Читать книгу Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band - Sascha Behringer - Страница 17

VII. Irritierende Nachrichten

Оглавление

Nicht Fleisch und Blut, das Herz macht uns zu Vätern und Söhnen.

- Friedrich Schiller -

Sie hat Augen wie Sterne. Helle Sterne, wie der Himmel. Aber Sterne weinen nicht. Ihr Mund lacht dafür. Und ihre Hand hält meine fest. Das ist schön. Sie hat mich aus dem schmutzigen Haus geholt. Nur die Bausteine hat sie vergessen.

Pascal versucht tapfer, Schritt zu halten. Er ist müde und seine Füße tun ihm weh. Es ist so heiß. Sie hat ihm ein Eis gekauft und gar nicht geschimpft, als er gekleckert hat. Ihm nicht den Mund abgewischt.

Seine Hände kleben. Seine Beine rennen. Die Frau hat gesagt, es ist ein Spiel. Wir verstecken uns wie Hasen, in Löchern. Er hat immer nach Löchern geguckt. Es kamen überhaupt keine.

Die Frau ist komisch. Sie sagt Krolik zu ihm. Wenn er ihr sagt, dass er Pascal heißt, lacht sie. Wo will sie nur hin?

Er soll Mamuschka zu ihr sagen. Das ist ein schweres Wort. Er spricht es leise nach. Mamuschka. Er mag ihre Stimme. Und dass sie so viel lacht.

Sie nimmt ihn auf den Arm und trägt ihn ein Stück. Dabei drückt sie ihn fest an sich. Sie riecht nach Blumen.

Er ist müde. Er legt den Kopf auf ihre Schulter.

Straßenbahnen fahren und Menschen rennen vorbei. Die Stadt hört gar nicht mehr auf. Die Frau läuft und läuft und singt dicht an seinem Ohr ein Lied. Die Wörter versteht er nicht, aber das Lied, das kennt er. Er weiß nur nicht, woher.

Sie wischt seine Tränen weg.

Später essen sie Pizza. Pascal schläft auf der Bank fast ein. Immer fällt sein Kopf nach vorne. Sie sagt, er soll viel essen, damit er groß wird und sich gut verstecken kann. Aber er will sich nicht verstecken. Er will nach Hause zu Papa. Er will kein Hase mehr sein.

Schimpfend eilte Sunja den Flur entlang. Sie hatte genug von Vorgesetzten, die ihr Steine in den Weg legten. Frau März würde es noch weit bringen. Hoffentlich bald. Eine Streberin, die über moderne Kriminologie dozierte und dabei nicht die Grundformen der Höflichkeit beherrschte! Und dazu Matthias, der schon wieder Feierabend gemacht hatte. Samstagnachmittag. Ihr Kollege würde seine reduzierte Arbeitszeit vermutlich noch einhalten, bis er in Rente ging. Zum Teufel mit Matthias. Warum war er aus der Besprechung geholt worden?

Sie betrat ihr Büro. Es war furchtbar stickig. Seit Tagen sagten sie ständig Regen an, aber es zeigte sich kein Wölkchen am Himmel.

Auf dem Schreibtisch fand sie eine Notiz von ihm: „Nach Aussage Fr. Schwarz ist Täter im Freundeskreis von Jana zu suchen. Keine konkreteren Angaben. Fr. Schwarz wirkte sehr konfus. Protokoll zum Sachverhalt liegt bei. Matthias.“

Sunja runzelte die Stirn. Was sollte das? Warum hatte Matthias plötzlich Pascals Mutter befragt? War sie hergekommen? Die Frau wurde ihr immer suspekter.

Sie begann, noch einmal in den Zeugenaussagen zu blättern.

Maria Schwarz war um 14.48 Uhr am Tatort erschienen. Ihre Sekretärin hatte gesagt, die Chefin sei zwischen halb elf und eins in der Kanzlei gewesen und habe nacheinander zwei Klienten empfangen. In der Zeit hatte sie Frau Schwarz nicht gesehen, da sie während der Beratungstermine das Zimmer nie betrat.

Gedankenverloren steckte Sunja eine Zigarette an. Beim ersten Zug schlug sie sich gegen die Stirn. Ein uralter Trick! Die Anwältin war durch eine Tür verschwunden und eine Stunde später wieder aufgetaucht. Verdammt, dass sie darauf nicht eher gekommen war! Dieses Alibi würden sie gründlich überprüfen.

