Читать книгу Zerbrochene Puppen / Im Haifischbecken /Der Fall Yonko K. - Drei Romane in einem Band - Sascha Behringer - Страница 11
I. Kinderfotos
ОглавлениеNichts ist gewisser als der Tod, nichts ungewisser als seine Stunde.
- Anselm von Canterbury -
Ernesto! Welch ein Name!
Vor einer halben Stunde war ihr Kollege Matthias Müller mit einigen Hundert Fotos hereingeschneit, die er nun im Sekundentakt vor sie hinblätterte.
„Süß, oder?“, schwärmte er.
Hauptkommissarin Sunja Löwel warf ihre verschwitzte Jeansjacke über den Schreibtischstuhl, strich sich die widerspenstigen braunen Haare aus der Stirn und murmelte etwas Zustimmendes.
„Eh, tolles T-Shirt!“, meinte Matthias. „Genau dasselbe hat Ernesto auch, guck mal hier.“
Sie nahm sich vor, das Shirt zu Hause sofort zu entsorgen.
Das nächste Foto. Und noch eins. Sunja starrte auf das stramme Baby: schlafend, trinkend, schreiend, mit offenem Mund, mit geschlossenem Mund, mit schiefem Mund, mit geradem Mund, auf dem Arm des Papas, auf dem der Mama, im Körbchen, auf der Couch … Am Ostersonntag, vor drei Wochen, hatte Matthias’ kleiner Sohn Felix einen Bruder bekommen. Ernesto.
Sunja gönnte dem frischgebackenen Vater sein Glück, doch nach einem Drittel der Fotos beschlich sie Unbehagen.
Ernesto in der Badewanne. Und mit der Oma. Und hier …
Das Telefon schrillte, sie atmete auf.
Es war ihr Kollege Hans-Peter Große, genannt HP.
„Sunja! Info von der Rettung, eine Tote in Hessenwinkel. Kollegen von der Streife sind da, Ärztin ist unterwegs. Die Nachbarn haben sie gefunden. Angeblich ’ne Riesensauerei. Fährst du hin? Kannst ja Matthias mitnehmen, ich komm hier nicht weg.“ Er gab ihr die Adresse durch.
„Wo ist das?“
„Köpenick, weiter draußen. Rialtoring 23!“
„Wir kommen!“
Sie schaute Matthias mit seinen Fotos an. Der selig-beschränkte Gesichtsausdruck eines Verliebten. Alle Eltern sind begeistert, sagte sie sich und suchte den Autoschlüssel. Freu dich einfach mit ihm.
„Einsatz!“, rief sie. „Zum Rialto, komm! La dolce vita!“
Matthias sah auf und griff nach dem Smartphone.
„Das ist mir peinlich, Sunja, aber ich hab es Ines versprochen … In einer Stunde schließt die Kita, ich muss den Großen …“
„Sorry, bist du beim LKA angestellt oder nicht?“
Von der Tür aus hörte sie, wie er die Oma zum Kinderhüten überredete.
Vor der Villa wimmelte es von Polizisten und Sanitätern. Drei Streifenfahrzeuge, ein Rettungswagen und zwei Pkw versperrten die Straße. Rot-weißes Plastikband spannte sich vor dem Grundstück entlang. Jemand hatte es mit einer weihnachtsverdächtigen Schleife am Sockel der Straßenlampe festgebunden.
Sunja wurde an einen grauhaarigen Mittfünfziger mit zerfurchtem Gesicht verwiesen, den sie vom Sehen her kannte.
