Читать книгу Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band - Sascha Behringer - Страница 16
VI. Versteckte Wahrheiten
ОглавлениеWahrheit ist eine widerliche Arznei; man bleibt lieber krank, ehe man sich entschließt, sie einzunehmen.
- August von Kotzebue -
„Kind, du siehst schlecht aus!“ Erika Löwel schaute ihre Tochter an und schüttelte den Kopf. Die Ohren ragten aus den dünn gewordenen Haaren. „Was du zu wenig isst, rauchst du zu viel, oder? Und immer auf Jagd nach irgendwelchen Mördern. Das ist doch nicht gesund. Aber irgendwann fängst du keine Verbrecher mehr, das sag ich dir. Dann kannst du dir selber einen Sarg besorgen.“
Lustlos hing Sunja auf dem geblümten Sofa. Von dem trockenen Napfkuchen hatte sie nur einen Bissen probiert. Jetzt beugte sie sich vor.
„Mama, warum hast du mich eigentlich eingeladen? Um mir Vorhaltungen über mein Leben zu machen? Können wir nicht einfach Kaffee trinken?“
„Kaffee mitten in der Nacht“, murmelte ihre Mutter. „Ich hatte dich für den Nachmittag eingeladen.“
Ich schaff das nicht, dachte Sunja. Nicht nach diesem Arbeitstag. Nicht mit dieser Frau.
Vorhin, unten am Auto, war sie drauf und dran gewesen, auf den Hacken kehrtzumachen und sofort zur Suchaktion in den Wald zu fahren. Wenn Pascal gefunden würde, konnte das den Durchbruch für ihre Mordermittlungen bedeuten. Damit hätte sich ein Treffen mit ihrer Mutter aber auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Sie hatte beschlossen, nur einen kurzen Höflichkeitsbesuch zu machen und gleich wieder zu verschwinden. Und jetzt saß sie hier wie festgeklebt und wickelte eine Kissentroddel um den Finger.
Erika Löwel spießte ein kleines Stück Kuchen auf die Gabel und hielt vom Teller bis zum Mund die andere Hand unter Gabel und Kuchenhappen, damit ja kein Krümchen die blitzsaubere Wohnung verschandelte.
Sunja wünschte sich nach Hause.
Zu Hause. Das war früher bei ihren Eltern gewesen. Zuerst in der Boxhagener Straße und später in der Proskauer Straße, vorn an der Frankfurter Allee. Bis zu ihrem achten Geburtstag jedenfalls. Dann der Riss. Immer dasselbe Bild. Der Vater, der ihr das Geschenk überreichte. Seine Hände. Die Verpackung. Die rote Schleife. Das Türenschlagen. Und dann: nichts mehr. Als hätte ihn die geschlossene Tür verschluckt. Dabei hatte er versprochen, am Nachmittag ihres Geburtstages gleich nach der Arbeit nach Hause zu kommen und zu zaubern, für sie und ihre Freundinnen. So war es ausgemacht gewesen. Alle warteten auf ihren Papa. Er war berühmt. Sie war so stolz auf ihn. Bis zum Abendbrot hatte sie gewartet und sich vor den anderen Mädchen mehr und mehr geschämt. Er war nicht gekommen. Nicht an dem Tag. Nicht am nächsten. Nie mehr.
Unzählige Male hatte sie damals die Mutter nach ihm gefragt, bis diese es ihr verbot. So hatte sich das Schweigen ihrer Mutter auch auf sie gelegt, wie ein Fluch.
Ihr Vater, der Zauberer. Zumindest sah er auf dem einzigen Foto, das sie besaß, so aus: Zylinder, Frack, Zauberstab, im Gesicht ein gezwirbeltes Bärtchen … Wenigstens hatte sie dieses eine Bild. Sie hatte es von dem Negativ abziehen lassen, das sie ihrer Mutter im Dezember vorletzten Jahres abgerungen hatte. Bei dem Besuch war ihr über dem ständigen Gejammer der Frau schließlich der Geduldsfaden gerissen. Sunja hatte sie angeschrien, dass sie nichts für das verpfuschte Leben ihrer Mutter könne. Dass sie kein Kind mehr sei und endlich die Wahrheit über ihren Vater wissen wolle.
Aber gab es diese Wahrheit überhaupt? Für sie war der Vater im Laufe der Jahre zu einem unsichtbaren Riesen geworden, der nur noch ohnmächtige Wut in ihr entfachte. Warum verschwand jemand spurlos von einem Tag auf den anderen? Ließ seine Familie im Stich? Machte sie kaputt?
