Читать книгу Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band - Sascha Behringer - Страница 12
II. Der kleine Schaffner
ОглавлениеImmer suchst du die Perle am Tage deiner Geburt verloren Das Besessne suchst du Musik der Nacht in den Ohren
- Nelly Sachs -
Noch einmal trat sie ins Schlafzimmer und öffnete sämtliche Schranktüren. Schlug die Bettdecken zurück. Leuchtete unters Bett und sah in die Nachtschränke. Nichts. Weiter. Ein riesiges Bad mit schräger Wand, weiße Fliesen mit Goldverzierung. Sie schaute in die Dusche, hinter die Badewanne, in die Toilette. Alles strahlte makellos sauber. Weiter. Der Balkon zur Straßenseite. Teakholzsitzecke und drei blühende Oleander in Keramiktöpfen. Keine Versteckmöglichkeit. Sie hastete zur nächsten Tür.
Eine Abstellkammer. Zum Glück mit Beleuchtung. Staubsauger, Reinigungsmittel, Schraubenzieher an Wandhalterungen. Sie durchsuchte die Werkbank samt Ablage. Ein Regal, ein Werkzeugschrank auf Rollen, Aufbewahrungsboxen. Nichts. Nächste Tür. Eine Gästetoilette. Ein Arbeitsraum mit Tisch, zwei Computern, Büroschränken, Kartons. Bei jeder Schranktür, die sie öffnete, hielt sie die Luft an. Doch da war nichts. Sämtliche Schränke enthielten elektronische Bauteile. Laufwerke. Tastaturen. In den Schubladen des Schreibtisches säuberlich abgeheftete Unterlagen vom Hausbau. Ausgeprägter Ordnungssinn. Bis zur Zwanghaftigkeit. Persönliche Dokumente fand sie keine, bis auf einen Arbeitsvertrag von Ulrich Schwarz, ausgestellt vor vierzehn Jahren. Er arbeitete als Programmierer in einer Firma namens Intertec, die, soweit sie das beim schnellen Durchblättern erfassen konnte, kundenorientierte Softwarelösungen für Firmen im osteuropäischen Ausland entwickelte.
Wo war das Kind? Sie versuchte sich zu beruhigen, redete sich ein, dass es bei einem Freund war.
Die letzte Tür im oberen Flur führte in ein himmelblaues Kinderzimmer, den einzigen Raum im Haus, der lebendig wirkte. Ein mit Duplo-Steinen übersäter Teppich. Gewundene Schienenstränge mit einer knallbunten Lokomotive darauf. In den Wagen gingen eine Giraffe, ein Elefant und zwei Schafe auf Reisen. Der kleine Schaffner stand vor der Lok. Eine Frau mit Blumenstrauß winkte ihm zu. Sunja schloss die Augen. Sie glaubte fast, das Kind zu riechen. Seine Stimme zu hören. In welchem Alter spielten Kinder mit so etwas? Ein runder Tisch. Eine Schachtel mit dicken Buntstiften. Der Hund im Malbuch war ungelenk mit bunten Farbstrichen übertüncht. Neben der Tür eine Kindergarderobe. Blauer Anorak, karierte Wetterjacke, Mütze und Schal. Ein winziger grün-weißer Rucksack.
Die Angst nahm ihr den Atem. Zögernd begann sie auch in diesem Raum mit der Suche. Schränke, Schubladen, Kisten. Sie schlug das Deckbett des Kinderbettes auf und schrak zurück. Die Glupschaugen einer riesigen Puppe starrten sie an.
Hatte sie etwas übersehen? Erneut betrat sie den Flur. Keinerlei Möbel. Kein weiterer Dachboden.
Das Foto unter dem Arm, lief sie die Treppe hinunter und stieß an der Haustür fast mit Matthias zusammen, der eben hereinkam.
„Es gibt ein Kind!“, rief sie ihm entgegen.