„Löwel. LKA. Guten Tag. Mein Kollege Matthias Müller.“
„Meudrich.“ Der Mann wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn und gab ihnen die Hand. „Fürchterlich. Der ist mit äußerster Brutalität vorgegangen. Im Wohnzimmer.“
„Wissen wir, wer sie ist?“
„Noch nicht.“
„Gibt es Einbruchsspuren?“
„Keine. Sie muss den Täter reingelassen haben.“
Selbst im ärmellosen Shirt war es Sunja zu warm. Widerwillig zwängte sie sich in den für ihre 1,60 Meter Körpergröße viel zu großen Schutzanzug, legte Schuhschützer und Handschuhe an und betrat mit Matthias das Haus. Durch die geräumige Diele gelangten sie in ein helles, modernes Wohnzimmer mit weißer Ledercouch, Glastisch, großem Kamin, weißen Regalen und Fenstern bis zum Boden. Mitten auf dem beigefarbenen Wollteppich lag, gekrümmt wie ein Fragezeichen, die Tote. Ihre taubenblaue Bluse war zerfetzt von Messerstichen, überall klebte Blut: am Körper der jungen Frau, in den blonden Haaren, auf dem Teppich, dem Tisch, der Couch, sogar an den Büchern in den Regalen, auf den Fensterscheiben und an den Wänden.
Sunja schaute auf die Ärztin, die neben der Leiche kniete und in die Arbeit versunken schien.
„Was meinen Sie – Raubmord?“, fragte sie den näher gekommenen Meudrich.
Dieser wies auf die Einrichtung des Zimmers. „Kann sein, die sind ja eher vermögend. Aber – zu viel Blut. Da hat jemand gewütet. Außerdem scheint auf den ersten Blick nichts zu fehlen, nichts durchwühlt, alles unangetastet.“
Flink wie ein Wiesel schnellte die Ärztin nach oben und stand plötzlich zwischen den Polizisten.
„Silberstein. Guten Tag. Ihr Kollege hat recht. Sieht eher wie eine Tat im Affekt aus.“
„Affekt schließt Raubmord nicht aus“, murmelte Sunja. Obwohl es ihr schwerfiel, zwang sie sich, das Gesicht der Toten zu betrachten. Sie schätzte sie auf um die zwanzig. So blutjung … „Ist die Staatsanwaltschaft informiert?“, fragte sie Meudrich.
„Müsste jeden Moment kommen.“
„Tatwaffe gefunden?“
„Bis jetzt nicht.“
In dem luftdicht schließenden Schutzanzug lief Sunja der Schweiß in Strömen herunter. Heute war Donnerstag, der 27. April. Vor drei Wochen war schlagartig der Hochsommer ausgebrochen und hatte die letzten Schneereste zum Schmelzen gebracht. Kein Tropfen Regen hatte seither das zarte Grün belebt, die winzigen Blätter hingen schlapp und staubig an den Bäumen.
Doch obwohl sie schwitzte, spürte Sunja in diesem Zimmer diese spezielle bleierne Kälte, die ihr bis in die Knochen drang. Das hatte sie schon oft wahrgenommen, die Temperatur in einem Raum, in dem ein Toter lag, schien auf besondere Art zu sinken. Ob man das technisch messen konnte?
Die Stille im Haus wirkte bedrohlich, trotz der sieben Personen im Zimmer hörte sie keinen Laut.
„Ich muss weiter.“ Die Ärztin durchbrach die Starre, schob die Ärmel der Leiche herunter und packte die Instrumente ein. Sie sah Sunja an. „Nirgends Anzeichen von Rigor Mortis. Lange kann sie also noch nicht tot sein. Vierzehn Stiche, soweit ich bis jetzt sehen kann, mehrere in der Herzgegend. Ein Messer, vermutlich. Erhebliche Abwehr- und Kampfspuren. Hier war bestimmt die Hölle los.“ Energisch streifte sie die Handschuhe ab. „Sie bekommen meinen Bericht so schnell wie möglich.“
„Danke.“ Die Kommissarin gab ihr eine Visitenkarte und wandte sich an Meudrich: „Vielleicht ist die Tatwaffe noch im Haus? Können Sie nachschauen, ob …“
Ein rundlicher Polizist kam ins Zimmer geschossen und keuchte: „Noch einer! Draußen! Kommen Sie schnell!“
Bevor Sunja reagieren konnte, rannte die Ärztin hinaus. Die Kommissarin bog hinter ihr um die Ecke und stürzte durch die offene Hintertür in den Garten. Ein Kiesweg und ein silberner Mercedes. Tulpenblüten. Schwarze Sterne auf rotem Samt. Sie trat einen Schritt aus der Tür und sah den Mann. Er lag reglos am Boden, direkt neben der geöffneten Wagentür.
