Читать книгу Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa - Siegfried Weichlein - Страница 17
d. Religion
ОглавлениеAuch Religionen und Konfessionen bildeten Kommunikationsgemeinschaften. Objektiv vorgegebene Kriterien des Nationalen konnten sie schon deshalb nicht sein, weil der Konfessionswechsel im 19. Jahrhundert jedermann ohne Strafe möglich war. Die nationalisierende Wirkung von Religion und Konfession war also nicht vorgegeben, sondern sie wurde im Alltag erzeugt. Im Unterschied zu den bisher genannten Nationskriterien übersprang die Religion soziale Grenzen. Das machte sie bereits für die zeitgenössischen Nationalbewegungen attraktiv, um sozial inklusive Nationen zu bauen. Dafür wirkte die Konfessionslinie im 19. Jahrhundert national trennend. Fiel die Konfessionsgrenze mit der Sprachgrenze oder gar der ethnischen Grenze zusammen, verfestigte sie die nationalen Gegensätze enorm. Die Nationalbewegungen in Polen und Irland, aber auch der polnisch-ukrainische und der kroatisch-serbische nationale Gegensatz sind ohne den Einfluss der Religion nicht zu verstehen.
Der nationsbildende Faktor Religion war freilich alles andere als eindeutig. Die europäischen Staaten des 19. Jahrhunderts kannten nicht Religionen, sondern Konfessionen und Kirchen: Katholizismus und Protestantismus, wobei sich in der evangelischen Kirche Lutheraner deutlich von Kalvinisten unterschieden. Die christlichen Großkirchen reagierten auf die politische und gesellschaftliche Modernisierung mit einem konservativen Erneuerungsschub. Überall – entgegen einer weit verbreiteten Ansicht auch im Judentum – waren die konservativen und orthodoxen Vertreter in Kirche und Theologie auf dem Vormarsch. Während im liberalen Protestantismus, Katholizismus und Judentum große Sympathien für das Projekt der Nationalisierung bestanden, reagierten die Orthodoxen zurückhaltend bis ablehnend. Sie standen in Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien, Spanien und Frankreich im Bunde mit den Monarchien und sahen sich als Teil des Ancien Régimes. Die positiven Beziehungen zwischen der Religion und den europäischen Nationalbewegungen bezogen sich auf die national integrationswilligen Teile tendenziell überstaatlicher religiöser Gemeinschaften. Gleichzeitig markierten Konfessionen die Grenzen zwischen oder innerhalb von Nationalitäten. Der externe religiöse Gegensatz trat dort auf, wo eine Besatzungsmacht fremdgläubig war wie in Polen, in Irland oder bei den tschechischen Protestanten. Anders war dagegen die nationale Konstellation in den gemischtkonfessionellen Staaten Mitteleuropas, Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden. Hier standen sich die Konfessionen mit je eigenen Nationsvorstellungen gegenüber. Der nationalen Vorstellung der protestantischen Mehrheitskonfession antwortete eine der Katholiken.
Die säkulare Nation und die Religion
Mindestens genauso wichtig wie die religiöse Aufladung des Nationalismus war der Gegensatz der säkular verstandenen Nation zur Religion überhaupt. Das traf besonders auf den Katholizismus zu. Er stand für die laizistischen Nationalbewegungen in Frankreich, Italien und Spanien im Geruch des Aberglaubens, des Ewiggestrigen und der Gegenrevolution. Mit der Französischen Revolution war die Nation als ein säkulares Ordnungsmodell auf die Tagesordnung gekommen. Die katholische Kirche sah sich dagegen als Verteidigerin einer religiös (und nicht national) integrierten politischen Ordnung. Überall erzeugte dieses Gegeneinander von national-säkularen und national-religiösen Dispositionen scharfe Spannungen und Kulturkämpfe. Das Zeitalter der Nationalstaatsbildungen in Europa war auch dasjenige der Kulturkämpfe zwischen Staat und Kirche und scharfer konfessioneller Fehden zwischen Katholiken und Protestanten.