Er sah das Bild an. „Und wo ist es?“
„Genau das wüsste ich gern!“
„Wenn seine Eltern arbeiten, ist es in der Kita, oder?“
Wahrhaftig, auf diese simple Idee war sie nicht gekommen. „Das müssen wir schnellstens checken“, entgegnete sie. „Hast du aus dem Nachbarn was rausbekommen?“
„Na ja. Einer von denen, die dir ein Ohr abkauen. Typ Hilfssheriff, überaus wichtig. Er sitzt im Rollstuhl, verbringt den ganzen Tag am Fenster und verdächtigt quasi die gesamte Nachbarschaft. Wenn’s nach ihm geht, sind das alles Verbrecher. Aber wenn du mich fragst, der hört die Spinnen husten. Ich glaub, der hat sich gefreut, dass er mal Besuch hatte. Hat mich kaum weggelassen. Vier Tassen Kaffee musste ich trinken.“
„Schön für dich“, kommentierte Sunja. „Eine davon hättest du mir gern mitbringen können. Okay, gibt’s Infos zu den Hausbewohnern? Wohnte der Typ hier mit seiner Frau oder nicht? Infos zum Kind? Hast du mal irgendwas Konkretes?“
„Du hast mir gerade erst von einem Kind erzählt, wie soll ich ihn dazu befragt haben? Hast du schlechte Laune?“
Die Kommissarin knurrte etwas. „Schon gut. Aber quetsch ihn noch mal wegen dem Kind aus. Es muss hier gewohnt haben. Junge oder Mädchen? Name? Alter? Könnte es in der Kita sein? Oder bei der Oma? Und wo könnte die Mutter sein? Sie ist nicht die Tote aus dem Wohnzimmer. Die Frage ist, wer das Opfer dann ist. Sie trug dasselbe Armband wie der Mann, vielleicht ist sie seine Geliebte? Was hat sie hier zu suchen? Frag du in den Häusern auf der anderen Straßenseite. Ich nehme mir gleich die direkten Nachbarn vor. Und die Häuser auf dieser Seite.“
„Da bin ich doch um Mitternacht noch nicht fertig“, stöhnte Matthias. „Vielleicht rufst du ja nachher meine Frau an und erklärst ihr das?“
Sunja drückte ihm das Bild in die Hand. Sie merkte, dass sie ihn wieder einmal herumkommandiert hatte, und wollte noch etwas Aufmunterndes sagen. Doch es fiel ihr nichts ein. Sie sah zu, wie er sich mit federnden Schritten über die Wiese entfernte.
„Frau Löwel?“ Ein Techniker kam auf sie zu. Er hatte ein hochrotes Gesicht und streifte im Laufen seine Kapuze ab. „Die Papiere der Toten.“ Er reichte ihr mehrere Plastikhüllen. „Waren in einem Rucksack unter der Garderobe. Jana Weitlinger aus Dresden, 24, Pädagogik-Studentin.“
„Matthias!“, rief Sunja ihrem Kollegen nach und sah, wie er auf dem Hacken kehrtmachte. Sie hielt ihm den Personalausweis hin. „Das ist das Opfer. Jana Weitlinger. Also nicht die Ehefrau.“
„Hauptkommissarin Löwel?!“ Unter dem Vordach stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen die Staatsanwältin.
Sunja, das Schlimmste befürchtend, rief: „Etwa noch eine …?“
„Was?“
„Nichts.“
Sie gingen zur Garage hinter dem Haus. In der Mitte stand statt eines Autos ein ausgeklappter Tapeziertisch, auf dem sie ihre Tasche abstellte.
„Endlich ein Raum, wo wir uns beraten können“, sagte die Staatsanwältin.
„Waren die Techniker hier schon drin?“, fragte Sunja.
„Wofür halten Sie mich? Natürlich. Also, was haben wir? Ist Ihr Kollege zurück?“
Sunja berichtete und sie besprachen die nächsten Aufgaben.
