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1. Nation als Identitätsformel

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Nation und Identität

Die Nation – das scheint klar – verbürgte Identität für den Einzelnen und im Kollektiv. Mit der Nation meinten die Vertreter der Nationalbewegungen immer eine von allen Nationsangehörigen geteilte Identität. Sein Volk sollte die Quelle der Identität für den Einzelnen darstellen. Das Volk stand im Zentrum der Ideologie der Nationalbewegungen. Gleichzeitig enthielt der nationale Gedanke eine egalitäre Note. Niemand war seinem Volk gegenüber in einer hervorgehobenen Stellung. Unter den Nationszugehörigen herrschte der Idee nach eine fundamentale Gleichheit. Deshalb konnte die Nation an die kollektive Solidarität appellieren. Sie war eine Solidargemeinschaft. Außerdem war das Volk der Träger der politischen Souveränität. Politische Herrschaft sollte nur dann legitim sein, wenn sie auf der Volkssouveränität beruhte. Nationale Identität verband so das Individuum mit dem Kollektiv. Dass eine Menge von ganz unterschiedlichen Individuen ein gemeinsames Merkmal, ihre nationale Identität, teilte, war der Anspruch jeder Nationalbewegung. Nationale Identität existierte für den Nationalismus immer nur im Singular. Es sollte nur eine einzige nationale Identität für jedes Volk geben.

Nationale Identität als explanandum

Nationale Identität war immer eine ideologische Behauptung der Nationalisten und keine analytische Kategorie der historischen Forschung. Sie kann nicht das explanans der historischen Nationsforschung, sondern nur das explanandum sein. Erfolg und Misserfolg des Nationalismus, eine Nation zu schaffen und nationale Identität zu stiften, müssen erklärt werden. Die nationale Identität kann nicht schon deshalb vorausgesetzt werden, nur weil sie von den Nationalisten behauptet wurde. Die Nations- und Nationalismusforschung untersucht die Formen dieser Identitätszumutung, ihr Zustandekommen und ihre Abgrenzungsversuche gegen andere Formen der Identitätsbildung. Sie schaut den Nationalisten bei ihrer Arbeit über die Schultern.

Der Nationalismus und die vielen Ebenen der Identität

Der Nationalismus konkurrierte mit anderen Identitätsformen, teils alten, teils neuen. Zu den älteren Formen der Identität zählten die Religion, die Familie und die Monarchie. Neuere Formen waren die soziale Klasse, die Heimat oder die Zugehörigkeit zu einem Teilstaat des späteren Nationalstaates. Diese politisch-sozialen Begriffe verbürgten ebenfalls Identität. Nationalisten sahen jedoch in der Identitätsformel Nation den höchsten Wert, der allen anderen Wertbezügen weit überlegen war. Der Anspruch, Deutscher oder Franzose oder Italiener zu sein, sah vom räumlichen, sozialen und konfessionellen Ort der Nationszugehörigen ab und behauptete eine Gemeinsamkeit, die alle Unterschiede überwand. Die Nation selbst sollte den letzten Horizont des individuellen Selbstverständnisses bilden.

Tatsächlich aber leben und lebten Individuen in komplexen Mischungen von Identitäten, die sich wechselseitig verstärken, aber auch durchkreuzen können. Die Reduktion auf eine einzige Identität ist historisch gesehen jung. Die nationale Hierarchisierung von Identitäten setzte sich gezielt von älteren Mischidentitäten ab. Im Polen vor den Teilungen ab 1772 konnte die Antwort auf die Frage, wer man sei, noch lauten: „Canonicus cracoviensis, natione Polonus, gente Ruthenus, origine Judaeus“ (Krakauer Kanonikus, polnischer Nation, gebürtiger Ruthene, jüdischer Herkunft). In der zweiten polnischen Republik nach 1918 war diese Mischidentität aufgehoben: Polen waren jetzt nurmehr katholisch und sprachen Polnisch.

