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IV. Im Dunkeln

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Und man siehet die im Lichte, Die im Dunkeln sieht man nicht.

- Bertolt Brecht -

Es ist rundum dunkel. Nur durch einen winzigen Schlitz schickt die Mittagssonne ihre zarten Lichtboten auf weißes, feines Haar.

Die kleine Hand des Jungen hält das weiche Fell des Plüschhasen fest umklammert. Die Beine hat er an den Körper gezogen, damit er nicht friert. Auf der Stufe neben ihm steht ein Teller mit Möhren und trockenem Brot.

Pascal mag keine Möhren. Lieber Gummibärchen. Oder Apfelmus mit Eierkuchen. Mehr Apfelmus.

Die Zeit im Dunkeln geht nie vorbei. Wo ist die Sonne? Jana sagt, Blumen brauchen Sonne zum Wachsen. Und Wasser. Aber Wasser gibt es hier nicht. Nur Saft.

Er hat mit Jana gespielt, mit den Duplos. Bis es an der Tür geklingelt hat, da ging sie runter. Aber was ist dann passiert? Hat er geschlafen? Müde war er. Wie bei der Wolke vom Sandmännchen. Sein linker Arm hat wehgetan, er hat nach Papa gerufen, weil es immer besser wird, wenn der pustet. Aber Papa ist nicht gekommen. Dann hat er auch Mama gerufen, obwohl er das sonst nicht so oft tut. Jetzt wäre er gern bei ihr.

Jana hat er nicht gerufen. Dabei hat er Jana so lieb. Jana konnte nicht kommen.

Trotzdem hat Pascal keine Angst wie andere Kinder. Er mag dunkle Höhlen. Schon ganz oft hat er sich in dunklen Ecken im Haus versteckt. Mit den Füßen tastet man sich voran, da brauchte man gar keine Augen. Das hat er auch Jana verraten. Sie haben das oft gespielt. Sind mit geschlossenen Augen im Zimmer rumgelaufen. Das war schön. Aber nicht wie richtig im Dunkeln. Wenn man die Augen zumacht, obwohl es hell ist, kommt trotzdem ein bisschen Licht rein. Das weiß er schon.

Plötzlich ist da ein Geräusch. Schritte. Langsame Schritte, die näher kommen.

Er lauscht.

Es hört sich nicht an wie Mama. Es knarrt. Jetzt wird der Spalt breiter, durch den das Licht kommt.

Nach mehrmaligem Klingeln kam Frau Schwarz an die Tür.

Die Kommissare traten ein und nahmen neben dem Kamin Platz, nur wenige Schritte von der Zimmermitte entfernt, wo der Mord geschehen war. Das Wohnzimmer war blitzsauber, nichts erinnerte mehr an das Verbrechen.

Wie auf der Fahrt besprochen, leitete Matthias diesmal die Befragung.

„Schön, dass wir Sie hier antreffen“, begann er. „Wir hatten Sie eigentlich im Krankenhaus vermutet. Warum sind Sie denn dort so plötzlich verschwunden?“

„Muss ich Ihnen das sagen? Ich glaube nicht“, entgegnete die Anwältin, besann sich dann aber. „Also gut, ich wollte nach meinem Kind suchen. Oder haben Sie Pascal inzwischen gefunden?“

„Tut mir leid, bisher nicht“, sagte Matthias. „Aber die Kollegen von der Vermisstenabteilung tun ihr Möglichstes. Und wir arbeiten eng mit ihnen zusammen und werden Sie über Fortschritte natürlich sofort informieren.“

Maria Schwarz saß kerzengerade auf dem ausladenden Ledersofa. Den Blick in den Garten gerichtet, hielt sie die Hände fest ineinander verkrampft. Die schlanken Beine steckten in hochhackigen Schuhen. Trotz der Wärme trug sie eine Strickjacke über der weißen Bluse. Jedes Haar der kurzen Frisur schien korrekt zu liegen.

„Frau Schwarz, wann haben Sie Pascal das letzte Mal gesehen?“, fragte Matthias.

„Ich bin gleich nach dem Frühstück los, um neun. Um neun kommt immer das Kindermädchen. Da saß er in der Küche. Alles war wie immer. Ich …“ Ihre Stimme kippte, sie zerrte am Ring des Mittelfingers.