„Ideen zum Tathergang?“, fragte Frau März. „Unfall ist ja wohl auszuschließen?“
Die junge Staatsanwältin warf ihr die Fragen wie Brocken vor die Füße. Sunja grollte innerlich. Aber mit der würde sie auskommen müssen, zumindest so lange, bis die Dame die Karriereleiter hinaufgeklettert war und es nicht mehr nötig hatte, sich in den Niederungen der Verbrechensbekämpfung die Finger schmutzig zu machen.
„Eindeutig Fremdverschulden“, entgegnete sie. „Falls eine Kindesentführung vorliegt, können das Opfer und der Verletzte dem Entführer im Weg gewesen sein. Obwohl die Übertötung dagegen spricht, das sieht nach Affekthandlung aus. Was eher auf ein privates Motiv schließen lässt. Der Täter könnte von der Frau hereingelassen worden sein. Es gibt keine Einbruchsspuren, ich gehe nicht von Raub aus.“
„Warum nicht?“, unterbrach Frau März sie.
„Es scheint mir untypisch dafür.“
„Versuchter Raub?“
„Möglich. Aber es wurde nichts durchwühlt. Und warum ist dann das Kind weg? Das passt nicht. Nehmen wir an, der Täter ist ins Wohnzimmer eingedrungen, hat sich das Kind geschnappt, die Studentin getötet …“
„Sie glauben doch nicht, dass er mit dem Kind unterm Arm zwei Menschen niedersticht?“
„Ich glaube erst mal gar nichts. Möglich ist auch, dass der Täter das Kind entführen will und von der Studentin überrascht wird. Sie versucht, ihm den Kleinen zu entreißen, er greift nach einem Messer, tötet sie, das Kind läuft fort … Dann kommt der Vater nach Hause, wird Zeuge des Mordes, der Täter geht auf ihn los … Die Frage ist nur: Wo ist das Kind?“
„Vielleicht war es ja gar nicht da.“
„Möglich.“
„Genau. Die offene Wagentür. Das zweite Opfer muss gleich beim Aussteigen angegriffen worden sein“, sagte die Staatsanwältin.
„Woraus schließen Sie das?“
„Das sah man doch …“
Sunja zog es vor, diese Bemerkung nicht zu kommentieren.
„Wir müssen auf jeden Fall die Eltern überprüfen“, sagte sie. „Bei unklaren Kindesentführungen …“
„Ich denke, ich werd mich erst mal um die Presse kümmern“, warf Frau März ein. „Ein Wunder, dass die noch nicht hier sind. Wir gehen von Fundort gleich Tatort aus?“
„Ziemlich sicher. Nach Aussage der Ärztin.“
„Gut. Was gibt’s an Täterwissen?“
Sunja zählte auf: „Er kennt den Tatort, weiß, wie sein Opfer aussieht. Die Frau hat ihn reingelassen oder er hatte einen Schlüssel. Vierzehn Stiche, wahrscheinlich durch ein Messer aus dem Haus. Mehrere tödlich. Sie wurde vermutlich direkt im Zimmer ermordet, lag auf dem Teppich … Mal sehen, was die Techniker noch notieren. Können wir die Rechtsmedizin vor dem Abtransport der Leiche hier haben? Damit wir nichts übersehen.“
„Machen Sie das.“
„Das müssten Sie aber anordnen. Ebenso die Erlaubnis, dass wir Fingerabdrücke und DNA-Proben von möglichen Zeugen und von Personen aus dem Umkreis des Opfers nehmen können, auf freiwilliger Basis natürlich.“
„Werd ich.“ Frau März packte ihre Notizen ein. „Meine Anwesenheit dürfte ja vorerst nicht mehr …“
Ein markerschütternder Schrei aus dem Garten ließ sie verstummen.
Sunja lief hinaus und erkannte sofort die Frau, die sie auf dem Foto gesehen hatte. Sie eilte auf sie zu.
