Читать книгу Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa - Siegfried Weichlein - Страница 16
c. Kulturnation
ОглавлениеDie Nation als kulturelle Einheit
Im bürgerlichen 19. Jahrhundert verbanden sich Vorstellungen von Identität vor allem mit kulturellen Wertbezügen. Das Kriterium der Teilhabe an einer gemeinsamen Kultur für die Zugehörigkeit zur Nation war in denjenigen Ländern besonders einflussreich, in denen sich das Nationalbewusstsein nicht mit Traditionen historischer Staatlichkeit verknüpfte, vor allem also in Deutschland, Italien und in Ost- und Südosteuropa. Die kulturelle Identität sollte denjenigen festen Orientierungspunkt abgeben, den in Westeuropa der Staat dargestellt hatte. Kulturelle Leistungen, besonders in der Literatur, den Künsten und den Wissenschaften, konstruierten einen gemeinsamen Wertbezug. Mehr noch als bei anderen Kriterien kam hier der soziale Faktor zum Tragen. Denn Kultur, zumal Hochkultur, und der Zugang zu ihr waren sozial ungleich verteilt. Kultur wurde zum bürgerlichen Schlagwort mit der ganzen Emphase des Idealismus. Auf Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) gingen die beiden Sätze zurück, die heute noch das 1901 gegründete „Germanic Museum“ der Harvard Universität zieren: „Die That ist alles, nichts der Ruhm“ (Goethe, Faust I) und „Es ist der Geist, der sich den Körper schafft“. Darin drückte sich der idealistisch aufgeladene Stolz auf Bildung und Selbstständigkeit aus. In Deutschland entwickelte sich das Bildungsbürgertum zur Trägerschicht des Kulturnationalismus. Seine Deutungsmacht hielt bis in das 20. Jahrhundert hinein an. Noch die führenden Intellektuellen der 1920er Jahre sahen das eigentliche Problem ihrer Zeit darin, dass die ungebildeten, arbeitenden Massen, das so genannte Deutschland August Bebels, zu Goethe und Bach keinen Zugang hatte. Die Kulturnation basierte auf einem Kanon von kulturellen Definitionen. Sie war normativ aufgeladen und stabilisierte einen bürgerlich geprägten Kommunikationsraum.
Nationalbewegungen und Nationalmusik
Auch in den osteuropäischen Gesellschaften war die Verherrlichung der vaterländischen Kultur und Geschichte vornehmlich eine Sache der städtischen bürgerlichen Schichten. Nationalkultur, wie sie in Deutschland propagiert wurde, prägte auch die Nationalbewegungen im Königreich Böhmen, in den baltischen Staaten, aber auch in Italien. Dazu zählten Nationalliteraturen, die in der Forschung immer wieder behandelt wurden, aber auch Nationaltheater und Nationalmusik. Es gab Nationalopern und Nationalkomponisten wie Jean Sibelius (1865–1957) in Finnland, Giuseppe Verdi (1813–1901) in Italien und Michail Glinka (1804–1857) in Russland. Seit 1842 wurde auch in Dänemark die Musik als eine Magd i Staten, d.h. als ein zentrales Feld der kulturellen Nationsbildung beschworen. Niels W. Gade (1817–1890) avancierte zum dänischen Nationalkomponisten. Böhmen besaß deren drei: Bedřich Smetana (1824–1884), Antonín Dvořák (1841–1904) und Leoš Janaček (1854–1928). In Anknüpfung an die symphonische Tradition der österreichisch-deutschen Klassik und Romantik wollten die Nationalkomponisten eine „nationale Individualität“ entwickeln. Nationale Stoffe in Musik und Theater sprachen erst die adligen und dann die bürgerlichen Schichten an. Zuerst das Theater und dann die Oper übernahmen eine Vorreiterrolle in der kulturellen Nationsbildung. Das Bedeutungsgeflecht von Musik und Text eignete sich hervorragend für nationale Botschaften. Die Verfremdung der national zerrissenen Gegenwart in historischen Stoffen wurde vom Publikum rasch entziffert. Anspielungen und Unausgesprochenes verstärkten die nationale Wirkung. Im Gefangenenchor aus Giuseppe Verdis Oper „Nabucco“ von 1842 erkannte sich die italienische Nationalbewegung wieder. Wie die gefangenen Israeliten in Babylon sah auch sie sich im Exil. Eine eigene Nationalmusik entwickelte sich auch im Königreich Böhmen, wo Bedřich Smetanas „Die Moldau“ aus dem Zyklus „Mein Vaterland“ Stereotype des ländlichen Lebens für ein breites Publikum ästhetisierte. Ähnliches galt für Antonín Dvořáks Oper „Verkaufte Braut“ und für Carl Maria von Webers (1786–1826) „Freischütz“. Opern begründeten auch den nationalen Ruhm der russischen Komponisten Modest Mussorgski, Alexandr Borodin (1833–1887) und Nikolai Rimsky-Korsakov (1844–1908). Ohne eine Oper geschrieben zu haben, wurden indessen Frédéric Chopin (1810–1849) zum polnischen und Edvard Grieg (1843–1907) zum norwegischen Nationalkomponisten.