„Hat sich Ihr Kind anders verhalten als sonst?“

„Nein.“

„Sie sind also um neun Uhr losgegangen? Wohin?“

„Zur Arbeit. In die Kanzlei.“

„Kann das jemand bezeugen?“

Ein scharfer Blick traf Matthias. „Sind Sie noch bei Trost? Fragen Sie jetzt nach meinem Alibi? Aber bitte, meine Sekretärin natürlich, sie wird Ihnen sagen können, dass ich an dem Morgen mehrere Klienten hatte.“

„Hatten Sie auch mittags Klienten? Zwischen elf und dreizehn Uhr?“

„Ja.“

„Sie machen keine Mittagspause?“

„Nein.“

Frau Schwarz wirkte versteinert. Sie tat nichts, um das Gespräch in Gang zu halten.

Matthias warf einen hilfesuchenden Blick zu Sunja.

Diese hatte Frau Schwarz während der Befragung genau beobachtet und fand ihr Verhalten mehr als eigenartig. Sie machte einen verkrampften und nervösen Eindruck, war aber dennoch sehr kontrolliert. Sie wirkte wie jemand, der sich jedes Wort präzise überlegt.

„Sagen Sie, Frau Schwarz“, begann Sunja, „hat sich seit dem Verschwinden Ihres Kindes irgendjemand mit Ihnen in Verbindung gesetzt?“

„Wie meinen Sie das?“

„Gab es Lösegeldforderungen? Drohungen? Eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter? Einen Brief?“

„Nein.“

„Seit wann sind Sie wieder zu Hause?“

„Seit einer Stunde.“

Sunja wurde das Gefühl nicht los, dass Pascals Mutter ihnen etwas verbarg. Warum verhielt sie sich nur so merkwürdig? Hatte sie Schuldgefühle? War sie aus dem Krankenhaus verschwunden, um an der Polizei vorbei mit den Entführern zu verhandeln? Das Lösegeld heimlich zu zahlen? Oder hatte sie gar etwas mit Janas Tod zu tun?

„Gehen wir noch mal zu dem gestrigen Morgen zurück“, sagte sie. „Wann sind Sie aufgestanden?“

„Wie immer, um sieben.“

„Und Ihr Mann?“

„Um halb sechs.“

„Wann verlässt er das Haus?“

„Um kurz nach sieben. Ich wüsste nicht, was das …“

„Wann steht Ihr Sohn auf?“

„Um acht.“

„Auch gestern?“

„So ist es.“

„Und wie sieht Ihr gemeinsamer Morgen dann aus?“

„Ich helfe ihm beim Waschen. Dann zieht er sich an und ich mache Frühstück.“

„Was haben Sie ihm zum Frühstück gemacht?“

„Er wollte ein Marmeladenbrot.“

„War er gesund?“

„Ja.“

Sunja fragte sich, was hier nicht stimmte. Normalerweise sprachen alle Mütter gern und viel von ihren Kindern, meist hörten sie gar nicht mehr auf, von ihnen zu erzählen, gerade wenn sie sie vermissten. Wieso wurde sie den Eindruck nicht los, Frau Schwarz wolle gar nicht über Pascal reden?

„Was hatte Pascal gestern an?“

„Eine gelbe Latzhose und ein mittelblaues T-Shirt aus Baumwolle.“

„Sie sagten, Sie hätten das Krankenhaus verlassen, um ihn zu suchen?“

„Ja.“

„Wie soll ich das verstehen? Wo wollten Sie ihn suchen?“

„Er hat sich manchmal versteckt.“

„Wo, Frau Schwarz? Hatte er Lieblingsplätze?“

„Im Haus. Oder im Garten. Im Keller, in der Garage, im Schuppen …“, murmelte sie. „Ich wollte die Nachbarn fragen.“

Matthias schaltete sich wieder ein: „Und? Was haben die gesagt?“

Pascals Mutter sah ihn an, als habe sie ihn nicht verstanden, meinte dann aber, sie sei noch nicht dazu gekommen, jemanden zu fragen. Inzwischen glaube sie auch, dass Pascal entführt worden sei.