Die Mutter hüstelte und Sunja erwachte jäh aus den tristen Gedanken. Sie blickte sich im Zimmer um. Die alten Möbel, die endlos tickende Uhr auf der Kommode. Die verblichenen Kissen. Einsamkeit umgab ihre Mutter wie ein luftleerer Raum, der alles schluckte und keine Signale der Außenwelt hindurchließ.
„Weißt du, Mama“, sagte sie dumpf, „vielleicht hast du recht. Ich reibe mich auf, suche irgendwelche Mörder. Dabei ist die Wahrheit, dass ich nur einen Menschen auf dieser Welt wirklich finden möchte. Vati.“ Sie spürte, wie ihr Atem heftiger ging. Nervös griff sie nach der Zigarettenschachtel. „Ich werd rausbekommen, wo er ist, da kannst du Gift drauf nehmen.“
Erschrocken sah die Mutter sie an.
„Du weißt nicht zufällig, wo er ist oder ob er noch lebt? Und warum er damals verschwunden ist?“
„Kind, dass du immer wieder damit anfangen musst. Es ist vorbei! Ich habe genug gelitten. Lass doch die alten Geschichten endlich ruhen.“
„Es sind keine alten Geschichten! Er ist mein Vater! Wie kann dir das nur so egal sein! Was soll’s, wenn du mir nicht helfen willst, werde ich es eben allein durchziehen.“
Erregt stand sie auf, trat auf den Balkon und drehte der Mutter den Rücken zu. Kaum war sie in dieser Wohnung, ging es ihr miserabel. Jedes Mal dasselbe. Warum tat sie sich das immer noch an? Sie sollte die Besuche einfach lassen.
„Kind …“ Die Stimme hinter ihr klang plötzlich fremd, zitternd und brüchig. Erika Löwel tippte ihr auf den Rücken, stand da, dünn und klein. Sie war vor der Schwelle zum Balkon stehen geblieben und hielt Sunja einen Packen umschnürter Briefe hin. „Die … hat alle Vati geschrieben“, sagte sie. „An dich.“
Durch den nächtlichen Wald kroch eine Lichterkette. Äste knackten, leise kläffte ein Hund. Würzig kühle Luft umfächelte Nadelbäume, zwischen denen sich Polizisten hindurcharbeiteten. Zehn Stunden waren sie jetzt im Einsatz. Der Wald duftete nach Frühling. Nach Erde, Moos, Tannenzweigen und Baumrinde. Ein Kuckuck rief, scheinbar belustigt über die Menschen, die zu so später Stunde eine Leiche suchten und doch keine zu finden hofften.
Christian Weier arbeitete seit fünfzehn Jahren als Hundeführer, vorher hatte er eine private Hundeschule geleitet. Er war zur Polizei gegangen, weil er meinte, sein Wissen hier am nutzbringendsten anwenden zu können. Doch er nahm ungern an Sucheinsätzen teil. Wenn die Staffel in Kettenformation ausschwärmte, drängte immer die Zeit, oft ging es um Leben und Tod. Dann wünschte er sich auf den vertrauten Trainingsplatz mit den Hindernissen und Balanciergeräten, wo er schon viele Polizeihunde auf den Suchdienst vorbereitet hatte. Sie lieferten ihren Führern Informationen über Dinge, die außerhalb menschlicher Wahrnehmung blieben.
Ein Hund riecht ungefähr eine Million Mal besser als sein menschlicher Begleiter, er speichert erkannte Gerüche ab und greift bei Bedarf auf diese Informationen zurück. Sprengstoff oder Drogen spürt er auf, auch wenn diese in Folie eingeschweißt sind. Mit seinen beweglichen Ohren hört er um ein Vielfaches genauer als ein Mensch und kann die Geräusche präzise zuordnen. Selbst den Blutzuckerspiegel von gesuchten Personen kann er wittern. Den Geruch einer toten Person erkennen und melden kann aber nur ein Leichenhund wie Bella.
Und Bella hatte angeschlagen. Lag hier, im alten Berliner Stadtforst, das ermordete Kind?
Christian Weier hatte eben mit Hauptkommissarin Löwel telefoniert.
