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Eric Hobsbawm: Erfundene Traditionen – Invented traditions

Eric Hobsbawm: Das Erfinden von Traditionen, in: Christoph Conrad u. Martina Kessel (Hrsg.): Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 97–118, 97.

Der Begriff „erfundene Tradition“ (invented tradition) soll hier in einem weiten, aber dennoch nicht unpräzisen Sinn gebraucht werden. Er umfasst sowohl erfundene, konstruierte und offiziell eingerichtete „Traditionen“ als auch solche, die auf weniger leicht nachvollziehbaren Wegen in einem kurzen und datierbaren Zeitraum auftauchen – vielleicht innerhalb weniger Jahre – und sich sehr schnell durchsetzen. […] Der Begriff „erfundene Tradition“ steht hier für eine Reihe von Praktiken ritueller und symbolischer Natur, die meist von offenen oder stillschweigend anerkannten Regeln bestimmt werden. Sie versuchen bestimmte Werte und Verhaltensnormen durch Wiederholung einzuschärfen, was automatisch eine Kontinuität mit der Vergangenheit beinhaltet. Wenn möglich, versuchen sie eine Kontinuität mit einer brauchbaren geschichtlichen Vergangenheit herzustellen. […] Tradition in diesem Sinne muss klar unterschieden werden vom „Brauch“, der sogenannte „traditionelle“ Gesellschaften dominiert. Das Ziel und das Merkmal von „Traditionen“ ist die Unveränderlichkeit. Die tatsächliche oder die empfundene Vergangenheit, auf die sie sich beziehen, bestimmt ihre starren (meist formalisierten) Praktiken, wie z.B. die Wiederholung. Der „Brauch“ übernimmt in traditionellen Gesellschaften sowohl die Aufgabe des Motors als auch die des Schwungrades. Bis zu einem gewissen Grad schließt er Erneuerung und Wandel nicht aus, obwohl dabei natürlich die Notwendigkeit, mit dem Althergebrachten vereinbar oder gar identisch sein zu müssen, enge Grenzen auferlegt.

Europäische Nationalbewegungen rekurrierten zu ihrer Legitimation generell auf „erfundene Traditionen“. Die Nationalisten arbeiteten mit einer Semantik der „Wiedererweckung“, der „Wiedergeburt“, der „Auferstehung“, des „Wieder“ und nicht des „Neuen“. Sie sahen sich in der Rolle von Erweckern, die Nationen wie Dornröschen aus dem Schlaf der Selbstvergessenheit wachküssten. Jedoch handelte es sich in den meisten Fällen um Neuschöpfungen, wenn nicht sogar bewusste Fälschungen. Vor allem invented traditions einer gemeinsamen Abstammung suggerierten historische Kontinuität bis in unvordenkliche Zeiten. So benutzte die Schweizer liberale Nationalbewegung die Semantik der „Wiedergeburt“ und des „Wiederauflebens“ mittelalterlicher Traditionen, um den Sonderbundskrieg von 1847 gegen die innerschweizerischen katholischen Kantone, faktisch also einen Bürgerkrieg zu rechtfertigen. Dessen historisches Ergebnis, die Bundesverfassung von 1848, galt als „Regeneration“ einer uralten Ordnung aus der Frühen Neuzeit und dem Mittelalter. Erfundene Traditionen stellten Kontinuität mit der Vergangenheit in Zeiten scharfer politischer und sozialer Brüche her. Sie simulierten Objektivität und Natürlichkeit, wo sich alles änderte. Der Wandel wurde legitimiert durch die angeblich weit in die Vergangenheit zurückreichenden Ursprünge des Neuen.

Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa

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