„Warum?“, fragte Matthias. „Haben Sie einen konkreten Verdacht?“

„Warum? Ich weiß nicht. Wo soll er denn sonst sein? Nein, einen Verdacht habe ich nicht.“ Sie wolle zwar gern mehr Zeit mit dem Kind verbringen, meinte sie, sei aber beruflich zu stark eingespannt. Pascals Vater sei viel auf Dienstreisen. Jana habe sie sehr entlastet.

Die Befragung schien an einem toten Punkt angelangt zu sein. „Wussten Sie etwas von einer Beziehung zwischen Ihrem Mann und Jana Weitlinger?“, fragte Matthias schließlich.

Energisches Kopfschütteln.

„Frau Schwarz“, sagte Sunja, „im Obergeschoss habe ich ein Familienfoto gesehen, auf dem Pascal etwa ein Jahr alt ist. Auf der Rückseite steht Kiew, dazu ein Datum. Wissen Sie …“

Abrupt stand die Anwältin auf und ging zur Tür. „Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment, mir ist nicht gut.“ Sie eilte durch die Flügeltür des Salons.

„Was ist denn jetzt?“, wunderte sich Matthias.

Sunja schüttelte nur ungeduldig den Kopf, lauschte und winkte ihm zu schweigen.

Es war kaum hörbar. Ein leises, unregelmäßiges Klopfen. Kam das von unten? Bestürzt sahen sie sich an, rannten hinaus, hielten im Flur inne und lauschten wieder. Das Geräusch wurde deutlicher.

Sunja war zuerst an der Treppe zum Keller.

„Kaninchen! Dass die so einen Krach machen!“ Matthias lachte erleichtert.

Im weiß gefliesten Waschraum stand auf einem selbst gezimmerten Regal ein Käfig mit zwei langohrigen Wuscheltieren. Es war wohl das männliche Tier, welches einen wahren Trommelwirbel mit den Pfoten vollführte.

Matthias schob den Finger durch die Gitterstäbe, um eins der Tiere zu streicheln.

„Hör auf!“, zischte Sunja. „Wir sind hier zur Zeugenbefragung! Ist so schon peinlich genug.“

Oben an der Kellertreppe wartete mit geballten Fäusten Frau Schwarz.

„Hatten Sie geglaubt, ich sperre mein Kind im Keller ein, Frau Kommissarin? Haben Sie den Verstand verloren? Erst fragen Sie mich lauter absurde Dinge, und dann dringen Sie ungefragt in meine Räume ein. Sie haben mir keinen Durchsuchungsbeschluss gezeigt.“

„Frau Schwarz, wir …“

„Das wird Konsequenzen für Sie haben! Es reicht! Gehen Sie jetzt!“

Matthias wollte noch etwas sagen, aber Sunja zog ihn Richtung Haustür.

Im Auto nörgelte er: „Immer benimmst du dich daneben und ich krieg’s dann ab!“ Sunja schaute ihn an, plötzlich mussten sie beide lachen.

„Also, diese Karnickel!“, murmelte Matthias. „Wieso sind solche Viecher im Keller? Bei meiner Oma waren die immer im Garten.“

Sunjas Handy klingelte. Die Staatsanwältin teilte mit, eine Besprechung sei jetzt möglich und dringend erforderlich.

Frau März wirkte wie aus dem Ei gepellt.

„Habe ich Sie richtig verstanden, außer dem Exfreund des Opfers haben Sie bisher keinerlei Spur?“

„Unser Hauptzeuge Herr Schwarz liegt im Koma und kann erst in den nächsten Tagen befragt werden. Ich hätte gern einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung der Familie Schwarz …“