Jetzt konzentrierte er sich wieder auf Bella. Die Hündin folgte einem Waldweg. Im Schein der Taschenlampe tauchte ein von hohen Büschen umgebener Zaun auf, dahinter einige abgelegene Wochenendgrundstücke. Weier hielt vor einem Tor mit einfachem Riegel, öffnete und betrat das Grundstück. Vor ihm stand ein Ferienhaus aus DDR-Zeiten. Bella lief zum Eingang und blieb davor sitzen.
Weier ging einmal um das Gebäude herum und leuchtete in die Fenster, konnte aber nichts erkennen. Seine Kollegin schlug mit dem Griff ihrer Waffe eine Fensterscheibe ein und drehte vorsichtig von innen am Riegel. Mit gezogenen Pistolen kletterten sie hinein.
Das Licht ihrer Taschenlampen fiel in einen im Bauernstil gehaltenen Raum mit karierter Tischdecke, Eckbank und Hängelampe. Aus einem der Nachbarzimmer war ein knisterndes Geräusch zu hören. Alle drei hielten die Waffen im Anschlag, Christians Puls raste. Von den Kolleginnen gesichert, öffnete er mit einem Fußtritt die Tür. Hektisch schwenkten Taschenlampen und Pistolen auf ein Ehebett mit verschlissenen Decken.
Langsam schob sich Weier am Bett vorbei auf eine weitere Tür zu und trat auch sie mit dem Fuß auf. Hier war noch eine winzige Schlafkammer mit einer Tür nach draußen. In der Ecke hockte ängstlich ein halb verhungertes Kätzchen, das von der Taschenlampe geblendet kläglich miaute.
Sie fanden eine alte Matratze mit einer Baumwolldecke und einen Teller mit Möhren. Etwas Brot, eine Flasche mit Saft. Einige blutbefleckte Duplo-Steine, einen Indianer aus Plastik und einen Kinderpullover.
Pascal Schwarz fanden sie nicht.
Ein verendetes Kaninchen lag im vorderen Zimmer nahe der Eingangstür. Vielleicht war es dafür verantwortlich, dass der Hund die Polizisten zu diesem Haus geführt hatte.
Samstagmittag. Übernächtigte Gesichter. Nur die Staatsanwältin wirkte ausgeruht, sie trug ein weinrotes Kostüm mit kurzem Rock zu schwarzen Strumpfhosen. Am Vorabend hatte sie kurzfristig ein Treffen für die Mordkommission und die Kollegen der Vermisstenstelle anberaumt.
„So!“, sagte Frau März. „Die Zeit drängt! Dass Sie immer noch keine greifbaren Ergebnisse vorweisen können, ist eine Schande! Sie haben kurz Zeit, um sich mit den Thesen zum möglichen Tathergang vertraut zu machen. Dann wird Frau Löwel etwas zu den aktuellen Ermittlungen sagen.“ Und in genau dem autoritären Tonfall, den Sunja von der Polizeischule kannte, fuhr die Staatsanwältin fort: „Ich bitte trotz Wochenende um Ihre volle Aufmerksamkeit.“
Sunja fühlte sich leer und erschöpft, der Schock vom gestrigen Besuch in der Schönstraße war noch frisch. Nachdem sie die Hinterlassenschaft des Vaters an sich genommen hatte, hatte sie die Mutter angeschnauzt, dass sie ihr das nie vergessen werde, und Türen schlagend die Wohnung verlassen.
Zu Hause hatte das Päckchen mit den Briefen vor ihr gelegen, und mit einem Mal hatte sie Furcht befallen, Furcht vor der eigenen Vergangenheit. Wollte sie wirklich wissen, wer ihr Vater genau war?
Sie hatte die Briefe in eine Schublade gelegt.
„Frau Hauptkommissarin?“ Die ungeduldige Stimme der Staatsanwältin riss sie aus den Gedanken.
Sunja räusperte sich. „Die Unterlagen zum möglichen Tathergang liegen euch vor“, begann sie. „Ich beschränke mich also auf die Neuigkeiten. Was noch nicht alle wissen dürften: In einem Gartenhaus in der Siedlung Schönhorst haben die Kollegen der Vermisstenabteilung Blutspuren und Kleidung vom kleinen Pascal gefunden. Natürlich kann es sich auch um Nasenblut handeln. Der Junge ist offenbar an einen anderen Ort verbracht worden, die Fahndung dauert an. Über den Zusammenhang zwischen Mord und Entführung können wir bisher nur Vermutungen anstellen.“
Sie machte eine Pause und blickte zu Frau März, die sie missgelaunt anstarrte.