„Hallo? Wer sind Sie, bitte?“
Die Frau stand starr neben dem Mercedes, stützte sich mit einer Hand am Auto ab und schrie aus Leibeskräften. Im Moment gab es wenig Ähnlichkeit zwischen ihr und der Frau auf dem Bild im Flur. Blanke Panik sprang ihr aus dem Gesicht, die kurzen braunen Haare standen ihr wirr um den Kopf. Sie war schlank und sehr groß, Mitte bis Ende dreißig und elegant gekleidet. Ihr dunkelblaues Kostüm mit weißer Bluse erinnerte an die Uniform einer Stewardess. Sie brüllte wie ein verängstigtes Tier.
Einer der Helfer versuchte, eine Decke um sie zu wickeln, die jedoch ständig herunterrutschte. Vergeblich bemühte er sich, die aufgelöste Frau vom Mercedes wegzuführen, vor dessen offener Tür die Blutflecke auf den Steinen nicht zu übersehen waren. Mit einer Hand krallte die Frau sich am Auto fest, mit der anderen schlug sie auf den Sanitäter ein. Neben ihr auf dem Boden lag eine lederne Umhängetasche.
Sunja hob die Tasche auf, nickte dem Rotkreuzmann zu und griff nach dem Arm der Schreienden.
„Mein Kind!“, schrie die Frau. „Wo ist mein Mann? Was machen Sie hier? Verschwinden Sie! Verschwinden Sie aus meinem Garten! Alle! Ich will, dass Sie verschwinden!“
„Sie sind Frau Schwarz?“, sagte Sunja sanft.
Die Angesprochene verstummte wie auf Knopfdruck. Ihr Blick wurde glasig, die Beine knickten ihr ein und sie sackte weg. Der Sanitäter, der zum Glück noch neben ihr stand, fing sie geschickt auf.
Zwei andere Helfer holten einen Transportstuhl aus dem Rettungswagen, in den sie die apathische Frau setzten.
Sunja sah sie besorgt an. „Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?“, fragte sie.
„Vergessen Sie es“, flüsterte der Rettungshelfer. „Schock. Wir bringen sie in die Klinik.“ Er streckte die Hand nach der Tasche aus.
Sunja warf rasch einen Blick hinein. Im Portemonnaie fand sie einen Personalausweis auf den Namen Maria Schwarz, geboren am 7. Mai 1975, und das Bild eines etwa dreijährigen Kindes mit schwarzem Haar und Segelohren. Mit einem weißen Teddy im Arm strahlte es den Betrachter an.
„Frau Schwarz? Ist das Ihr Sohn?“ Sie hielt ihr das Foto entgegen.
Doch die Frau reagierte nicht mehr. Unauffällig ließ Sunja das Kinderfoto in die Jackentasche gleiten. Sie konnte nur noch zusehen, wie Frau Schwarz in den Rettungswagen gebracht wurde und dieser sich mit Martinshorn entfernte.
Erst jetzt nahm sie die Staatsanwältin hinter sich wahr.
Wortlos zeigte sie ihr das Bild, auf dessen Rückseite Pascal, 2014 stand.
„Gut für die Fahndung“, war Frau März’ Kommentar. „Setzen Sie sich deswegen mit der Vermisstenabteilung in Verbindung. Ich erwarte morgen früh Ihren Bericht. Spätestens zum Rapport. Neun Uhr. Raum 208. Auf Wiedersehen.“
Sie rauschte davon.
Sunja hörte die Autotür klappen. „Staatsanwältin müsste man sein“, murmelte sie.
Ein vermisstes Kind, dachte sie. Wie damals bei der Sache mit Frank Hollmeyer. Mit ihm war sie auf der Polizeischule gewesen und danach noch ein Jahr im Praktikum in Brandenburg. Dort hatte es einen ungeklärten Fall mit einem vermissten Mädchen gegeben. Frank biss sich daran fest, las nächtelang Akten, ermittelte in seiner Freizeit ohne Dienstanweisung, beschattete heimlich den Vater und entdeckte, dass der seine Tochter umgebracht und die Leiche versteckt hatte. Da Frank die Ergebnisse nicht offiziell verwenden konnte, spielte er sie ihr als anonymen Hinweis zu. Offiziell hatte damit sie den Fall aufklären und die Lorbeeren einstreichen können.
