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23. März – Tag des Faulenzens – National Goof-Off Day (USA)

Am Anfang: Müßiggang

Das Faulenzen hat schon lange keine gute Presse mehr, deshalb ist das Wort dahingeschieden. Also fast. Die Älteren unter uns kennen das, was dahintersteckt, noch unter der Bezeichnung „Abhängen“ oder – pejorativ und wenn die Haarpracht stimmte – „Gammeln“, die Jüngeren „chillen“ ganz einfach vor sich hin. Soweit die Synonyme. Sie scheinen aber etwas ganz anderes zu meinen. Denn bei einer google-Bildersuche ergibt sich, dass die bei weitem meisten Dargestellten (meistens Katzen, die lassen sich im Gegensatz zu Menschen gerne so abbilden) schlafend in der Horizontalen dargestellt sind. Tut man aber pennend gammeln oder besinnungslos chillen? Kann sein, muss aber nicht sein. Das unvermeidliche Faultier jedenfalls, das döst nicht, das hängt ab.

Faulenzen ist nicht gleich schlafen, dann könnte man es ja gleich so nennen. Also wählen Statistiker, die bekanntlich trennscharfe Kategorien bilden müssen, einen passenderen Begriff. Der lautet z.B. „Nichtstun“. Und wenn man dann nachfragt, ergibt sich hinsichtlich der deutschen Gesamtbevölkerung ein unschönes Bild bezüglich des Anteils der Befragten, die in ihrer Freizeit Faulenzen bzw. dem Nichtstun frönen, spezifiziert nach Lebensphase im Jahr 2019 in Deutschland.

Jugendliche64%
Junge Erwachsene66%
Singles43%
Paare53%
Familien37%
Jungsenioren43%
Ruheständler57%

Insgesamt haben wir hier ein schönes Votum für Aktivitäten-Abstinenz: Nur die Singles und Familien gefallen sich überwiegend in (blindem?) Aktionismus. Hätte man sich natürlich denken können: Die Jugend ist mal wieder die verdorbenste Lebensphase. Gleichwohl gilt für jede nachwachsende Generation gerechterweise noch heute der Spontispruch: „Wer die Hände in den Schoß legt, muss lange noch nicht untätig sein.“ Allein: Den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen, das darf man diesen ungläubigen Bengels und Madeln nicht durchgehen lassen.

Aber wie bei vielen anderen Themen fragt die ältere, so viel erfahrenere Community die Nachkommen: Wisst Ihr überhaupt, wie das geht – Faulenzen? Dabei ist sie es, die es vorgemacht hat, wie es nicht geht. Nach dem Krieg musste angepackt werden, erst, um die selbst verschuldeten Trümmer beiseite zu räumen, dann musste das Bruttosozialprodukt gesteigert werden und schließlich waren es die Start-upper, Ausgebeuteten und Selbstausbeuter, die niemals Zeit hatten, weil es immer was zu tun gab – ruheloses Streben, Schlüssel zum Unglück.

Burnout und Frühverrentung oder -vergreisung waren der Lohn. Dazu lief jahrzehntelang das langlebigste und -weiligste Fernsehquiz aller Zeiten: „Was bin ich?“ mit dem verwüstlichen Robert Lembke. Das nur im Untertitel „heitere Beruferaten“ war alles andere als zum Schießen, eher zum Erschießen wegen der vielen vertanen Zeit und Langeweile. Sein Erfolg korrespondierte mit der ureigenen, so typisch deutschen Eröffnungsfrage, wenn man neue Bekanntschaften schließt: „Was machen Sie so beruflich?“ Die Sache mit der typischen Handbewegung ist zum Glück vergessen.

Von den Alten können die Jungen also nichts lernen, wenn es ums 'richtige' Faulenzen/Nichtstun geht. Wenn es das bloße Schlafen und das Langweilen nicht sind, was müssen sie dann also noch lernen? Ein Entertainer vom Privatfernsehen hat mal sinngemäß gesagt: „Auf das Meer starren und langsam verblöden.“ Nicht schlecht, das allerdings auf die Frage, wie er sich sein Alter vorstellt. Somit käme das für die Generationen vom Jugendlichen bis zum Jungsenioren (!) nicht infrage, sie müssten noch etwas leisten. Denn unsere Gesellschaft behauptet ja eine zu sein, die das Sich-Regen entlohnt. Deshalb ist das Ansehen des Faulenzens so schlecht und alle täuschen fleißig Betriebsamkeit vor, und noch der jeden Talents unverdächtigste „Sechser“ der Fußball-Bundesliga sackt noch ein knappes Milliönchen ein. Dabei weiß er im Grunde genau, wie es geht. Manch einer „trabt“, wie es gern missgünstig von den Kommentatoren genannt wird, übers Spielfeld und scheint mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Genau darum geht es. Wenn wir Tiere wären, hätten wir damit auch gar kein Problem, nicht einmal Gedanken.