Die meisten Beispiele von Mischidentitäten gehen zurück auf übernationale Reichsstrukturen, vor allem auf das Habsburgerreich vor 1914 und das polnisch-litauische Reich seit 1569. Der Nationalstaat bildete das Gegenmodell zum Reich mit seinen fließenden Grenzen und Mischlagen. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das Osmanenreich und das Zarenreich kannten Grenzräume, so genannte frontiers. Der moderne Nationalstaat dagegen beruhte auf exakt demarkierten Grenzen, borders, die die nationale Zugehörigkeit von Personen gegeneinander abgrenzten. Nationalstaaten sollten eindeutig angebbare und bewachte Grenzen haben. Damit hingen der Aufbau des nationalen Machtstaates und die ungeahnte Mobilisierung der Ressourcen im Nationalstaat zusammen. Der verpflichtende Charakter des Nationalstaates nahm mit der Wehr-, Steuer- und Schulpflicht zu. Diesen Anspruch an der historischen Wirklichkeit zu messen und seine Durchsetzungschancen zu analysieren, ist eine Aufgabe moderner Nationalismusforschung.

Die These der „großen Verunsicherung“

Die Forschung ging lange Zeit davon aus, dass der historische Erfolg nationaler Identitätszumutungen das Ergebnis einer vorangehenden „großen Verunsicherung“ war (Hans-Ulrich Wehler). Die Nation füllte das Vakuum, das durch den Wegfall älterer Identitäten wie Familie, Region, Religion und Monarchie in den Revolutionen seit 1789 entstanden war. Die 26 Jahre währende Revolutions- und Kriegsepoche zwischen 1789 und 1815 veränderte die Zugehörigkeitsgefühle der Menschen und erzeugte ein „sozialpsychisches Vakuum“ oder auch eine „tiefe Verstörung“. Für diese Verstörung waren besonders die Intellektuellen empfänglich, ausgesprochene Sinnproduzenten mit dem Bedürfnis nach neuer Orientierung und Identität. Sie bildeten die sozialen Träger des frühen deutschen Nationalismus. Die These von der „großen Verunsicherung“ im Umfeld der Französischen Revolution sollte erklären, warum in den meisten europäischen Staaten die Bereitschaft wuchs, dem Identitätsversprechen des Nationalismus zu folgen. Dieser historische Erklärungsansatz wird gerne mit einem psychosozialen Argument verknüpft, etwa mit dem „enhanced psychological income“, das der Nationalismus mit sich bringt (Daniel Katz).

Der Nationalismus war jedoch bei weitem nicht das einzige Ventil der Verunsicherung. Im Sommer 1789 kam es in den ersten Wochen der Französischen Revolution zu einer grande peur, einem massenhaften Sturm auf Adelssitze mit anschließendem Verbrennen der feudalen Insignien. Die grande peur ließ noch keine Hinwendung zu Nation und Nationalismus erkennen, auch wenn die vorhandene revolutionäre Grundstimmung eine antifeudale Spitze besaß. In den folgenden Jahren wandte sich die verunsicherte Bevölkerung in den Provinzen vollends gegen die Revolution in Paris. Dafür standen die Vendée-Aufstände im Westen Frankreichs, (1793–96) aber auch der Widerstand in Lyon (1793). Ein drittes Ventil der Protestbewegung verunsicherter Schichten stellte die Religion dar. Nach den antikirchlichen Gesetzen der Revolution und der Einziehung der Kirchengüter kam es zu religiös motiviertem Widerstand von unten.

Umgekehrt ging der deutsche Intellektuellennationalismus nicht in einer Reaktion auf Verunsicherungen auf. Das Selbstbild der spezifisch deutschen Sozialformation des Bildungsbürgertums war ausgesprochen staatsnah und blieb der reformabsolutistischen Regierungsweise eng verhaftet. Außerdem gab es in Italien, Spanien und Frankreich noch andere soziale Trägerschichten des Nationalismus. Generell kann man einen Nationalismus aus dem Widerstand gegen die Französische Revolution und einen aus der Aneignung der Französischen Revolution unterscheiden. In beiden Fällen spielte die Haltung zu den Ereignissen in Frankreich die entscheidende Rolle. Der Nationalismus war eine Reaktion auf die Französische Revolution, positiv wie negativ.