Anfang vierzig, markantes Gesicht, kurze dunkle Locken.
„Er lebt!“, schrie die Ärztin, während sie nach ihrem Handy suchte. Dann sprach sie beruhigend auf den Mann ein, während sie ihn vorsichtig zur Seite drehte und rasch seine Verletzungen in Augenschein nahm. Im Brustbereich und an den Armen war sein Hemd von Stichen zerfetzt und blutgetränkt.
Wenige Minuten später erschienen zwei Sanitäter mit einer Trage, sie luden den Mann ein, und der Krankenwagen fuhr mit schriller Sirene davon.
Mit dem Handrücken wischte sich Frau Silberstein den Schweiß von der Stirn, als sie auf Sunja zukam. „Genau dasselbe“, murmelte sie.
„Dieselbe Waffe?“
„Sieht so aus. Hoffentlich kommt er durch.“
„Wohin wird er gebracht?“
„Krankenhaus Rüdersdorf.“
„Okay.“ Sunja konnte den Blick nicht von der Stelle abwenden, an der der Verletzte gelegen hatte. Blutige Steine, kleine Gebirge aus Kies. Hatte er gekämpft? Versucht aufzustehen? Ihr leerer Magen rebellierte wegen des süßlichen Blutgeruchs, selbst hier im Freien. Sie gab sich einen Ruck, mechanisch suchten ihre Augen die nächste Umgebung ab. Nirgends ein Messer.
„Ehrlich, mein Job gefällt mir deutlich besser als Ihrer“, sagte die Ärztin. „Jedenfalls solange es sich um Lebende handelt. Etwas ist mir übrigens noch aufgefallen …“
„Ja?“
„Das Armband der Toten. Geflochtene Silberfäden mit einer Katze daran. Wahrscheinlich ein Talisman …“
„Und was ist damit?“
„Der Mann trägt dasselbe.“
„Ach.“
„So, nun muss ich wirklich … Viel Erfolg!“
„Danke.“
Sunja rief einen der Kriminaltechniker. „Bitte fordern Sie sofort mehr Kollegen an. Die sollen alles absuchen: Garten, Haus, Garage, Schuppen, jedes Zimmer, den Keller.“ Sie schaute sich nach Matthias um, konnte ihn aber nirgends entdecken. „Wir brauchen die Tatwaffe. Und müssen schnellstens die Opfer identifizieren. Bitte sämtliche Personaldokumente, die Sie finden, sofort zu mir. Und alle Messer in die Spurensicherung, vielleicht ist die Waffe dabei!“
Sie ging wieder zu Meudrich.
„Was wisst ihr bis jetzt?“
Er machte eine Handbewegung zum Nebenhaus rechts. „Die Nachbarn haben die Polizei gerufen, Ehepaar Tienemann. Ich wollte sie kurz befragen, die waren aber fix und fertig. Nur so viel: Hier wohnt eine Familie Schwarz, sie Anwältin, er irgendwas in der Computerbranche. Aber die Nachbarn waren so durch den Wind, ich hab sie erst mal nach Hause geschickt und ihnen gesagt, sie sollen da warten.“
Sunja schaute zum Nachbarhaus, an dem wohl ein Architekt seinen Spieltrieb ausgelebt hatte. Es sah aus wie eine Mischung aus Schlösschen und Cottage: Zu den Seiten des Satteldaches erhoben sich zwei spitze achteckige Türmchen, gekrönt von einer Metallkugel samt Wetterhahn. Das Bauwerk war weiß verklinkert, hatte graue Schindeln und viele grüne Rundbogenfenster. Die Fenster des linken Turmes zeigten direkt zu der Einfahrt, in der sie und Meudrich standen. Sunja glaubte, hinter einer Gardine im Erdgeschoss ein Gesicht zu erkennen.