Sie griff zum Telefon und bat René und HP in ihr Büro.

Kaum hatte sie aufgelegt, kam ein neuer Anruf. Es war die KTU, die ihr mitteilte, man habe soeben aus dem eingegangenen Material ein interessantes Ergebnis gefiltert. Es gäbe eine verlässliche Übereinstimmung einer DNA, nachweisbar in einigen Haaren auf dem Sessel im Wohnzimmer der Familie Schwarz.

„Der Name?“, fragte Sunja.

„Julius Dörfner. Außerdem haben wir eine Übereinstimmung von Fingerabdrücken. Peter Tienemann.“

„Super! Vielen Dank!“ Sunja legte auf und pfiff durch die Zähne. Na also!

„Es gibt Neuigkeiten!“, begann sie, als René und HP ihr Büro betraten.

„Hier, damit du nicht verhungerst vor lauter Arbeit“, sagte René und reichte ihr eine Bäckertüte.

Sunja lächelte zu ihm empor. Angesichts seiner fast zwei Meter kam sie sich immer schrecklich klein vor. Ihr Kollege war erst fünfundzwanzig, ein schlaksiger Kerl mit markantem Gesicht, sehr eifrig und unter allen Kollegen der mit den besten Umgangsformen, was sich bei Befragungen oft als vorteilhaft erwies. Sie mochte ihn.

„Also“, sagte sie. „DNA-Funde und Fingerabdrücke von Dörfner am Tatort! Den werde ich mir heute gleich mal zur Brust nehmen. Und Tienemanns Fingerabdrücke stimmen auch mit einigen vom Tatort überein. Na bitte. Also, wir gestalten das jetzt effektiver“, begann sie. „Wir teilen uns auf. Du, René, klemmst dich mal hinter dieses Alibi von Frau Schwarz. Ich nehme mir in der Zeit mit HP noch mal die anderen Verdächtigen vor.“

Sie zeigte ihren Kollegen den Zettel von Matthias und beauftragte René, sofort zur Kanzlei von Frau Schwarz zu fahren und eine Lageskizze anzufertigen. Besonders interessierte sie, wie die Klientin hieß, die am Tattag zwischen Viertel vor zwölf und ein Uhr bei der Anwältin gewesen war. Diese wollte sie unbedingt sprechen, um sich das Alibi von Frau Schwarz bestätigen zu lassen.

„Wenn du was hast, ruf mich sofort an“, bat sie. „Ach, und kannst du mal gucken, wem das Ferienhaus gehört, in dem die Sachen von Pascal gefunden wurden? Und noch was. Die März will den Fall partout Richtung Pädophilie biegen. Ich glaub nicht dran, aber klemm dich mal bitte dahinter und liefer ihr Futter, damit sie Ruhe gibt. Alles okay mit dir?“

René Hartmann, der mit seinen langen kastanienbraunen Locken wie ein schüchterner Minnesänger aussah, war sichtlich geknickt. „Ach, nur … das Mittelalterfest. Ich dachte, es bleibt noch Zeit. Hab ich mich schon ein Jahr drauf gefreut. Aber was soll’s … In diesem Beruf sollte man keine Hobbys haben. Sagt nichts, ich weiß.“ Er machte sich auf den Weg, in der Tür hörten sie ihn grummeln.

„Ich“, sagte sie zu HP, „fahre erst zu Martha Junik, um sie nach dem Streit mit ihrer Mitbewohnerin zu befragen. Und danach schleunigst zu Julius Dörfner. Der soll mir mal erklären, wie seine DNA an den Tatort kommt. Und du kümmerst dich um Tienemann, HP. Er hat ebenfalls Fingerabdrücke im Wohnzimmer hinterlassen. Wir müssen wissen, wie oft, wann und warum er im Haus der Nachbarn war. Wie gut er sich da auskennt. Nimm ihn dir ruhig richtig vor. Provoziere ihn ein bisschen, mal sehen, ob er überhaupt aggressiv sein kann. Mir kam er wie ein zahnloses Schoßhündchen vor. Und ruf im Krankenhaus an, wie es Ulrich Schwarz geht. Vielleicht kannst du auch rauskriegen, ob psychische Auffälligkeiten bei ihm bekannt sind.“

„Alles klar. Dann bleibt ja nur noch die ominöse Russin“, warf HP hin.