Bezeichnend für das kulturelle Selbstverständnis dieser Nationalkomponisten war, dass sie gerade nicht einem einzigen Vaterland, sondern der ganzen Welt angehören wollten. Der musikalische Nationalismus kannte ein starkes Sendungsbewusstsein verbunden mit Überlegenheitsgefühlen anderen musikalischen Traditionen gegenüber. Die drei B „Bach, Beethoven und Brahms“ wurden so zum musikalischen Markenzeichen deutscher Nationalkultur. Die Deutschen galten als ein „Volk der Musik“. Klassische Musik wurde über einen langen Zeitraum fast ausschließlich mit der Wiener Klassik und deutschen Komponisten von Joseph Haydn (1732–1809) bis zu Gustav Mahler (1860–1911) identifiziert. Selbst in den Vereinigten Staaten wurde Deutschland mit symphonischer Musik gleichgesetzt. Am Zusammenhang von musikalischem Universalismus und nationaler Identität setzte Thomas Manns (1875–1955) romanhafter Versuch der Erklärung des faustischen Nationalismus der Deutschen an, der 1933 in die Katastrophe führte (Doktor Faustus, 1947). Damit einher ging eine lange Liste idealistischer Topoi, die auf Deutschland projiziert wurden. Deutscher zu sein, bedeutete in der Fremdwahrnehmung, musikalisch und gefühlvoll zu sein sowie die Hochkultur schlechthin zu vertreten. Die New Yorker Philharmoniker stellten bis 1906 keinen einzigen nicht-deutschen Dirigenten an. Der Dirigent des Boston Symphony Orchesters Carl Muck (1859–1940), zuvor an der Königlichen Oper in Berlin tätig, suchte sich seine Musiker nicht vor Ort, sondern in Deutschland aus.
Kultur im emphatischen Sinne war von seiner Entstehung her einerseits ein Elitenprojekt, andererseits drang der bürgerliche Kulturkanon in breitere soziale Schichten vor. Für die Ausbreitung bürgerlicher Nationalkultur waren die erweiterte und schließlich effektiv durchgesetzte Schulpflicht genauso entscheidend wie die Expansion des Buchmarktes und die Zunahme von Zeitungen und Zeitschriften. In Frankreich war dieser Prozess in der republikanischen Volksschule sichtbar. Die kulturelle Kommunikation verdichtete sich in dem Maße, wie sie sich verschriftlichte. Texte ermöglichten Formen abstrakter Vergemeinschaftung zwischen Personen, die sich persönlich nie sahen. Die Zunahme kultureller Kommunikation in Presse und Buchmarkt begünstigte neue Formen abstrakter Identität. Kulturelle Gemeinschaften waren damit Kommunikationsgemeinschaften, die eine neue Form der Gemeinsamkeit zwischen einander im Alltag fremden Gruppen stifteten.