„Sie hat die Schreie gehört“, fuhr Meudrich fort. „Ist mit dem Mann zur Haustür rein, sie haben die Frau entdeckt und die Zentrale angerufen.“
„Was für einen Eindruck machen die zwei auf Sie?“
„Hm. Glaubwürdig. Gebildet. Ganz normale Leute eigentlich. Bisschen hysterisch, die Frau. Aber ich meine, so was sehen die ja auch nicht jeden Tag.“
„Allerdings.“
„Dann gibt’s noch einen alleinstehenden älteren Herren, dort.“ Er wies auf die gegenüberliegende Straßenseite und zeigte auf ein Haus, das von den anderen repräsentativen Bauten deutlich abstach. Ein einstöckiger, quadratischer Dreißigerjahre-Bau mit grauem, abblätterndem Putz, Moos auf dem Dach und einem runden Fenster im Giebel. „Herr Ramser. Hat merkwürdige Geräusche gehört. Sonst, na ja, wie soll ich sagen … Der redet ziemlich wirres Zeug und hört nicht auf. Ist schon etwas durch den Wind.“
„Inwiefern wirres Zeug?“
Meudrich räusperte sich. „Dass er sich nicht wundert. ‚Das musste ja passieren, bei so einer komischen Familie.‘ Das sind diese Zeugen, die sich unglaublich wichtig finden …“
„Was meint er mit ‚komischer Familie‘?“, unterbrach ihn Sunja.
„Keine Ahnung!“
„Haben Sie nicht nachgefragt?“
„Ehrlich, ich hatte noch anderes zu tun, Kollegin. Außerdem, wir kennen doch die Sorte! Die beobachten immer schon seit Wochen eine außereheliche Liebesbeziehung oder irgendeinen Ausländer. Die haben immer irgendein Auto erkannt, wissen aber nie die Autonummer!“
„Aha. Das ist alles?“
„Leider. Wir tun halt, was wir können!“
„Ja, klar. Sollte keine Kritik sein.“ Sunja sah sich um. „Verdammt ruhige Gegend hier. Wenn das bei mir im Friedrichshain passiert wäre, oh Mann, da hätten wir die ganze Straße voller Leute.“
Sie erfuhr, dass Nachbar Ramser ebenfalls in seiner Wohnung auf die Befragung wartete. Matthias kam aus dem Haus. Kurz entschlossen schickte sie ihn hinüber und er verschwand ohne ein Wort.
Die Mittagssonne knallte auf die Tulpenbeete. Obwohl ihr die Kälte aus dem Zimmer noch in den Knochen saß, klebte ihr das Shirt auf der Haut. Sie ging ins Haus zurück, vorbei an den Männern, die die hintere Tür untersuchten. Acht weiß verpackte Gestalten der Kriminaltechnik, die über Blutlachen staksten, fotografierten, maßen, pinselten, Fingerabdrücke von Möbeln nahmen und den Boden nach Faserspuren absuchten. In der Diele stand ein starker Scheinwerfer, sein Licht verwandelte die tote Frau gleichsam in ein bizarres Kunstwerk. Der Magen der Kommissarin rebellierte, als sie zur Leiche schaute. Wieder stieg ihr der Blutgeruch in die Nase.
„Kollegin Löwel?“
Ein Techniker stand in der Küchentür und hielt ihr einen hölzernen Messerblock hin, in dem fünf verschieden große Messer mit Edelstahlgriffen steckten. Der sechste Schlitz war frei. „Eines fehlt, haben wir auch nirgends gefunden“, sagte er.
„Super. Nehmen Sie das Ding mit! Wie sieht’s mit anderen Spuren aus?“
„Reichlich. Fingerabdrücke, auf den ersten Blick mindestens acht verschiedene. Faserspuren und DNA-Material gibt’s auch. Wir werten so schnell wie möglich aus.“
Ihr Blick fiel auf den Wasserhahn in der Küche. Sie hatte wahnsinnigen Durst. Zu Hause würde sie jetzt aus dem Hahn trinken, aber das wollte sie hier nicht.
Sie verließ das Haus durch den Vordereingang, zündete eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Eine Ermordete und ein Schwerverletzter. Waren sie das Ehepaar Schwarz, von dem Meudrich gesprochen hatte? Oder Vater und Tochter? Hauseigentümer und Geliebte?