Sunja fixierte ihren Kollegen wie das Kaninchen die Schlange, riss erst die Augen und dann den Mund auf und sagte langsam: „Wow.“

HPs Gesicht war ein Fragezeichen.

„Ist das nicht merkwürdig?“, meinte sie. „Russin! Pass mal auf.“ Sie zählte an den Fingern ab: „Erstens, eine Russin wird am Tatort gesehen. Zweitens, Frau Junik studiert Slawistik, sie hat ein Praktikum in Sankt Petersburg gemacht. Drittens, die tote Jana Weitlinger konnte Russisch, ich finde bei ihr einen USB-Stick mit kyrillischen Buchstaben. Viertens, die Schwarzens haben ein Foto, das sie in einem Hotel in Kiew zeigt. Na?“

„Fünftens, ich war neulich in so einem russischen Klub, und wer sitzt da am Nachbartisch? Die Staatsanwältin!“ HP grinste.

Sie prusteten los. „Mit anderen Worten, unsere Frau März steckt mit drin! Sie ist die Drahtzieherin!“

„Das ist gut!“ HP feixte. „Das ist gut! Die verhafte ich mit Freuden!“ Er sah sie mit sehnsuchtsvollem Blick an. „Ach Sunja, du siehst echt schön aus, wenn du lachst. Ich will dich gern öfter zum Lachen bringen. Komm, gib deinem Herzen einen Stoß, wie wär’s heute zum Feierabend mit einem gemeinsamen Essen beim Italiener?“

Sunja verdrehte die Augen. „HP“, entgegnete sie, schlagartig ernst. „Das hatten wir schon. Ich möchte das Thema nicht immer wieder von vorne klären, okay? Ich bin zu alt für dich, ich steh nicht auf dich. Such dir endlich ’ne Freundin. So, und jetzt ab an die Arbeit. Wir sehen uns um acht hier, dann werten wir aus. Und sollte Ulrich Schwarz ansprechbar sein, ruf mich sofort an. Da fahr ich mit hin.“

HP ließ die Schultern hängen und schlich hinaus.

Bevor Sunja losfuhr, rief Ole Hansen aus der Rechtsmedizin an. In Jana Weitlingers Körper waren definitiv keine Hinweise auf Gift gefunden worden. Fast war Sunja enttäuscht. Das hätte so gut zu der Dörfner-Spur gepasst.

In der Wohnung roch es nach abgestandener Luft und kaltem Rauch. Der kleine Tisch quoll über von Büchern und aufgeschlagenen Schnellheftern, auf dem Boden lagen Blätter herum. Beide Fenster waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen.

Frau Junik schien genervt vom neuerlichen Besuch der Polizei.

„Lernen Sie für eine Prüfung?“, fragte Sunja.

Martha nickte gequält. „Fällt ja nicht jedem so leicht wie Jana …“

Die Kommissarin fand einen Platz auf dem Sofa, nachdem sie auch dort einen Stapel Papiere zur Seite geschoben hatte. Wortlos betrachtete sie ihr Gegenüber. Die Studentin machte den Eindruck eines Menschen, der mit sich und der Welt auf Kriegsfuß stand. Sie sah übernächtigt aus. Ihr T-Shirt war zerknittert, als hätte sie darin geschlafen.

Je länger das Schweigen zwischen ihnen dauerte, umso nervöser wurde Martha. Sie wich Sunjas Blick aus, wuselte fahrig im Zimmer herum, schob Unterlagen hin und her, als suche sie irgendetwas. Schließlich sprang sie in die Küche und kam mit zwei trüben Gläsern zurück, die sie auf den Fußboden stellte.

Sunja fragte sich, wie man es auf so wenigen Quadratmetern miteinander aushalten konnte.

„Das Zimmer ist wirklich sehr klein. War Ihnen beiden das nicht zu eng?“

„Nein, wir haben uns immer gut verstanden.“

„Ihr Verhältnis zu Jana war also gut. Was haben Sie denn so zusammen gemacht?“

Sunja erschrak, als Martha plötzlich lautstark auffuhr.