Ein Jahr später hatte sie im LKA angefangen.
Frank … Ein undurchsichtiger Typ, ein Bär von einem Mann. Er war ziemlich abgebrüht gewesen und hatte sich damals über ihre naiven Moralvorstellungen, wie er sagte, amüsiert. Es hatte gefunkt zwischen ihnen, aber daraus war nie etwas geworden. Wann hatte sie ihn das letzte Mal gesehen? Vor zwei Jahren? Sein Leben schien, warum auch immer, aus Versteckspielen zu bestehen.
Sunja wischte die Erinnerung weg und hoffte inständig, dass dieser Fall nicht auch mit einer Kinderleiche enden würde.
Bei der Zeugenvernehmung im Nachbarhaus zerschlug sich ihre Hoffnung auf Kaffee sofort, sie bekam nicht mal ein Glas Wasser angeboten. Schon an der Tür näselte Frau Tienemann, man habe sie viel zu lange warten lassen. Die Frau war um einiges älter als ihr Ehemann und in ein knöchellanges grünes Samtkleid gehüllt, das Sunja an einen Berlinale-Empfang denken ließ. Sie nahmen an einem Glastischchen im Wohnzimmer Platz, auf dem stapelweise schrillbunte Frauenzeitschriften lagen.
Gleich zu Beginn der Befragung riss die Dame des Hauses das Gespräch an sich. Zwischen den Sätzen beäugte sie misstrauisch ihren Mann, der eingeschüchtert auf dem Sofa hockte. Hatten die beiden etwas zu verbergen?
Erst kurz vor sieben Uhr abends saß Sunja wieder im Büro. Auf dem Weg hatte sie es immerhin geschafft, drei Coffee to go zu trinken und an einem Imbiss eine Spinatpizza zu essen. Vor Müdigkeit klappten ihr trotzdem einige Male die Augen zu, also warf sie die Espressomaschine an und schaute trübe in den Raum. Dieses Büro ließ sie an einen Messiehaushalt vor dem Kollaps denken. Drehstühle verloren sich inmitten einer Landschaft aus Kartons, die bis zum Fensterbrett reichte. Schreibtische ächzten unter der Last von Aktenordnern, Anträgen für richterliche Durchsuchungsbeschlüsse, Zeugenaussagen, Fotoalben, eingetütetem Hausrat und leeren Kaffeebechern. Neben der Kaffeemaschine standen zwei Flipcharts, bedeckt von Fotos, Magnetpfeilen, Notizen und Fragezeichen.
Ein solcher Mordfall, und sie saß hier allein! Matthias war in Elternteilzeit und würde von zu Hause aus arbeiten. HP war immer noch wegen einer Überfallserie in Brandenburg, das würde wohl die ganze Nacht dauern.
Matthias machte ein verkniffenes Gesicht. Er saß im Arbeitszimmer am PC und bemühte sich, seinen Sohn zu überhören. Mit dem Müllauto aus Plastik rammte Felix gerade zum wiederholten Mal den Schreibtisch. Aus dem Wohnzimmer erklang das Geschrei des Jüngsten.
Die Personalien der Beteiligten im Mordfall hatte er alle überprüft. Dann die Straftäter-Datenbank. Die DNA-Datenbank. Nichts Relevantes. Und jetzt noch mal die Vermögensdaten. Jana Weitlinger …
Die Zimmertür wurde aufgerissen, und Ines baute sich neben ihm auf. „Ist ja super, wie du dich um deine Kinder kümmerst!“, fuhr seine Frau ihn an. „Wärst du doch besser im Büro geblieben, dann wüsste ich wenigstens, dass ich auf mich gestellt bin!“
Matthias wollte etwas erwidern, jedoch wurde ihm ein schreiendes Kleinkind in den Arm gelegt. Noch einmal knallte die Tür, und Ines war verschwunden.