Eine Autotür ploppte. Die Staatsanwältin stakste auf sie zu. Höchstens dreißig. Schmale Lippen. Magersuchtverdächtig. Sunja erinnerte sich, dass sie erst Anfang des Monats ihren Dienst aufgenommen hatte.
„Hauptkommissarin Löwel, guten Tag“, sagte sie.
„März“, entgegnete die Frau kühl. „Was haben wir?“
„Eine Tote, noch nicht identifiziert. Brutal erstochen. Ein Mann, ebenfalls mit vielen Stichwunden. Vielleicht der Einzige, der die Tat gesehen hat, jetzt im Krankenhaus. Sonst gibt es drei Zeugen in der Nachbarschaft, mein Kollege hat gerade begonnen, sie zu befragen.“
„Spurensicherung schon da?“
„Ja. Wir sollten …“
„Wir sprechen uns. Ich mach mir erst mal ein Bild“, entgegnete die Staatsanwältin knapp, ließ sie stehen und rauschte ins Haus.
Sunja warf den Zigarettenstummel auf die Straße und betrachtete die noble Villa. Gleich am Gartentor drohte dem Besucher die lebensgroße Nachbildung eines schwarzen Kampfhundes. Ein Meer klein ziselierter weißer Pflastersteine ersetzte den Vorgarten, nur an einer Stelle quälte sich ein kränklicher Ahorn durch den Granit. Zwei gewaltige Säulen zu Seiten der Eingangstür verstärkten den festungsartigen Charakter des Anwesens, auf ihnen thronte der Balkon des Obergeschosses. Das Haus war strahlend beige und weiß gestrichen. Rechts war die überdachte Zufahrt, in der der verletzte Mann gelegen hatte. An der linken Grundstücksgrenze floss ein kleiner Kanal. Sunja beschloss, kurz die Umgebung zu erkunden, und ging langsam am Wasser entlang hinter die Villa. Ein mannshoher Plastik-Leuchtturm stand hinten auf dem Rasen, der ringsum von sanft geschwungenen Beeten umgeben war. Dort strahlten Tulpen, Narzissen und Primeln. Die herabgefallenen Blüten des Kirschbaums erinnerten an Neuschnee.
Sie umrundete das Haus, dann trieb ihre ausgedörrte Kehle sie zur nächsten Kreuzung. Die Hoffnung auf irgendeine Einkaufsmöglichkeit zerschlug sich jedoch sofort. Einfamilienhäuser, so weit man sah. Etliche fast neu, andere scheinbar aus den Zwanzigerjahren, mit schmiedeeisernen Jugendstilzäunen. Abgesehen vom Backsteingebäude gegenüber prunkten die Häuser mit makellosen Fassaden, die Zäune glänzten wie neu gestrichen. Rabatten, Rasenflächen und Vorgärten präsentierten sich so gepflegt, dass es fast künstlich aussah. Jedes Anwesen hier demonstrierte die Bonität seines Besitzers.
War das Verbrechen doch ein Raubmord? Das Bild des Tatortes sprach dagegen. Keine Anzeichen für Gestohlenes, kein offener Safe, kein zerwühltes Zimmer. Aber der erste Blick konnte auch täuschen, wie sie wusste. Warum hatte es genau dieses Haus und dieses Paar getroffen?
Sie ging zurück und wollte gerade zwischen den Polizeiwagen vor dem Grundstück hindurch, als ihr die Birke neben dem Gartentor ins Auge fiel. Der einzige dickere Baum in der Straße. In den rissigen Stamm hatte jemand etwas geschnitzt. Die Schnitte waren frisch. Wie hieß diese Art Kreuz mit dem unteren schrägen Balken? Orthodoxes Kreuz? Andreaskreuz? Sie zeichnete das Symbol in ihr Notizbuch.
Ein Kriminaltechniker kam auf sie zu und teilte ihr mit, dass sie im Obergeschoss fertig seien. Sunja entschied, zuerst einen Blick dorthin zu werfen, bevor sie mit dem Ehepaar aus dem Nachbarhaus sprach.
