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Einleitung: Was ist eine Nation? Selbstbeschreibung und Theorie eines historischen Phänomens

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Warum entsteht die Nation gerade in Europa?

Europa war die Geburtsstätte der politisch-sozialen Idee „Nation“ und der Organisationsform Nationalstaat. „Dass es Nationen gibt, ist historisch gesehen das Europäische an Europa“, meinte der Mediävist Hermann Heimpel (1901–1988) zu Beginn der 1950er Jahre. Die Ursachen dafür führen weit in die frühneuzeitliche Geschichte Europas zurück. Die politische Organisationsform des Staates hatte sich hier zuerst durchgesetzt und auf spezifische Problemstellungen geantwortet, wie sie sich in Europa entwickelt hatten. Viele Staatsbildungen waren so stabil, dass sie die politischen und sozialen Krisen von Revolution und Industrialisierung überstanden und zum Kristallisationspunkt für die Neuorientierung in den tiefen Legitimationskrisen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts wurden. Die Nationen eroberten den Staat, bauten ihn von Grund auf um, aber sie beseitigten ihn nicht. Hinzu kam, dass die Vorstellungen der Volkssouveränität und des Selbstbestimmungsrechtes bereits lange vor der Ära der Nationen und Nationalstaaten im Ideenhaushalt der europäischen Gesellschaften fest verankert waren. 1581 hieß es in der Unabhängigkeitserklärung der niederländischen Generalstände: „Ein Volk ist nicht wegen des Fürsten, sondern ein Fürst um des Volkes willen geschaffen.“ Die Volkssouveränität bereitete die Vorstellung der Nation vor. In die gleiche Richtung deuteten Begriffe aus der religiösen Vorstellungswelt wie „heiliges Land“ oder „auserwähltes Volk“. Spezifisch europäisch war auch der andere Fundamentalprozess, der mit der Nationalisierung verwoben war: die Industrialisierung. Sie erzwang eine massenhafte Mobilität und stärkte damit das Interesse an einer überlokalen und abstrakten Identität, die man behielt, wenn man den Ort wechselte. Eine solche abstrakte Form der Identität war die Nation.

Definition des Begriffes „Nation“

Die Nation war eine gedachte Ordnung (Emerich Francis, M. Rainer Lepsius), die ein Kollektiv als eine Einheit bestimmte. Die Nation war ein vergleichsweise junges Ordnungsmodell, das am Ende des 18. Jahrhunderts in der Weise entstand, wie es im 19. und 20. Jahrhundert verwandt wurde. Ältere Ordnungsmodelle waren die Monarchie und das Reich. Auch diese Ordnungsmodelle stellten Einheit her. Ihr Einheitsbegriff bezog sich im Unterschied zur Nation auf die gemeinsame Beziehung zu einem Oberhaupt. Auf die kulturellen, ethnischen oder sprachlichen Eigenschaften des Untertanen kam es dabei nicht an. Die Religion stabilisierte diese Form der Ordnung. Die Einheit der Menschheit wurde durch den Schöpfer hergestellt. Nicht das Volk stellte seine Einheit her, sondern sein Schöpfer, irdisch vertreten durch die Religion und den Monarchen. Die Nation stellte diese Relation quasi vom Kopf auf die Füße. Die Einheit der Nation hing nun von den Untertanen ab. Das Volk legitimierte die politische Herrschaft. Wer die Entstehung und den Aufstieg von Nationen und Nationalstaaten als leitende politische Ordnungsmodelle erklären will, kann die Nationen nicht bereits voraussetzen. Er muss europäische Geschichte treiben.

Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa

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