Ernesto brüllte wie am Spieß. Matthias schluckte und begann ihn zu schaukeln. Er stand auf, um noch einmal in Ruhe mit Ines zu sprechen. Auf dem Weg zur Tür hielt ihn jedoch das einsetzende Jammern seines Ältesten zurück, der sich den Finger in einer Schublade eingeklemmt hatte.
Zwei Stunden später saß er endlich wieder vor dem Computer. Alles war still. Ines schlief, und die Kinder auch. Einstweilen.
Matthias starrte auf den Bildschirm mit dem Polizei-Symbol in der Ecke, konnte sich aber nicht mehr konzentrieren. Seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit. War dies das Leben, das er gewollt hatte?
Er liebte seinen Job, schließlich hatte er extra vor ein paar Jahren die Versetzung zur Kripo beantragt. Doch jetzt wünschte er sich manchmal wieder in den Streifendienst zurück, dort gab es wenigstens geregelte Arbeitszeiten. Das wäre für die Kinder viel besser. Und für Ines auch. Er mutete seiner Familie schon eine Menge zu, das war ihm klar. Andererseits, so ein Leben, wie er es sich damals in Aachen vorgestellt hatte, mit Familie, Häuschen und Garten, das wäre ihm momentan fast ein bisschen zu langweilig.
Aachen … Damals schien sich alles in geordneten Bahnen zu bewegen. Anja, seine erste Freundin, war schwanger gewesen, sie hatten sich auf das Kind gefreut … Und dann passierte dieser Albtraum, von dem er sich bis heute nicht ganz erholt hatte. Mitten in der Stadt, auf offener Straße, war Anja entführt worden. Die Gangster hatten eine halbe Million Euro von ihrem Vater erpresst, einem alteingesessenen Brauereibesitzer.
Er selbst war damals fast durchgedreht. Nach Wochen war Anja freigekommen, in einem schlimmen Zustand, durch den Stress hatte sie das Kind verloren. Alle Therapien hatten nichts genützt, sie hatte sich abgekapselt und angefangen, Tabletten zu nehmen. Inzwischen lebte sie in einer betreuten Wohngemeinschaft.
Sein Leben hatte danach einen Riss bekommen. Er hatte das Studium an den Nagel gehängt und war zur Polizei gegangen. Hatte gehofft, noch einmal neu anfangen zu können, etwas wiedergutmachen zu können, woran er nicht schuld war … Es hatte ihn so wütend gemacht, dass die Schuldigen nicht gefasst wurden. Das durfte nicht sein. Er wollte etwas tun, für Anja, für andere und für sich selbst. Und trotzdem Kinder haben, wie er es sich immer erträumt hatte.
Verflucht, wie sollte das gehen? Ständig hatte er das Gefühl, nicht genug für seine Familie da zu sein. Dabei waren die drei ihm so wichtig! Aber er hing auch an seiner Arbeit.
Die Augen fielen ihm zu, worüber hatte er gerade gegrübelt?
Er starrte den Polizeistern auf dem Bildschirm an und hämmerte wütend auf eine Taste.
