Читать книгу Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa - Siegfried Weichlein - Страница 14
b. Abstammung
ОглавлениеDer Rassenbegriff
Unter allen Kriterien, die zur Behauptung nationaler Identität herangezogen wurden, spielte die Abstammung langfristig die bedeutsamste und auch die gewalttätigste Rolle. Auf die biologische Abstammung beriefen sich die Rassenationalisten des 20. Jahrhunderts mit ihrer Auslese und Ausmerze. Tatsächlich aber besaß Abstammung im 19. Jahrhundert noch eine weitere Bedeutung und war noch nicht auf den späteren Biologismus des Rassenationalismus festgelegt. In den Debatten um die Berechtigung und das Wesen des Adels spielte der Begriff der „Race“, eine große Rolle. Rührte die Stellung des Adels von seiner Abstammung oder von seinen Verdiensten um das Gemeinwohl her? Der württembergische Liberale Moritz von Mohl (1802–1888) forderte 1848 die Abschaffung des Erbadels, denn erst wenn der Adel aufgehoben sei, „erst dann, wenn es nur noch ein Volk, keine zwei verschiedenen Ragen mehr gibt“, werde „die Freiheit wahrhaft und fest gegründet sein“. Der ständische ‚Racen‘-Begriff umfasste neben der Abstammung noch die gemeinsame sprachliche und kulturelle Herkunft. Ursprünglich soziokulturell aufgeladen weitete sich der Begriff der Race unter dem Einfluss des Sozialdarwinismus immer weiter auf das gesamte Volk aus. Seine ständisch-kulturellen Merkmale traten in den Hintergrund. Gleichzeitig verengte sich das Abstammungskriterium auf die biologisch-genetische Seite der Ahnenfolge.
Ethnizität
Aber auch in der modernen Nationalismusforschung wurde die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Ethnie als harter Kern der Konstruktion nationaler Identität behauptet. Ethnizität oder ethnicity wird heute als der geteilte Glaube an die gemeinsame Abstammung, nicht als biologisch-rassische Identität gesehen. Sie ist gebunden an eine historische (nicht biologische) Erinnerung, die individuell angeeignet wurde. Ethnicity ist das „quartet of myths, memories, values and symbols“. Sie besteht in „characteristic forms or styles and genres of certain historical configurations of populations“ (Anthony D. Smith).
Die ethnische Zugehörigkeit bildete gleichsam den harten Kern der so genannten objektiven Nationskriterien, die im 19. Jahrhundert von dem subjektiven Merkmal des Selbstbekenntnisses abgegrenzt wurden. Die Stammeszugehörigkeit galt als objektiv und eindeutig. Wichtig war im Zeitalter der romantischen Völkerpsychologie, dass der Glaube an die gemeinsame Abstammung genauso integrierend wirkte wie eine wirkliche Genealogie. Er legitimierte gleichzeitig Zwangshomogenisierungen mit Blick auf eine zukünftige homogene nationale Gesellschaft. Die ethnische Homogenität bestimmte auch den Blick in die Geschichte. Das „heil’ge Land Tirol“ sollte historisch immer von Tirolern bewohnt worden sein. Die Tiroler feierten den Aufstand gegen Napoleon als ihren Nationalmythos. Tatsächlich richtete sich der Aufstand in erster Linie gegen die bayerische Besatzung Tirols. Außerdem kämpften unter den Tiroler Aufständischen Deutsche, Italiener und Ladinischsprechende. Von einer ethnisch-sprachlichen Homogenität der Tiroler Aufständischen konnte keine Rede sein. Ähnlich verhielt es sich mit dem erfolgreichen griechischen Aufstand von 1822 gegen die türkische Herrschaft, der ebenfalls zur Gründungslegende einer homogenen Nation wurde. Neben den Griechen stellten Albaner, die so genannten Sulioten, die größte Gruppe der Kämpfer.
Gleichzeitig bildete die Abstammung schon früh ein Argument gegen andere Völker. In Osteuropa begründete die Vorstellung des „allgemeinen Slawentums“ die Oberhoheit bestimmter ethnischer Gruppen über andere. Die Slowaken und die Slowenen sahen in ihren Völkern die reinste Verkörperung des Slawentums. Beide Völker sollten Reste eines slawischen Urvolkes darstellen, worin sie sich vorteilhaft von ihren Nachbarn unterschieden. Wie wenig wirksam solche ethnischen Großannahmen freilich noch in der Praxis waren, zeigte die Haltung Russlands. St. Petersburg verweigerte den Westslawen seine Unterstützung unter Hinweis auf deren Katholizismus und westlichen Liberalismus. Umgekehrt bewog das Modernitätsgefälle von West nach Ost tschechische Nationalisten wie Karel Havlíček (1821–1856), an der Selbstständigkeit und Unverbundenheit der einzelnen slawischen Nationen festzuhalten, die untereinander weder Ehre noch Schmach teilten. Der Begriff der Slawen sollte der Erd- und Volkskunde, nicht aber der Politik vorbehalten bleiben.