Tiere werden immer wieder gerne beim besinnungslosen Abhängen gezeigt.

Sind wir aber nicht. Und deshalb müssen diejenigen, die es verlernt, und diejenigen, die es nie kennen gelernt haben, sich die „Restzeit“, die doch die eigentliche Zeit ist, erobern, indem sie die Sorge um sich selbst vor die Selbstverwirklichung in der beruflichen Tretmühle stellen. Goethe war noch dichter dran, als er irgendwo sagte: „Wenn die Affen es dahin bringen könnten, Langeweile zu haben, so könnten sie Menschen werden.“ Sie sollten sich hüten, denn Langeweile hatten wir schon mit „Was bin ich?“ ausreichend. Was zu Goethens Zeit aber noch bekannt war, war ein zu unrecht vergessenes deutsches Wort: Müßiggang.

Muße zu haben muss wieder erstrebenswert sein, Muße hat wenig mit Schlaf und rein gar nichts mit Langeweile zu tun. „Never a dull moment“ forderte der frühe Rod Stewart, und der noch ein wenig tiefschürfendere S0ren Kierkegaard brachte es auf den Punkt: „An sich ist Müßiggang durchaus nicht eine Wurzel allen Übels, sondern im Gegenteil ein geradezu göttliches Leben, solange man sich nicht langweilt.“ So ist es.

Mit allen Sinnen den Dingen zugewandt, schlicht absichtslos durch die Welt streifen, denn Müßiggang hat durchaus mit maßvoller Bewegung zu tun. Das heißt nicht, dass man keinen Laden aufsuchen kann, typischerweise einen Buchladen, in dem man nicht etwa einkauft, sondern regelrecht stöbert. Da gibt es zum Beispiel einen alteingesessenen im Stadtteil Kreuzberg von Berlin.


Hier geht man in sich, hier darf man müßig sein.

Es gab Zeiten, da blieb Müßiggang „denen vorbehalten, die es sich leisten konnten, weil andere die Arbeit machten, sei es in den frühen Sklavengesellschaften oder später als ,Lohnsklaven’“, sagte wiederum Rosa Luxemburg. Wer also seine Ketten brechen will, der muss nur richtig wählen. Zwischen der Optimierung der Work-Life-Balance dergestalt: „Schluss mit dem Faulenzen. Das ideale Trainingsprogramm für die Mittagspause.“ [https://www.newsdeutschland.com/video/20191012/ 135895/Schluss-mit-dem-Faulenzen-Das-ideale-Trainingsprogramm-f%C3%BCr.htm] Richtig angekommen im Lifestyle ist nur der, der ganz ohne Rekreation schaffen tut: „Have no break, have no …“ Work-work-Balance eben. Oder er widmet sich der (Wieder-)Entdeckung von all dem, wofür die Nachbarn in unserem südlichen Sehnsuchtsland auch schöne Worte haben: dolce far niente.

Warum aber wird das Mußetun im Vergleich zum Bußetun in unseren Breiten so sehr viel weniger geschätzt? Man kann es erst einmal auf das rein Ökonomische herunterbrechen, wie es Rolf Schwendter weiland in seiner legendären „Theorie der Subkultur“ getan hat:

„Muße ist technologisch möglich; Muße ist auch zum Nachdenken und zur Sensibilisierung erforderlich; Muße ist selbst systemimmanentweise langfristig unvermeidlich. Die Herrschenden und ihre Ideologen […] kennen die Gefahren der Muße; die Gefahren einer nachdenkenden, bewußten, ich-starken Bevölkerung für die Herrschenden. Die Befriedigung der Bedürfnisse ist nach den herrschenden Normen noch immer mit Arbeit vermittelt. Daher noch immer die Angst, aufgrund von Nachdenken und entsprechender Praxis den Arbeitsplatz zu verlieren.“

[Schwendter, Rolf: Theorie der Subkultur. Frankfurt/M. 1978, S. 236]

Leute, die die Zeit haben, Ideen zu entwickeln, sind nicht gern gesehen, nicht einmal wenn sie sich auf die Gewinnmaximierung des Unternehmens auswirken. Die werden als erste gegangen, das hat sich seit Schwendters Zeiten nicht geändert. Aber das Denken bezieht sich ja auf mehr, auf die Reflexion der eigenen Funktion im Getriebe des Betriebes. Und da wäre Hoffnung, denn, so zitiert Schwendter den Soziologen Goffmann, es zeigten sich auch Kohorten von „alternden jungen Leuten, die noch nicht bereit sind, sich durch Arbeiten verseuchen zu lassen“. [Schwendter, ebd.]