„Sörensen, wenn ich anrufe, ist es immer eilig“, sagte Sunja. „Das weißt du doch. Eine tote Studentin, ein verschwundenes Kind. Es muss sich nicht zwingend um eine Entführung handeln, wenn ein Mord vorliegt, ist aber in jedem Fall Gefahr im Verzug. Die Daten hab ich dir alle rübergeschickt, haltet ihr uns auf dem Laufenden? Ja, die Daten der Angehörigen sind natürlich dabei. Es zählt jede Stunde, aber wem sag ich das. Wir drücken euch die Daumen! Bis bald, hoffentlich!“
Sunja beendete ihr Telefonat mit dem Leiter der Vermisstenabteilung. Sie betrachtete das Bild des verschwundenen Jungen. Der Sohn der Familie Schwarz war drei Jahre und zwei Monate alt. Bildmaterial gab es reichlich, sein Aufwachsen war in sage und schreibe zwölf Fotoalben dokumentiert. Alle Kindertagesstätten und Krankenhäuser der Umgebung hatten Matthias und sie erfolglos abtelefoniert, dort kannte man kein Kind dieses Namens. Kein Nachbar wusste etwas über den möglichen Aufenthaltsort des Jungen. Ulrich Schwarz schwebte in Lebensgefahr, die Messerstiche hatten Lunge und Milz verletzt. Nach zwei Operationen lag er im künstlichen Koma. Seine Frau Maria, freiberufliche Anwältin für Wirtschaftsrecht mit eigener Kanzlei, wurde im selben Krankenhaus betreut, man wollte Sunja informieren, sobald sie befragt werden konnte. Vom Tatwerkzeug fehlte weiterhin jede Spur.
Sie blickte in den Abendhimmel und seufzte. Dann fuhr sie den Computer hoch, griff zum blauen Notizbuch mit den Zeugenaussagen und öffnete die zweite Zigarettenschachtel des Tages.
Im Unterschied zu Matthias, der dafür schon lange sein Tablet benutzte, machte sich Sunja bei Befragungen immer noch handschriftliche Notizen auf einen Block. Zwei Jahre als Protokollantin am Strafgericht kamen ihr hier zugute, sie konnte den Wortlaut direkt mitschreiben. Hinterher musste sie natürlich aus dem Gekritzel ein ordentliches Protokoll machen. Dies hatte aber den Vorteil, dass sie sich bei der endgültigen Niederschrift genau an alle Feinheiten und Stimmungen des Gespräches erinnerte. Oft fielen ihr gerade deshalb Unstimmigkeiten und Widersprüche in den Aussagen auf.
Aus den kryptischen Zeichen in ihrem Block entstand auf dem Bildschirm langsam das Protokoll der Zeugenbefragung von Larissa Tienemann:
„Ich war gerade von der Arbeit gekommen. Schon als ich auf der Auffahrt stand und die Wagentür öffnete, hörte ich aufgeregtes Geschrei, die Stimmen von einer Frau und einem Mann. Einzelne Worte konnte ich nicht verstehen. Ich dachte an Streit, es war ziemlich laut. Ich wunderte mich, unsere Nachbarn sind sonst friedliche Leute. Ich wollte mich aber nicht einmischen. Dann bin ich ins Haus gegangen. Als ich wenig später das Küchenfenster öffnete, habe ich Schreie gehört. Ich hab Angst bekommen, mich aber nicht getraut, nachzusehen. Weil es so unheimlich war, habe ich meinen Mann angerufen. Der kam eine viertel Stunde später. Inzwischen war es nebenan wieder ruhig. Wir sind beide rübergegangen. Die Haustür stand offen, und wir haben gerufen, aber niemand hat geantwortet. Da sind wir rein und haben gleich die tote Frau gesehen. Bitte? Nein, wir kannten die Frau nicht. Wir haben dann sofort die Polizei angerufen. Nein, als mein Mann noch nicht zu Hause war, habe ich niemanden gesehen. Ich war allein im Haus. Ich habe nicht rausgeguckt. Ich hatte ja solche Angst wegen der Schreie, dass ich mich im Haus verbarrikadiert habe, bis mein Mann kam.“
„Na super“, zischte Sunja. „Man kann ja wenigstens aus dem Fenster gucken!“
Sie erinnerte sich an das Gesicht, das die Zeugin gemacht hatte, als sie sie nach dem Opfer gefragt hatte. Die Tienemann hatte ihren Ehemann scharf angesehen, bevor sie lauthals beteuerte: „Nein, wir kannten die Frau nicht!“
Da war etwas faul. Doch immerhin hatten die beiden kommentarlos Fingerabdrücke und eine DNA-Probe abgegeben.
Sie steckte die Zigarette an und öffnete die MP3-Datei, die Matthias ihr geschickt hatte.