Aufwertung der Landbevölkerung in den Nationalbewegungen
Die ethnische Selbststilisierung betraf seit der Romantik vor allem die Landbevölkerung. Sie galt als urtümlich, rein, unverfälscht und als Urbild des Volkes. Was dabei als Volk definiert und gefeiert wurde, spiegelte freilich oftmals den Erziehungswillen des städtischen Bürgertums. Hinter der historischen Stilisierung der schwäbischen Landbevölkerung mit ihren urtümlichen Volksliedern verbarg sich ein ausgeprägter kulturnationaler Erziehungswille der städtischen Nationalbewegung. Volkslieder entstanden in den Städten und nicht auf dem Land, wo Kirchenliedgut vorherrschte. Volkslieder bildeten die Art und Weise ab, wie sich städtische Liberale die Landbevölkerung vorstellten. Pointiert gesagt heißt das: „Volkslieder waren Lieder, die das einfache Volk nicht sang“ (Dieter Langewiesche). Dieser Zusammenhang war auch andernorts zu beobachten. Deutsche in baltischen Städten und finnische Schweden entdeckten im 19. Jahrhundert die nationalen Qualitäten ihrer umgebenden Landbevölkerung.
Der Stammesbegriff
Gegenüber der Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung eines Volkes wies der Stammesbegriff eine größere Flexibilität auf. Mehrere Stämme bildeten zusammen ein Volk, ohne dass sie unter sich gleich sein mussten. Die Rede von den vielen deutschen Stämmen und dem einen deutschen Volk – die Weimarer Reichsverfassung sprach vom „deutschen Volk einig in seinen Stämmen“ – erleichterte die Integration von Partikularismen, die ihre Eigenheit weiter behielten. Im Kaiserreich wurden so aus den Staatsvölkern Bayern und Sachsen Stämme, die zum deutschen Volk gehörten. Die Wappen am Berliner Reichstag versinnbildlichten den integrativen Sinn der Stammessemantik im nationalen Zeitalter. Diese Semantik erlaubte es auch den Juden, ihre nationale Zugehörigkeit als besonderer Stamm eines Volkes zu artikulieren.
Rassismus, Rassenation und „Rassenreinheit“
Doch Abstammungen, Stämme und Rassen lagen nie rein, sondern immer nur vermischt vor. Überall gab es nationale Minderheiten, die von nationalen Mehrheiten beherrscht wurden: die Iren von den Briten, die Rumänen und Slowaken von den Ungarn, die Bretonen von den Franzosen, die Tschechen, Dänen, Polen und Franzosen von den Deutschen. Für die Radikalnationalisten definierte die Rassengemeinschaft eine Nation stärker als die Abstammungsgemeinschaft. Die gemeinsame Abstammung traf noch keine Aussage über die rassische Herkunft. Spätestens seit 1890 wurden rassische Doktrinen zum festen Bestandteil der Kolonialpolitik der europäischen Mächte. Sie rechtfertigten die Überlegenheit der europäischen Kolonialmächte. Aber auch im Innern wurde die Rassedoktrin zum Herrschaftsmittel gegenüber Minderheiten. In vielen Rasselehren erschienen die Germanen als die eigentlich zur Herrschaft berufenen Menschen. Durch Joseph Arthur Comte de Gobineaus (1816–1882) „Essay sur l’inégalité des races humaines“ von 1853 und Houston Stewart Chamberlains (1855–1927) „Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts“ von 1899 drang diese Überzeugung in bürgerliche Schichten aller europäischen Staaten ein. Der germanischen Rassenation gehörte die Zukunft, wenn sie sich – wie Stewart Chamberlain nicht müde wurde zu betonen – rein erhielte. Die Rassereinheit und die nationale Einheit wurden so verhängnisvoll miteinander verknüpft. Reinheit wurde zum Signum von Einheit, wie der Spruch des Wiener alldeutschen Antisemiten Georg von Schönerer (1842–1921) „Durch Reinheit zur Einheit!“ verdeutlichte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete sich die Überzeugung, dass den Germanen langfristig die Befähigung zur Herrschaft zukomme. Das bezogen viele auf England, das in seinem Rechtssystem germanische Eigenheiten bewahrt habe. Andere dagegen, Chamberlain vorneweg, bezogen es auf Deutschland. Wissenschaftlich verbrämt hielt der Rassegedanke Einzug in die Bildungsstätten des Bürgertums, vorzugsweise die Universitäten. Die Vorstellung des rassisch reinen Kollektivs lebte von der Abgrenzung gegen imaginäre Feinde, zumal von der Abgrenzung gegen die Juden, die diese Reinheit zu gefährden schienen. Die Vorstellung der Rassereinheit richtete sich mit besonderer Vehemenz gegen die Juden.
Nationalismus und Antisemitismus
Mit dem rassischen Nationskriterium breitete sich der Antisemitismus in den bürgerlichen Trägerschichten des Liberalismus aus. Die rassische Ausgrenzung richtete sich vor allem gegen die Juden. Sie waren seit den 1860er Jahren Gegenstand der so genannten Judenfrage, der jewish question oder question juive. Diese Debatten wurden in allen europäischen Staaten geführt. Überall ging es darum, ob Juden Mitglieder einer Nation sein konnten oder ob sie eine eigene Nation darstellten. In Deutschland stellte dies Heinrich von Treitschke in seinem berüchtigten Artikel „Unsere Aussichten“ von 1879 in Frage. Diese Kontroverse wurde auch in England, Frankreich, Italien und Österreich-Ungarn ausgetragen.