„Bisheriger Hauptverdächtiger im Mordfall Weitlinger ist Julius Dörfner, der ehemalige Freund der Toten. Er wirkt berechnend, aber emotional beteiligt. Und er ist von Jana Weitlinger verlassen worden, die einen der wenigen stabilen Faktoren in seinem Leben darstellte. Nach der Trennung hat er ihr eine ganze Weile nachgestellt und laut Martha Junik gedroht, seine Ex werde diesen Schritt noch bereuen. Eifersucht wäre also ein Motiv. Der Mann forscht als Biochemiker an Pflanzenheilmitteln, unter anderem an hochgiftigen. Zurzeit wird die Leiche auf Giftspuren untersucht, leider bisher ohne Ergebnis. Eine Betäubung durch Gift könnte die zunächst fehlenden Abwehrreaktionen des Opfers erklären. Dörfners Alibi wird von seinem Professor für die Tatzeit nicht bestätigt. Er wird noch mal befragt, eine Hausdurchsuchung bei ihm hat keine weiteren Hinweise gebracht. Würden Sie einer Observierung zustimmen, Frau Staatsanwältin?“
„Dafür sind die Ergebnisse zu dünn. Das kriege ich nicht durch. Aber bleiben Sie an ihm dran. Sowie es neue Verdachtsmomente gibt, sprechen wir noch mal darüber.“
Sunja hob die Brauen. Die Tür zum Besprechungsraum öffnete sich und sie sah einen der Pförtner zu Matthias gehen und leise mit ihm sprechen.
„Die Leiche wurde von Peter Tienemann, einem Nachbarn, gefunden“, fuhr sie fort. „Nachdem ihn seine Frau alarmiert hatte. Diese hatte Schreie gehört. Wenn ihre Angaben stimmen, müsste die Tatzeit demnach zwischen 12:15 und 12:30 Uhr liegen. Herr Tienemann gibt an, in das Opfer verliebt gewesen zu sein, sie habe ihn aber nicht ermuntert. Der käme als Täter also infrage.
Larissa Tienemann hat ebenfalls ein Tatmotiv, Eifersucht auf Frau Weitlinger. Da man aber im Haus weder Fingerabdrücke noch DNA von ihr festgestellt hat, scheidet sie mit hoher Sicherheit aus.
Außerdem ist da noch Martha Junik, die Mitbewohnerin der Ermordeten. Nach Angaben von Julius Dörfner hat sie am Abend vor der Tat Streit mit dem Opfer gehabt. Dazu und zu ihrem Alibi soll sie noch einmal befragt werden.
Nachbar Ramser hat vor der vermuteten Tatzeit eine Frau vor der Villa gesehen: Mitte zwanzig, blond, stark geschminkt, slawischer Herkunft. Sie gehörte offenbar nicht zum Bekanntenkreis der Familie. Auch dies ist eine Spur.
Und letztlich müssen wir auch Ulrich Schwarz, den Vater des verschwundenen Jungen, als Mörder in Betracht ziehen. Vielleicht hat die Affäre mit Jana ihn überfordert? Vielleicht hat sie ihn unter Druck gesetzt? Auch Herrn Schwarz’ Auslandsreisen sollten wir genauer unter die Lupe nehmen. Ist da was Krummes gelaufen, von dem Jana wusste? Stellte sie eine Bedrohung für ihn dar, weil sie ihm drohte, ihn zu verraten? Möglich, dass er Jana Weitlinger im Zustand hochgradiger Erregung erstochen hat und sich danach selbst Schnittwunden zufügte, um die Tat zu vertuschen. Aber Herr Schwarz liegt noch im Koma.“
Ihre Kollegen hörten zu und machten Notizen. Die Staatsanwältin blickte sie unverwandt an, sie schien auf etwas Bestimmtes zu warten.
Sunja versuchte, sich davon nicht irritieren zu lassen. Sie schilderte, dass Pascals Mutter angegeben hatte, zur Tatzeit in der Kanzlei gewesen zu sein. Die Sekretärin müsse das noch bestätigen. Dann berichtete sie von ihrem Besuch bei Frau Schwarz, nachdem diese das Krankenhaus eigenmächtig verlassen hatte, und schilderte deren sonderbares Verhalten. „Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass sie Pascal etwas angetan hat. Schließlich ist er ihr Sohn. Aber Jana Weitlinger war unter Umständen eine Konkurrentin für sie. Vielleicht ist das Kind Zeuge des Mordes geworden, und sie hat ihn deshalb weggebracht? Außer Acht lassen dürfen wir den Gedanken nicht, dass auch Frau Schwarz verdächtig ist.“
Den Zeugen Ramser könne man als Täter ausschließen, er sei Rollstuhlfahrer und die Stiche konnten nicht von einer sitzenden Position aus erfolgt sein.