Die These vom Bruch zwischen Tradition und Modernität

Damit werden aber auch allgemeine Probleme der Interpretation des modernen Nationalismus deutlich. Wenn der Nationalismus als eine Reaktion auf ein Vakuum und eine große Verunsicherung durch die Französische Revolution nach 1789 verkürzt wird, geht dies mit einer Überbetonung des Grabens zwischen Tradition und Modernität einher. Die politische Moderne wird dann nicht als allmählicher Übergang, sondern als ein Bruch mit der Tradition betrachtet. Das 18. Jahrhundert wird so vor allem auf der Seite der Tradition, kaum aber auf der Seite der Moderne gesehen. Letztlich steht diese Sicht vor der Gefahr, in der Geschichtsschreibung die Sicht der französischen Revolutionäre unkritisch zu übernehmen und ihre Selbststilisierung zur analytischen Kategorie umzudeuten. Die Revolutionäre sahen zwischen sich und dem vorangegangenen 18. Jahrhundert einen tiefen Bruch. Historiker übernahmen diese Sicht allzu oft in der vereinfachenden Unterscheidung zwischen statisch-traditionaler und dynamisch-moderner Gesellschaft. Weder war die traditionale Gesellschaft nur statisch, noch begann die moderne Gesellschaft mit einem großen Bruch mit der Tradition. Die älteren kulturellen, konfessionellen und regionalen Prägungen der politisch-sozialen Identität gingen mit der Französischen Revolution nicht verloren. Sie gerieten zwar unter Druck, entfalteten aber weiterhin ihre Wirkung. Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts beruhte nicht auf einem Bruch mit der Tradition, sondern auf Mischungen und Amalgamierungen von älteren kulturellen Merkmalen mit dem neuartigen Anspruch auf die nationalstaatliche Organisation der Gesellschaft.

Identitätskriterien

Aus dem Anspruch des Nationalismus, nationale Identität zu stiften, ergab sich zweierlei: die Inklusion möglichst breiter Teile der Gesellschaft, aber auch die Exklusion anderer Bevölkerungsteile, die nach kulturellen, religiösen oder ethnischen Kriterien nicht zur Nation gehören sollten. Wer die Existenz der Nation behauptete, fand sie nicht vor, sondern erschuf sie, indem er bestimmte Gruppen ausschloss. Inklusion und Exklusion wurden daher individuell gegensätzlich erlebt, von den einen als Befreiung aus kleinstaatlichen Zwängen, von den anderen als gewaltsamer Ausschluss. In allen Fällen aber definierten die Nationalbewegungen das Eigene und das Fremde gegenüber den älteren Identitätsentwürfen der feudalen Welt, des Absolutismus und der Monarchien auf neue Weise. Die Nation als Identitätsentwurf bedingte Inklusion und Exklusion, Befreiung von den Ansprüchen anderer Mächte und gewaltsame Trennung.

Die Nationalisten in Europa begründeten Nation und nationale Identität zumeist mit vorgängigen, vermeintlich objektiven Merkmalen. Dabei wurde eine Vielzahl von Merkmalen erwogen. Montesquieu (1689–1755) war im 18. Jahrhundert noch von der gruppenformierenden Kraft des Klimas ausgegangen. Überhaupt spielte die Geographie im 18. Jahrhundert noch eine bemerkenswert starke Rolle in der Begründung der Nation. Ernest Renan diskutierte in seiner Pariser Vorlesung von 1882 „Qu’est-ce qu’une nation?“ fünf verschiedene Kriterien: gemeinsame Sprache und Literatur, gemeinsame Abstammung und Rasse, gemeinsame Religion, Gemeinschaft der Interessen und die Geographie. Andere Nationalismustheoretiker fügten die lange historische Zugehörigkeit zu einem Staat oder zu einer Monarchie hinzu. Gemeinsam war diesen Entwürfen, dass ihre Kriterien substanzhaft verstanden wurden. Sie wurden ontologisiert und damit in den Bereich des Selbstverständlichen und des Natürlichen gerückt.

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