Nation und konfessionelle Schließung
Als ausgeprägte Einheitsvorstellung unterschied sich die Nation generell von älteren politisch-sozialen Ordnungsmodellen wie dem großflächigen Reich. Die Strukturen im Alten Reich waren noch konfessionell offen gewesen. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war konfessionell nicht festgelegt gewesen und hatte kein bestimmtes konfessionelles Wertesystem privilegiert. Das änderte sich aber mit dem Aufkommen der Nationalbewegungen. Die homogene Nation war mit der fein austarierten Mehrkonfessionalität des Alten Reiches nicht mehr in Einklang zu bringen.
Zutreffend ist das nationale Kriterium der Religion dagegen vor allem bei sprachlichen und ethnischen Minderheiten. Religion stärkte das Selbstbewusstsein von Nationalitäten. In Irland und Polen politisierte sich der Katholizismus in der doppelten Abgrenzung gegen eine andere Nationalität und Konfession. Aber es gab Ausnahmen wie die Polnisch sprechenden protestantischen Masuren in Ostpreußen bewiesen. Seit dem Ende der polnischen Rzeczpospolita, der polnischen Republik, im Jahre 1795 war die polnische Adelsnation, die Szlachta, politisch funktionslos geworden und zu einer rein sozialen Größe degradiert. Der soziale Protest gegen die adligen Großgrundbesitzer wurde zum nationalen Protest. Die katholische Landbevölkerung bestritt dem polnischen Adel sein nationales Alleinvertretungsrecht. Nicht der Adel und die Nation waren für die polnische Bevölkerung nunmehr eins, sondern der Katholizismus und die Nation, was eine territoriale Neuorientierung der polnischen Nation bedeutete, da zur Adelsnation auch orthodoxe und jüdische Siedlungsgebiete gehört hatten. Gleichzeitig grenzte der Katholizismus Polen gegen die fremdgläubigen preußischen und russischen Besatzer ab. Der Katholizismus wurde zum Kern der nicht mehr an die Nachbarn assimilierbaren Spoleczenstwo, also des polnischen Gemeinwesens mit eigener Presse und einem eigenen Vereinswesen. Wie sehr die polnische Nation an der katholischen Konfession hing, zeigte die Unterdrückung der unierten griechisch-katholischen Kirche durch das zaristische Russland 1875. Das Verbot der unierten Kirche und die Zwangskonversionen zur russischen Orthodoxie in den früher zu Polen gehörenden östlichen Gebieten Chelm und Podlasie trieben zahlreiche Unierte, die meisten von ihnen ukrainische Bauern, zur katholischen Kirche. Dort sprach man aber Polnisch. Im Ergebnis wurde dadurch die Polonisierung von Teilen der Ukraine vorangetrieben. Die Exklusionskraft gegen fremde Konfessionen ging nahtlos in Judenfeindschaft und Antisemitismus über. Die nationalen Abstoßungsreaktionen des französischen, deutschen und polnischen Katholizismus waren für Judenfeindschaft jeder Art besonders empfänglich.
Religion und die soziale Ausweitung der Nationalbewegungen
Sobald Religion zum Nationskriterium wurde, verbreiterte sich die soziale Basis der Nation und machte sie durchsetzungsfähiger. Dieser Mechanismus konnte auch in Irland beobachtet werden. Andere Formen der nationalen Aufladung von Religion stellten die Sezession des katholischen Belgien von den reformierten Niederlanden und die Hussitenfrömmigkeit der tschechischen protestantischen Nationalisten dar. Der politische Sinn der Erinnerung an den Reformator Jan Hus (1370–1415), der auf dem Konstanzer Konzil 1415 als Ketzer verbrannt worden war, bestand in der religiösen und nationalen Abgrenzung von der deutsch-österreichischen Reichsmacht.