„Was fragen Sie das denn alles! Jana ist tot! Überhaupt nichts haben wir zusammen gemacht! Sie war ja nie da! Hatte ja immer was vor, jeden Abend! War ja furchtbar unentbehrlich! Wollte wahrscheinlich den Friedensnobelpreis kriegen mit ihrem Getue! Eine billige Absteige war meine Wohnung für sie, mehr nicht!“ Abrupt verstummte sie. Und fügte schnell, allerdings wesentlich leiser, hinzu: „Entschuldigung. Das ist mir so … Ich bin so durcheinander, seit sie tot ist. Ich hab das echt nicht so gemeint … Das ist so schlimm, wenn jemand plötzlich …“

„So viel zu Ihrem guten Verhältnis“, kommentierte Sunja trocken. „Wo waren Sie eigentlich am 27. April zwischen elf und vierzehn Uhr?“

„Ich war bei einer Rechtsberatung wegen einer Unterhaltszahlung“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Um die Mittagszeit, über eine Stunde, da können Sie gerne nachfragen.“

„Okay, geben Sie mir nachher die Adresse des Beraters. Und nun möchte ich gern noch von Ihnen wissen, worum es bei dem Streit ging, den Sie am Abend des 26. April mit Ihrer Mitbewohnerin hatten.“

Gehetzt blickte die Studentin sie an. „Aber wieso sollten …“

„Schluss mit der Märchenstunde, Frau Junik. Wir wissen, dass es einen Streit gab. Und jetzt sagen Sie mir, was da los war, meine Zeit ist begrenzt.“

Martha begann stockend zu erzählen.

Auf dem Weg zum Auto fragte sich Sunja, wie viel an Marthas Bericht gelogen war. Angeblich hatte Jana seit Kurzem überlegt, doch zu Julius zu ziehen. Weil der Ex das Studium ernster genommen und nicht mehr so viel gekifft habe. Wie sollte sie, Martha Junik, dann die Miete bezahlen? Dieser Dörfner sei ein böser Mensch, ein Teufel geradezu. Sie solle endlich ihr Schneckenhaus verlassen, habe Jana gesagt, sie könne sich doch andere Mitbewohner suchen.

Auf die erneute Frage nach dem Katzenarmband und einer Beziehung Janas zu Schwarz oder Tienemann hatte Martha lakonisch gemeint: „Ja, nicht wahr? Es gibt Leute, die können sich gar nicht retten vor Angeboten. Aber soviel ich weiß, hatte sie mit keinem von beiden etwas. Und dieses Amulett habe ich nie gesehen. Sagte ich ja bereits.“

Als Sunja ins Auto stieg, hatte sie die verbitterte Stimme der jungen Frau im Ohr: „Wissen Sie, was Jana gesagt hat? Dass ich mir endlich selbst einen Freund anschaffen soll! Die hatte gut reden! Der sind sie ja auch alle nachgerannt! Und dann ist sie so verbohrt und sucht sich ausgerechnet einen solchen Fiesling aus, ohne eine Spur von Moral! Einen Tag knutscht der mit ’ner anderen rum, und am nächsten Tag schickt der Jana Blumen! Hierher! In meine Wohnung! Wissen Sie, was auf dem Zettel stand? ‚Nur für meine schöne Jana. Nicht für die Nacktschnecke‘!“

Sunja goss das lauwarme Wasser aus der Plastikflasche in sich hinein wie eine Verdurstende. Dann wählte sie Sörensens Nummer, um ihn zu fragen, ob es Fortschritte bei der Suche nach Pascal gäbe.

Der Kollege wirkte bedrückt. Es gab keine verwertbaren Spuren, keine Lösegeldforderungen, alle üblichen Anzeichen einer Entführung fehlten. Taucher suchten derzeit in den Kanälen um das Schwarzsche Grundstück, bisher jedoch ohne Erfolg. Mittlerweile seien auch die Fahndungsplakate verteilt und Texte für die Aufrufe in Radio und Fernsehen verschickt worden.

„Das heißt, nicht mehr lange und hier laufen die Telefone heiß, weil jeder den Kleinen irgendwo gesehen haben will“, meinte er. „Kennen wir ja. Und neunundneunzig von hundert Hinweisen entpuppen sich dann als Luftnummer. Aber wir geben alles, Sunja. Möge er noch leben.“

Sie legte auf, blickte auf das marode Wohnhaus von Martha Junik und griff nochmals zur Wasserflasche.