Gleichwohl sei vor Optimismus gewarnt: Zum einen hat sich die These von der Manipulation der Arbeitermassen in Form einer Gehirnwäsche („Nur der arbeitende ist ein ganzer Mensch“) als nicht zielführend erwiesen, denn die Menschen machen das ja alles ganz freiwillig mit; zum anderen stellt sich die Dialektik von Arbeit und Muße gar nicht so einfach dar: „Die Aufhebung des Leistungsprinzips garantiert noch längst nicht fortschrittliche Wirkung. Die Idealtypen vieler Bohemiens sind der Zuhälter und der Rentier; mit Recht hat Plack darauf hingewiesen, daß der arrivierte Faulenzer ein feudales Ideal sei.“ [Schwendter, ebd.] Den Lebensabend als Zuhälter oder Prügelprinz zu verbringen, geht heute vom gesellschaftlichen Ansehen her gar nicht mehr.

Trotzdem darf niemand die Aussicht auf ein lebenswertes Leben ohne entfremdete Plackerei niemals nicht aufgeben, auch wenn wohl eine Option noch immer in weiter Ferne ist: „Eine Kombination von Halbtagsarbeit und revolutionärer Berufspraxis scheint bislang am effektivsten.“ [Schwendter, ebd.] Solche Arbeitsverträge sind, soweit bekannt, eher selten. Aber glücklicherweise geht uns ja angeblich die Arbeit aus, und wenn wir nicht mit sinnlosen Dienstleistungstätigkeiten bei der Stange gehalten werden, bilden wir uns derweil weiter („die permanente Weiterbildung [muss] erotisch besetzt“ sein, Schwendter). Lest die alten Bücher wieder, sie sind wahr!

Glücklicherweise gibt es für all diejenigen, die sich für die wahre, lebenswerte Alternative entscheiden, eine passende Zeitschrift. Es ist müßig, mehr als ihren Titel zu nennen: „Muße. Ein Magazin.“ Nur eines: Man findet hier – auch online – viele überraschende Querverweise. Wie etwa diesen hier in dem Beitrag „Wir brauchen den Exzess“:

„So kommt dieser Exzess an eine Grenze, die er gelten lässt, weil sie das Recht und die Würde der anderen Geschöpfe neben ihm hütet. Aktion und Passion bestimmen den Exzess, der sich in einem Widerspiel von Bewusstheit und Unbewusstheit ereignet. Das Unbewusste hat sicher seinen Anteil am Erfolg des Exzesses, aber ohne das zum Bewusstsein gebrachte Neuland, dass der Grenzen Überschreitende entdeckte und nun erkundet, wäre aller Exzess nur der verzweifelte Wettlauf eines Blinden in der Nacht. Nicht zuletzt zeigt sich, wie viel das Konzept des Exzesses mit dem der Muße gemein hat: die ambivalente und die paradoxe Grundstruktur, die Transgression oder auch die Eröffnung neuer Räume und Möglichkeiten.“

[http://mussemagazin.de/2017/09/wir-brauchen-den-exzess/, Aufruf am 04.12.2019]

Noch näher dran am Thema des Ehrentags aller Müßiggänger ist ein Beitrag über den Dandy. Wodurch zeichnete der sich noch aus? „Zumindest der klassische Dandy des 19. Jahrhunderts verweigert sich einem bürgerlichen Arbeitsethos, indem er exzessiv der Muße frönt.“ [Julia Bertschik: Dandy. In: Muße. Ein Magazin, 3. Jhg. 2017, Heft 1, S. 64-66. URL: http://mussemagazin.de/2017/ /09/dandy/, Aufruf am 04.12.2019]

Na also, exzessive Muße. Wobei man sich eine solche Lebensweise natürlich auch leisten können muss. Demonstrativer Müßiggang ersetzt den demonstrativen Konsum. Ein prächtiger Ehrensold für Dandys sollte ein nicht zu hoch gegriffenes Ziel in den anstehenden Verteilungskämpfen sein.

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