Sie betrat den Flur. Hinten rechts führte eine geschwungene Holztreppe in die obere Etage. Das Erste, was sie dort sah, war ihre eigene Gestalt in einem überdimensionalen Spiegel. Ihre kurzen dunkelbraunen Haare waren wie immer verstrubbelt, bisher hatten sie allen Bemühungen ihres Friseurs, sie in Form zu bringen, zäh widerstanden. Im Grunde war ihr das egal, sie legte keinen besonderen Wert auf Äußerlichkeiten. Aber als sie im Näherkommen die dunklen Ringe unter ihren Augen erblickte, runzelte sie die Stirn. Es war nicht mehr zu leugnen, man sah ihr die Fünfundvierzig an, auch wenn andere das Gegenteil behaupteten.
Durch die Mitte der Dachetage zog sich ein langer Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Sunja schaute in ein Schlafzimmer mit Doppelbett, Wandschräge und milchigem Oberlicht. Weiße Möbel, stilvoll und teuer.
Sie stutzte, als ihr Blick an einem Hochzeitsbild hängen blieb. In dem Mann erkannte sie sofort den Verletzten aus dem Garten. Markantes Profil, schwarze, lockige Haare. Die Angetraute, dunkelhaarig, trug eine raffinierte Hochsteckfrisur und ein kurzes Seidenkleid in Beige. Das war auf keinen Fall die Tote! Sunja ging dichter heran. Nein, die Frau sah völlig anders aus. Lag es vielleicht am veränderten Outfit, nur für den Tag der Hochzeit? Sollte ja vorkommen. Sie sah genau hin. Nein, das war jemand anderes.
Das Foto daneben verwirrte sie vollends. Es zeigte wieder das Paar, diesmal weniger aufgedonnert und um einige Jahre älter. Ein etwa einjähriges Baby lachte vom Arm des Ehemanns, im Hintergrund konnte man Samtvorhänge und Plüschsofas ausmachen. Eine Art Hotelhalle oder Lobby? Sie nahm das Bild von der Wand. Kiew, 18. Mai 2012, stand auf der Rückseite.
Wenn die zwei ein Kind … War es noch im Haus? Hatte es alles mit angesehen?! Sie stürzte die Treppe hinab, suchte nach Meudrich und fand ihn in der Küche.
„Es gibt ein Kind!“ Sie hielt ihm das Bild unter die Nase.
Er betrachtete es konzentriert. „Der Mann ist der Verletzte“, sagte er. „Aber die Frau ist nicht die Tote. Da bin ich sicher.“
„Ich auch. Nur, wo ist das Kind?“
Meudrich warf ihr einen alarmierten Blick zu.
„Okay, ich geb’s weiter“, sagte sie und suchte die Nummer der Vermisstenabteilung.
„Übrigens, wir haben die Identität des Verletzten“, murmelte der Polizist. „Seine Dokumente lagen im Auto. Moment.“ Er verschwand im Wohnzimmer und kehrte gleich mit einem Kollegen der Spurensicherung zurück, der ihr diverse Plastiktüten überreichte. Sie enthielten einen Personalausweis, den Führerschein, Kreditkarten und andere Papiere. Alle ausgestellt auf Ulrich Schwarz, geboren am 1. Mai 1966, wohnhaft in Berlin, Rialtoring 23.
„Vielleicht ist die Tote seine Freundin“, sinnierte Meudrich, „und die Ehefrau ist mit dem Kleinen unterwegs? Falls sie hier noch gewohnt hat.“
Das hoffte Sunja auch. Vielleicht entdeckte sie im Obergeschoss die Handynummer der Mutter. Oder konnte anhand von Spielzeug oder Kleidung feststellen, ob das Kind hier gelebt hatte. Sie beschloss, die Zeugen von nebenan warten zu lassen. „Wenn ihr irgendwas habt … ich bin oben.“
Erneut stieg sie die Treppe hinauf. Liebend gern hätte sie jemand anderen dorthin geschickt. Ihr graute davor, in irgendeinem Winkel eine zweite Leiche zu finden – die eines Kindes.