„Mordfall Weitlinger. Matthias Müller, ermittelnder Beamter. Zeugenbefragung Rialtoring 25, Herr Bruno Ramser, allein lebend, Rentner. 27. April 2014, 14.55 Uhr.“
Ramser: „Hat sie ihn umgebracht?“
Matthias: „Wen meinen Sie mit ‚sie‘?“
„Na, diese Blonde, die sich da seit einiger Zeit rumtreibt. Das musste ja so kommen. Ich hab mir das gleich gedacht, dass da was nicht stimmt.“
„Warum?“
„Bei dem unsteten Leben, das diese Leute führen! Dass da was faul war, sah man doch. Aber auf mich hört ja keiner. Ein ganzes Jahr war der Mann weg, ist das normal? Angeblich beruflich, aber das hab ich ja von Anfang an nicht geglaubt. Wollen Sie die Daten haben? Habe ich notiert. Ich notiere alles. Und dann dieses blutjunge Ding! Mir können Sie nicht erzählen, dass da nichts gelaufen ist. Fragen Sie einen alten Mann, ich sage es Ihnen, da hing aber alles schief, nicht nur der Haussegen. Sie sah ja immer so unglücklich aus, seine Frau, die Ärmste. Trotzdem, wie der Garten in der Zeit verlottert ist, das geht nicht. Keinen Rasen gemäht, alles kreuz und quer, keine Ordnung. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Es bekommt den Leuten einfach nicht, wenn sie so jung schon viel Geld haben, sage ich immer. Das verdirbt den Charakter. Das bringt sie auf dumme Gedanken. Wir im Osten mussten wenigstens noch sparsam sein. Aber bringt Sparsamkeit heute noch irgendwas? Alles wird einem weggenommen! Alles ist schlimmer geworden seit der Wende! Na ja, also wenn Sie mich fragen, hat er mit dem jungen Ding was gehabt.“
„Wen meinen Sie mit ‚junges Ding‘?“
„Na, die Jungsche, die angeblich auf das Kind aufgepasst hat. Und ich sag Ihnen, entweder war seine Frau blind oder sie wollte es nicht wahrhaben. Aber die war ja selbst nicht besser. Verreist plötzlich, und das Haus steht leer. Ewig waren sie weg. Eine Schande! Macht man denn so was? Mit einem Baby in der Weltgeschichte rumfahren? Überhaupt, haben Sie Kinder, junger Mann?“
Es folgte eine ausführliche Beschreibung von Matthias’ Nachwuchs. Herr Ramser zeigte sich erstaunlich interessiert. Sunja verdrehte die Augen und ließ die Aufnahme vorlaufen.
Kinder. Da stach etwas ins Herz, auch wenn sie sich dagegen wehrte. Fünfundvierzig war sie, geschieden. Zufrieden mit dem Leben, glücklich in diesem Beruf. Für Kinder gab es keinen Raum, die Zeit war abgelaufen, das Thema vorbei. Oder?
Nach kurzer Zeit ging es weiter:
„Das tut man doch nicht. Es war doch noch ganz klein … Wie? Und dann ein Jahr von zu Hause weg? Würden Sie das etwa mit Ihren Kindern machen? Na also, sehen Sie. Was? Ja, ich hab aus dem Fenster geguckt, als wir die Schreie hörten. Hab nichts gesehen. Und da hab ich die Gardinen wieder zugezogen. Was soll ich denn machen? Ist das meine Angelegenheit, wenn da irgendwo einer schreit? Nein, ich hab niemanden wegrennen sehen. Schließlich habe ich noch anderes zu tun, als den ganzen Tag aus dem Fenster zu gucken!“
Wütend stoppte Sunja die Aufnahme, sie hatte genug von dem Geseier. Was waren das für Leute, die den Vorhang zuzogen, statt ihren Mitmenschen in der Not beizustehen? Doch für eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung reichte das, wie so oft, nicht.