„Der Kreis der Verdächtigen setzt sich also derzeit aus sechs Personen zusammen“, schloss sie, „Peter Tienemann, Maria und Ulrich Schwarz, Julius Dörfner, Martha Junik und die unbekannte Blonde, die Herr Ramser gesehen hat. In all diesen Richtungen machen wir weiter.“
Matthias drückte entschlossen auf den Knopf des Aufnahmegeräts.
Frau Schwarz meinte, sie werde nur mit ihm sprechen. Nach dem letzten Auftritt seiner Kollegin ertrage sie diese nicht mehr. Ob er ihr Diskretion zusichern könne?
Die Anwältin hockte in Matthias’ Büro auf der Kante des Besucherstuhles und sah aus, als wolle sie gleich wieder gehen.
„Sind Sie mit der Suche nach Pascal denn nun weitergekommen?“
„Die Kollegen haben leider immer noch keine gute Nachricht für Sie, Frau Schwarz. Aber wir werden Sie über jede Neuigkeit informieren, das verspreche ich Ihnen.“
„Dass uns so etwas Schreckliches passiert. Pascal entführt, Jana ermordet … Ich schlafe kaum noch, das ist ein Albtraum. So falsch. Dabei lief doch alles gut, endlich hatten wir ein Kind, wollten für ein Jahr ins Ausland, nach Donezk, waren sogar schon dort. Probeweise …“
„Worum geht es Ihnen genau, Frau Schwarz?“, fragte Matthias. „Warum sind Sie zu mir gekommen?“
„Ach, wissen Sie, ich wollte nur sagen, dass Sie sich vielleicht in Janas Freundeskreis mal etwas genauer umsehen sollten. Ich glaube, da gibt es Leute, die … die sie vielleicht ausgenutzt haben, die anders waren als sie. Denen traue ich einiges zu.“
„Wen meinen Sie da?“
Maria Schwarz zögerte. „Nun, ich möchte niemandem etwas nachsagen. Im Grunde interessiert mich nur, dass sie mein Kind finden. Gibt es denn vielleicht irgendwelche Hinweise, dass jemand Pascal verfolgt hat?“
„Was meinen Sie damit?“, fragte Matthias.
„Ach, nur so allgemein.“ Die Anwältin beobachtete ihn konzentriert, als warte sie auf etwas.
Matthias überlegte. Was stimmte hier nicht? Warum war die Frau wirklich gekommen?
„Wenn Sie einen konkreten Verdacht haben, dann sollten Sie den äußern“, sagte er. „In einem Mordfall sind Sie dazu verpflichtet. Wer, meinen Sie, hat Jana Weitlinger ausgenutzt?“
Doch auch in der Folge erging sich Frau Schwarz in Andeutungen. Je mehr er versuchte, ihr etwas Eindeutiges zu entlocken, umso vager drückte sie sich aus. Er wurde den Verdacht nicht los, dass sie irgendetwas verbergen wollte. „Nun, Sie tun ja wirklich alles. Pascals Schicksal ist in den besten Händen“, sagte sie schließlich. „Bei Ihnen spüre ich, dass Sie Ihre Arbeit ernst nehmen. Aber ich möchte nicht noch mehr Verwirrung stiften, als ohnehin schon besteht. Ich sage mir jeden Tag, dass mein Junge sicher gleich gefunden wird, das hält mich aufrecht, Herr Müller.“ Damit erhob sie sich, strich den Rock glatt und reichte ihm die Hand. „Ich weiß, dass alles gut wird. Auf Wiedersehen.“
Matthias sah ihr nach und schüttelte den Kopf. Schließlich drückte er die Taste des Aufnahmegerätes und begann sich Notizen zu machen.
Die Besprechung war beendet, die Kollegen versammelten sich um den Kaffeeautomaten im Flur. Sunja ging gleich in ihr Büro, setzte sich an den Schreibtisch und schaute aus dem Fenster.
„Frau Löwel. Sie haben in zwei Fällen eigenmächtig Durchsuchungen vornehmen lassen, ohne richterliche Anordnung, nur aufgrund von vagen Verdachtsmomenten.“
Sunja fuhr herum.