Auch zu DDR-Zeiten hat es eine Vermisstenabteilung gegeben, dachte sie. War ihre Mutter damals dort gewesen? Sie würde sie fragen, vielleicht gab es noch Unterlagen.

Ich bin fünfundvierzig, dachte sie. Und erst jetzt fange ich an, nachzuforschen. In diesem Moment entschied sie, heute den ersten Brief ihres Vaters zu lesen. Genau heute.

Sie sah zur Uhr. Kurz nach vier.

Jetzt war Julius Dörfner dran. Momentan fühlte sie sich stark genug, dem Zyniker Paroli zu bieten.

Die kleinen Kohlköpfe in den Gemüsebeeten schienen frisch gegossen. Von den bunten Kinder-Gummistiefeln war nur noch einer da, er lag neben der Gießkanne. Auf dem von Gerümpel umgebenen alten Sofa, direkt neben einer aufragenden Sprungfeder, döste eine braun-orange Katze in der Nachmittagssonne. Nirgends ein Laut.

Sunja blieb auf dem Innenhof der Dörfner-WG kurz stehen, um die eingegangene SMS zu lesen.

Hi Sunja kannst du heut um 10 in den Nachtklub Odessa kommen? Brauch deine Hilfe dringend. Geht um Leben und Tod!!! LG Frank

Sie schluckte. Frank Hollmeyer. Ausgerechnet. Das war doch ein ganz sachlicher Typ gewesen, hatte nie zu Dramatik geneigt. Wieso schrieb der so was? Sie las die Botschaft noch einmal, ging zum Schrottsofa und setzte sich neben die Katze, die nur kurz mit den Ohren zuckte.

Plötzlich vibrierte das Handy in ihrer Hand erneut. Sie erschrak derart, dass sie es fallen ließ. Die Katze maunzte laut und sprang mit einem Satz vom Sofa.

Es war René, er sprach hastig wie immer.

„Hi, Sunja, die Pädophilen-Spur ist schwierig“, begann er. „Natürlich gibt es in diesem Zusammenhang auch Kindesentführungen, aber wenn wir allen nachgehen wollen, brauchen wir Wochen. Unsere Verdächtigen sind in dem Bereich jedenfalls nicht aktenkundig. Und dann die Schwarz. Ich hab ihre Sekretärin gesprochen. Im Büro von ihrer Chefin ist eine Terrassentür zum Hinterhof. Man kann also verschwinden, ohne dass jemand was merkt. Ich hab’s ausprobiert.“

René machte eine Pause. Er schien auf etwas zu warten, vermutlich auf Lob.

„Sunja? Bist du noch dran?“, fragte er.

„Ja … Sehr gut, René …“

Er sprach weiter. „… kennt die Namen der Klienten von Schwarz nicht. Aber sie kann die Klientin beschreiben, die um Viertel vor zwölf ins Büro gegangen ist. Eine Blonde, Junge war das wohl …“

„Schön“, sagte sie.

„Alles in Ordnung mit dir?“

„Was?“

„Wo bist du?“

„Ähm, auf dem Weg zu Dörfner, also, auf seinem Hof, ich gehe gleich zu ihm, bin aufgehalten worden …“ Ihr Mund war ausgetrocknet. Sie räusperte sich und ihr Blick fiel auf den bunten Gummistiefel. Wo war der zweite geblieben? Warum meldete sich Frank ausgerechnet jetzt, wo sie wieder in einem Fall mit einem verschwundenen Kind steckte?

„Bis nachher“, hörte sie René sagen. „Kommst du voran?“

Sie wollte antworten, stieß jedoch nur einen erschreckten Laut aus, als sie ein paar nackte Füße in abgetretenen Sandalen vor sich sah.

Sie blickte auf.

„Na, Frau Kommissarin? Ein bisschen chillen in unserer kleinen Oase?“ Vor ihr stand Julius Dörfner und sah aus graugrünen Augen spöttisch auf sie herunter. Elegant strich er seine Haare aus der Stirn, klemmte sie hinter die Ohren und grinste. „Haben Sie Ihr Büro in die Sonne verlegt? Sehr vernünftige Entscheidung. Soll ich Ihnen ’nen Kaffee runterbringen? Oder lieber einen Eisbecher?“

Sie hörte Renés aufgeregte Stimme durchs Telefon und drückte das Gespräch weg und folgte Dörfner in den dritten Stock.

