessen, was ist das für eine heilige Scheiße! Das Zimmer da war nicht mal klimatisiert! Und die Angebote des kleinen Wichsers konnte man auch vergessen. Das nächste Mal will ich vorher genau wissen, worum es geht!“

Er zog an seiner monströsen Zigarre, während sich Tschukin unauffällig mit dem Notizblock Luft zufächelte.

„Das sind sie, die feinen Bosse mit Schlips und Kragen, die haben in Amerika studiert. Denen wurde doch immer nur der Arsch abgewischt! Wir nannten uns Diebe im Gesetz früher, unser Gegner war nur der Staat. Diese glatt rasierten Muttersöhnchen, die zählen nur ihr Geld. Reden von Rendite. Ficken wollen sie alle, aber Scheiße gefressen wie wir haben sie nicht!“

Nach einigem Fluchen glätteten sich die Furchen auf der wulstigen Stirn etwas, er brummte: „Nu erzähl mal, Petka, was gibt’s Neues von der Front?“

Chumtow beherrschte ein Imperium, das auf keiner Karte verzeichnet war. Seine Ausläufer reichten von den Weiten der ukrainischen Steppen über polnische Hügellandschaften und brandenburgische Kiefernwälder bis in die Drogenkneipen Berlins.

In Kiew aufgewachsen, hatte er mit vierzehn, noch zu Sowjetzeiten, die erste Bank überfallen. Mit sechzehn saß er wegen Waffenbesitz und schwerer Körperverletzung in der Jugendstrafanstalt Tobolsk jenseits des Urals. Die Methoden und der Komfort dieser Anstalt unterschieden sich kaum von einem Arbeitslager im zaristischen Russland, und in der Tat konnten die meisten Einrichtungen auch auf eine solche Geschichte zurückblicken. In den niedrigen Baracken dort, im westlichen Sibirien, hatte Chumtow sich den Beinamen „Wolf“ erworben, dazu die Körperkraft und Brutalität, die andere Gangster in ihre Schranken wies und ihn nach der Entlassung zu einem Boss über ein nicht unerhebliches russisches Gebiet machte. Als der sozialistische Flickenteppich, der Sowjetunion hieß und so unterschiedliche Volksstämme wie die Tschuktschen im hohen Norden und die turkstämmigen Baschkiren im Süden vereinte, allmählich zerfaserte, war Chumtows Einfluss immer mehr gewachsen. Aus dem Krieg der Clans um die Profite aus Glücksspielhöllen, Drogen- und Waffenhandel und Rohstoffgeschäften ging er als einer der Sieger hervor und verlagerte am Anfang des neuen Jahrtausends seine Residenz endgültig ins Ausland. Aber hier hatte sich seitdem einiges verändert. Heute waren die Spitzenbosse der Mafia keine ehemaligen Sträflinge, sondern Anwälte mit Harvard-Abschluss oder diplomierte Wirtschaftswissenschaftler.

Der Wolf lauschte dem Rapport Tschukins über das Tagesgeschehen im Bezirk: Einnahme von Schutzgeldern, Schmuggelgeschäft an den Grenzen, Prostitution und Geldwäsche.

„Die neuen Mädchen für Frankfurt haben wir durchbekommen, das Ganze hat insgesamt zwei Monate gedauert. Forkow sagt, die Kontrollen an der Grenze sind noch strenger geworden, die können jetzt komplette Fahrzeuge durchleuchten. Er will auch wissen, was er im Fall von diesem neureichen Erzeuger machen soll. Der hat zwei Monate nicht gezahlt. Dabei ist er ein stinkreicher Sack, Papa hat ein Unternehmen in Baden-Württemberg. Diese Deutschen arbeiten den ganzen Tag, ihr Geld liegt auf der Bank und die Kinder sehen sie kaum. Trotzdem …“

„Tschukin, sag mal, bezahl ich dich dafür, dass du mir Vorträge hältst? Kann das sein? Hab ich dich zufällig zum Professor ernannt? Hä?“

„Nein, ich dachte nur …“

„Denken, Tschukin, denken! Überlass das den Pferden, die haben einen größeren Kopf! Du sollst schön deine Gesetze lernen, damit du sie verdrehen kannst. Paragrafenfresser!“ Chumtow zog am Schlot der Zigarre und blies dicke Schwaden in Richtung des immer kleiner werdenden Juristen.

„Fühlt dem Deutschen auf den Zahn und zieht ihm die weichen Eier lang. Wenn das nix nützt, müsst ihr Papa belehren … Aber wem sag ich das, einem Papiertiger, einem Bürohengst!“

So ging es eine ganze Weile im Wechsel: Tschukins trockene Aufzählung der Verbrechen, gefolgt von den mürrischen Bemerkungen des Wolfs.

Schließlich war der Anwalt mit dem Bericht am Ende.

Geduldig wartete er neben dem klotzigen Schreibtisch, ob der Boss noch etwas zu verkünden hatte. Doch der verscheuchte ihn ungeduldig mit einer Bewegung der qualmenden Zigarre, und Tschukin huschte hinaus.

Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band

Подняться наверх