Die Staatsanwältin war ohne Aufforderung in ihr Büro gekommen und hatte sich neben ihr aufgebaut. „Ist das Ihre Auffassung von korrekter Ermittlungsarbeit? Wir wollen uns doch bitte auf dem Boden rechtsstaatlicher Grundsätze bewegen.“ Sie sah auf Sunja herab. „Außerdem sind Sie meinem Hinweis zur Suche nach einem pädophilen Täter noch immer nicht nachgegangen. Haben Sie die Datenbanken durchforstet? Vielleicht hat Ulrich Schwarz ja Dreck am Stecken und irgendjemand hat das ausgenutzt? Denken Sie doch mal logisch. Und etwas komplexer!“
Jetzt stöckelte sie um den Schreibtisch herum, was ihr durch zwei Stapel Aktenordner und eine versiegelte Kiste aus der Rechtsmedizin erschwert wurde.
Sunja holte Luft. „Frau März“, erwiderte sie, „das hier ist mein Büro. Ich bitte Sie, das nächste Mal anzuklopfen. Danke. Was den Fall Weitlinger betrifft, richten sich die stärksten Verdachtsmomente zurzeit gegen Julius Dörfner. Wenn sich herausstellt, dass wirklich Gift im Spiel war …“
„Wenn. Der Dörfner scheint mir nach den Protokollen ein Hallodri zu sein, ein unangenehmer Zeitgenosse, aber doch kein Mörder. Ein überzeugendes Motiv kann ich bei keinem Ihrer sogenannten Verdächtigen finden. So, wie Sie vorgehen, bin ich mir nicht sicher, ob Sie den Aufgaben dieses Falles gewachsen sind. Wenn Sie hier weiter ermitteln wollen, geht das in Zukunft nur auf dem Boden rechtsstaatlicher Grundsätze und in enger Absprache mit mir. Ist das klar?“
Sunja öffnete den Mund, schwieg aber.
„Jetzt mal konkret: Wie Sie wissen, habe ich meine Laufbahn im BKA begonnen und immer noch gute Kontakte zu den Kollegen dort. Einer von ihnen hat sich auf meine Anregung hin etwas in der Pädophilen-Szene umgehört. Er ist auf Erstaunliches gestoßen. Ein Informant hat sich im Zusammenhang mit dem Namen Schwarz an einen Kinderporno-Händler erinnert. Muss ich noch deutlicher werden?“ Die Staatsanwältin war hinter dem Schreibtisch angelangt, stützte die Hände auf und sah Sunja durchdringend an. „Das direkte Umfeld, Frau Kommissarin, ich sagte es bereits. Es ist oft ganz einfach. Vielleicht ist dieser Fall dann schneller gelöst, als Sie jetzt glauben. Oder“, sie zögerte, „das BKA muss die Ermittlungen übernehmen. Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden.“
Frau März griff nach ihrer winzigen Handtasche, nickte und verschwand.
Eine verschnörkelte Schreibschrift aus Neonröhren zog sich über die Fassade. Der Rahmen der blanken Edelstahltür war mit Mosaiksteinchen verziert. Das Äußere des Nachtklubs Odessa stammte noch aus den Siebzigern. Dennoch oder gerade deshalb war das Etablissement die erste Adresse für Exilrussen, die sich eine Nacht mit Champagner im vornehmen Teil von Charlottenburg leisten konnten. An diesem Samstagvormittag jedoch wirkte von der Straße her alles wie ausgestorben.
Nur im Hinterhof tilgte das Personal emsig die Spuren des Partybetriebes. Türen klappten, Rufe ertönten. Beschürzte Männer schleppten Eimer mit Abfällen hinaus.
Neben dem Zugang zum Küchenbereich gab es einen altertümlichen Aufzug, der auf den ersten Blick für den Service gedacht schien. Wäre da nicht das kleine Zahlenfeld aus Edelstahl gewesen, das den Eintritt nur Auserwählten gestattete …
Der Besucher, der an diesem Morgen kam, tippte den Türcode von einem kleinen Zettel ab, den er aus der Tasche seines Jacketts gezogen hatte. Der Liftboy erinnerte an eine Bulldogge, er verzog keine Miene. Die Ausbeulung am Jackenrevers ließ den Ankömmling eine Pistole mit Schalldämpfer vermuten.
Schweigend fuhren sie nach oben und als die Türen sich öffneten, ging der Gast durch ein geräumiges Loft auf die weite Dachterrasse zu.