Dort konfrontierte sie ihn mit den neuen Ermittlungsergebnissen. Doch Dörfners Erklärung bezüglich der DNA und der Fingerabdrücke am Tatort war so simpel wie einleuchtend. Jana hatte ihn angeblich einmal, vor etwa drei Wochen, in die Villa eingeladen. Aus Spaß, um ihm die Dekadenz dort zu zeigen. Zum Beweis begann er, Details im Wohnzimmer der Familie Schwarz zu beschreiben.

Sunja unterbrach ihn mit der Feststellung, dass dies der Mörder ebenso könne.

„Ein Zeuge Ihres angeblichen Aufenthalts dort vor drei Wochen wäre viel interessanter für uns, Herr Dörfner.“

Er überlegte kurz. „Den gibt es! Ja, natürlich! Martha war ja dabei, Martha Junik. Jana passte auf den Kleinen auf und wollte mir in der Villa was kochen. Martha kam ganz kurzfristig mit. War kein Vergnügen, mit der unterwegs zu sein, das kann ich Ihnen sagen. Auf jeden Fall müsste die sich daran erinnern, dass wir zu dritt dort waren.“ Dörfner holte den Kalender. „Es muss der 4. April gewesen sein. Ein Dienstag. Gegen Mittag. Ja, genau, ich bin mir jetzt ziemlich sicher.“

Er habe immer noch gehofft, wieder mit Jana zusammenzukommen. Nur deshalb sei er dem Angebot gefolgt.

„Haben Sie ihr mal Blumen geschickt? Um bei ihr zu landen?“

„Ich und Blumen? Fleurop? Nein. Also, wenn es mal so weit ist …“

„Und was für ein Verhältnis haben Sie zu Martha Junik?“

„Keins. Kommt in meiner Schmetterlingssammlung nicht vor“, entgegnete er hochmütig. „Nicht mein Geschmack, keine Spur von Eleganz. Die weiß weder, was sie will, noch ist sie auch nur halbwegs attraktiv. Eine früh Vertrocknete, wenn Sie mich fragen. Jana und die passten überhaupt nicht zusammen. Ich hab nie verstanden, warum die da gewohnt hat.“

Sunjas Schläfen pochten, als sie kurz nach achtzehn Uhr den Hof überquerte. Sie war frustriert. Sie hatte sich so viel von dieser neuen Spur erhofft und nun das.

Die Katze hatte wieder ihren Platz auf dem zerfledderten Sofa eingenommen und rührte sich nicht. Im Gehen holte Sunja das Handy heraus und las die SMS erneut. Sie würde zu dem Treffen gehen, aber sie konnte sich keinen Reim auf die nebulöse Nachricht machen. Es geht um Leben und Tod … Wie ein Widerhaken steckten die Worte im Gehirn. Vielleicht sollte sie besser ihre Waffe mitnehmen.

Ich komme, schrieb sie. Was ist los mit dir? LG Sunja

Über dem Bürgersteig flirrte die Luft. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die frischen Blätter der Straßenbäume hingen jetzt schon schlaff herunter. Was für ein April!

Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen und zündete eine Zigarette an. Warum war sie nur so aufgeregt? Gesehen hatte sie Frank das letzte Mal vor zwei Jahren. Genau, jetzt fiel es ihr wieder ein, sie waren sich zufällig über den Weg gelaufen, einen Kaffee trinken gegangen und hatten wider Erwarten stundenlang miteinander geredet. Er war ihr einsam vorgekommen, Familie hatte er nicht, von Freunden war auch kein Wort gefallen. Und sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie er ihren Fragen nach seiner Arbeit ausgewichen war. Angeblich war er irgendwo im Berliner Umland als polizeilicher Berater tätig, aber alles, was er gesagt hatte, hatte ziemlich unglaubwürdig geklungen.

Nachtklub Odessa? Wo war der eigentlich? Sie musste zu Hause nachsehen.

Ihr Telefon summte.

Ich bin froh, dass du kommst. Wende dich an den Kellner, alles andere mündlich, ist sicherer. LG Frank

Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band

Подняться наверх