„Frau Löwel, Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass die Leitung der Mordermittlung Sache der Staatsanwaltschaft ist. Familie Schwarz hat ja wohl am meisten unter dem Ganzen gelitten, denken Sie nicht, dass sie erst mal Ruhe nötig hat? Sie kommen mir vor, als ob Sie eine Nadel im Heuhaufen suchen. Nur vollkommen systematisches Vorgehen kann zu einer Lösung führen.“ Die Staatsanwältin hatte sich ihr Notebook herangezogen und tippte darauf herum. „Also: Die Kriminalstatistik sagt, dass über achtzig Prozent der Morde an Frauen von Angehörigen oder Bekannten des Opfers verübt werden. Ähnlich ist es bei Entführungen, auch hier stammt der Täter zu vierundsiebzig Prozent aus dem Umfeld des Kindes. Daher ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es sich bei Entführer und Mörder um dieselbe Person handelt. Und dass rein statistisch ein Pädophilie-Verdacht naheliegt. Wenn Sie nun die Hypothesen mit der am positivsten bewerteten Trefferquote mit den jeweils zutreffenden Indizien verknüpfen, haben Sie die Spur zum Täter. In Ihrem Fall heißt das, Sie suchen nach jemandem aus dem näheren Umfeld von Jana Weitlinger. Untersuchen Sie vor allem, ob es Hinweise auf pädophiles Verhalten gibt. Das Vorgehen des Mörders weist ja eindeutig auf eine Person mit mangelnder Affektkontrolle hin, dies müssen Sie auch mit eventuellen Details zur Kindesentführung im Zusammenhang sehen. Gleichen Sie das Täterprofil fortwährend mit den gewonnenen Erkenntnissen ab. Sie werden staunen, wie das den Gang der Ermittlungen beschleunigt. Moderne Kriminologie, Frau Löwel!“

Sunja glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Was bildete diese Kuh sich ein, ihr Vorträge über Ermittlungstechnik zu halten! Offenbar meinte sie, mit Statistiken die Welt perfekt zu verstehen. Doch ihr war nicht nach Diskussionen mit dieser Frau. Also versprach sie, den Hinweisen zu folgen, und verabschiedete sich knapp.

Gegen drei saß sie wieder im Büro. Matthias war mit seinem Ältesten beim Kinderarzt, wie ein Zettel auf ihrem Schreibtisch verriet. Er wollte unterwegs weiter zur Anwaltskanzlei Schwarz recherchieren. Vielleicht hatte er ja recht und man würde in Zukunft nur noch online ermitteln? Sunja schüttelte sich. Kurz überlegte sie, ihre Freundin Silvia abends zum Essen einzuladen, verwarf den Gedanken aber sofort. Das würde sie später mal machen. Jetzt musste sie eine Spur finden!

Sie hatte Silvia ewig nicht gesehen, immer kam ihr die Arbeit dazwischen. Dabei tat ihr diese Freundin immer so gut! Silvia war ein ganz anderer Mensch als sie, vierundvierzig, bodenständig und familienbezogen. Bereits mit sechzehn war sie Mutter geworden, hatte zwei Kinder allein großgezogen und mittlerweile sogar schon einen achtjährigen Enkel, Tom. Sie hatte ihr Leben immer gemeistert, in diversen Berufen gearbeitet, und jetzt war sie freie Autorin.

Etwas wehmütig dachte Sunja an ihre wilden Jahre zurück, an die verrückte Punkzeit 1987, als sie Silvia kennengelernt hatte. Sie hatten sich auf Anhieb gemocht und über ein Jahr intensive WG-Erlebnisse hatten sie zusammengeschweißt, obwohl sie schon bald danach ganz unterschiedliche Wege gegangen waren.

Entschlossen langte sie nach der Kiste mit den Habseligkeiten von Jana Weitlinger.

Kontoauszüge, ein Hefter mit Verträgen und BAföG-Bescheiden, Krankenkassen-Dokumente, Führerschein. Auf den ersten Blick fand sie nichts Ungewöhnliches, doch damit sollte sich später die Kriminaltechnik beschäftigen. Auch das Notebook des Opfers schien vorläufig keine Überraschungen zu bergen: Ordner mit Hausarbeiten, Entwürfen für die Bachelorarbeit und Notizen zu Seminaren.

Erst als sie alles in den Karton zurücklegte, sah sie den USB-Stick. Er glänzte metallen, seine kleine Schnur hatte sich am Klemmdeckel eines Aktenordners verfangen.

Sunja fummelte den Knoten auf, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Drei verschnörkelte kyrillische Buchstaben waren in die Oberfläche des Datenträgers eingeprägt. Sie rätselte kurz über deren Bedeutung, dann schob sie den Stick in die Buchse des Computers.

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