Langsam näherte er sich dem Riesen, der an einem gedeckten Tisch neben einem gigantischen Frühstücksbüfett saß. Sein fein geripptes Unterhemd bedeckte nur zum Teil die zahlreichen Tätowierungen. Jackett, Schlips und Oberhemd hatte der Mann auf den Fliesenboden der Terrasse geworfen.
Im Gegensatz zu ihm bewegte sich der Besucher so förmlich, als sei er zu einer Dinnerparty geladen. Er trug eine schwarze Anzughose, dazu ein weißes Leinensakko und ein türkisfarbenes Hemd, das seine blauen Augen zum Leuchten brachte. Das kräftige schwarze Haar mit ein paar grauen Strähnen war kurz geschnitten, der Vollbart exakt getrimmt.
„Holly, immer noch der Gleiche! Steif wie der Botschafter persönlich. Willkommen! Hier sind wir unter uns, mein Lieber, du kannst dich gehen lassen. Kannst die Stadt ein bisschen von oben anschauen und den Alltag vergessen.“ Sergej Chumtow wies mit einer ausholenden Handbewegung auf das Meer von Hausdächern. Dann griff er nach einer eisgekühlten Wodkaflasche und füllte die beiden neben den Sektkelchen stehenden Kristallgläser.
Frank Hollmeyer zog sich einen Stuhl heran. „Bruder, ich will nicht mit dir trinken, dafür fehlt mir die Zeit. Nur dieser Willkommensgruß.“ Er nahm das Glas, prostete Chumtow zu und stürzte die eiskalte Flüssigkeit hinunter.
Auch sein Gegenüber trank. Er angelte eine Salzgurke aus einem Glas und riss sich Brot von einem Laib ab, der in der Mitte des Tisches lag. „Nu, Holly, immer fein unterwegs für mich? Ich hoffe, du hast gute Nachrichten?“, tönte Chumtow. „Was ich aus meiner Heimat so höre, ist ja übel genug.“
Sie sprachen eine Weile über die Situation in der Ukraine. Gerade war die Krim von russischen Truppen besetzt worden. Das erste Mal seit dem Ende des Kalten Krieges stand Russland wieder mit seinen Interessen allein gegen die westlichen Großmächte. Da waren einerseits die Vorstellungen derer, die sich nach einem raschen Anschluss an den Westen sehnten, nach einem modernen Land. Und die der anderen, die sowjetische Verhältnisse zurückwünschten, so schnell wie möglich. Chumtow hatte für beides nur Verachtung übrig, er meinte, der Mensch könne sich nur um sich selbst kümmern. Der Staat werde ihm nur seine Freiheit nehmen, unabhängig vom herrschenden System.
„Ich träume vom Dnepr, weißt du?“ Der große Mann sprach plötzlich leise, behutsam. „Fast jede Nacht, Holly, glaub mir, fast jede Nacht. Ich sitze an diesem riesigen Strom und dann werde ich selbst zu Wasser. Es spült mich mit sich fort, es gibt kein Halten mehr, alles ist leicht und licht und angenehm.
Ich bin jetzt fünfzig und immer noch stark. Trotzdem fühl ich mich alt wie ein Greis. Was hab ich nicht alles mitgemacht! Es ist, als ob es schon reicht für ein Leben. Sicher, das waren oft keine hübschen Sachen, die passiert sind, du weißt Bescheid. Allein mit diesen Händen hab ich ’ne Menge Leute umgebracht, ich hab Geld verdient mit Drogen und Frauen. Und mit Spielen. Das war oft übel, aber ich lebe immer noch, Holly. Wie viele von denen, die ich kannte, sind längst tot? … Manchmal möchte ich so gerne ein klitzekleines Leben führen, ein bisschen mehr Langeweile, verstehst du? Jeden Tag in ein Büro gehen, dort arbeiten bis um fünf. Und dann nach Hause, wo die Frau schon auf einen wartet … Bist du auch oft so müde?“
Frank Hollmeyer legte beide Hände auf den Tisch und betrachtete Chumtow, der Wodka nachgoss.
„Dafür haben wir uns früher entschieden, oder?“, sagte er. „Aber ich hab was auf dem Herzen, Chef. Ich hab nur eine Frage an dich.“
Chumtow sah ihn an und sein träumerischer Blick verlor sich. Er nickte auffordernd.
„Ich hab lange für dich gearbeitet. Und ich hab’s gut gemacht, oder?“
Chumtows Augen verengten sich. „Willst du mehr Geld oder was?“
„Hör zu, nicht nur du wirst älter. Ich auch. Ich hab ’ne Frau kennengelernt. Es ist was Festes. Ich will Familie und ein ruhiges Leben.“
Ein Grinsen breitete sich auf Chumtows Gesicht aus, man sah seine Goldzähne blitzen.
„Ja, lach nur. Aber mir ist es ernst. Ich will aufhören.“
„Du willst mich verarschen!“
„Nein.“
Der Wolf lachte dröhnend und japste nach Luft. „Eine Familie? Ein ruhiges Leben? Bist du besoffen?“
„Du hast eben selbst gesagt, manchmal wär ein klitzekleines Leben schön …“
Chumtow wurde ernst. „Aber doch nicht du! Was soll das denn! Womöglich noch Kinder?“
„Warum nicht.“
Der Russe starrte ihn an. „Ich glaub dir kein Wort!“
„Es ist mir egal, was du glaubst. Ich hab lange genug geschuftet, während du Geld einstreichst. Ich will meinen Anteil jetzt, den Obschag. Du wirst ja noch wissen, was das ist.“
Man hörte ein Krachen, Glas splitterte, Kaviar, Gurken und Orangenstücke spritzten auf den Boden. Chumtows Linke hielt Franks Handgelenk wie mit einer Stahlklammer auf dem Tisch fixiert, die Rechte löste sich langsam von einem riesigen Hirschfänger, den er zwischen Hollmeyers Fingern in das Holz gerammt hatte.
„Gownojeb! Früher hab ich Leute wegen solcher Unhöflichkeiten auf den Tisch genagelt. Guck mal an. Und ich dachte, wir sitzen hier bei einem kleinen Festmahl unter Freunden. Aber sei’s drum. Du bist heute Abend eingeladen, mit deinem Vögelchen. Ich will sie kennenlernen. Ihr kommt her. Und du stellst sie mir vor.“
Hollmeyer betrachtete seine Hand, als gehöre sie nicht ihm. „Vielen Dank für das nette Frühstück“, sagte er. „Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.“ Mit einer raschen Drehung des Körpers zog er sein Handgelenk aus der mächtigen Pranke.
„Ich rate dir zu kommen, heute, Alter“, knurrte Chumtow.
Hollmeyer stand auf und ging, ohne sich umzublicken, langsam Richtung Ausgang.
Chumtow grinste kurz, als er ihm nachsah. Der wollte aussteigen? Familie? Ausgerechnet Holly? War das ein Trick? Er kannte ihn doch lange genug, um zu wissen, dass er sauber war. Aber wenn er seinen Teil der Beute forderte, meinte er das ernst.
Da war was faul. Konnte der ihm gefährlich werden? Schwer vorstellbar. Holly war weder dumm noch lebensmüde. Was war an der Geschichte dran?
Er ging ins Zimmer, griff zum Telefon und warf sich auf eins der Sofas. Dann entzündete er eine Zigarre.
„Sascha? Hör zu. Holly war eben hier. Er hat mir da was erzählt … ich will wissen, was dran ist. Und zwar schnell. Guck dir sein Leben an. Was macht er privat? Hat er ’ne Freundin? Wenn ja, seit wann, wie heißt sie, was macht sie? Wo treibt er sich sonst so rum? Das Übliche. Dawai!“
Drei Stunden später summte sein Smartphone. Chumtow setzte sich auf, las die Nachricht und sein Gesicht verfinsterte sich. „So! Keine Freundin!“, zischte er durch die Zähne. „Hab ich’s doch geahnt. Du alter Hund!“ Er betrachtete das Bild von Sunja. „Mit der hat er mal was gehabt. Polizistin! Scheiße! Kommissarin! Das kann doch … Bist ein U-Boot, du Schwein. Na warte.“ Er kratzte sich den Schädel. Andererseits, diese Kommissarin war interessant, sie würde schon einiges dafür tun, dass ihr Freund heil blieb. Na, die würde er ja heute Abend sehen.
Behutsam legte er die Zigarre auf dem Ascher ab, langte hinter sich ins Regal nach einem neuen Gurkenglas, warf sich eine Salzgurke in den Mund und zerbiss sie krachend.
Das Programm zur Personenerkennung, das er im Anschluss öffnete, stammte aus einem Computer der Polizei. Es würde das Bild dieser Kommissarin genau wie das Hollys unter Tausenden anderen kenntlich machen. Ab sofort war Sunja Löwel im Visier.