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ОглавлениеJohann Gottfried Herder (1744–1803) Herder wurde 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) als Sohn eines Kantors geboren. Er studierte in Königsberg Theologie und Philosophie. Von 1764 bis 1769 war er Pfarrer und Lehrer an der Domschule in Riga. Nach einer längeren Frankreichreise trat er 1771 eine Predigerstelle in Bückeburg an. 1776 wechselte er als Generalsuperintendent nach Weimar, wo er die längste Zeit seines Lebens wirkte. Für die Nationalbewegungen in Europa wurde Herder als Sprachphilosoph wichtig. Die Sprache bedingte für Herder die Unverwechselbarkeit und geistige Eigentümlichkeit einer Gemeinschaft. Gerade über die Sprache war personale Mitteilung möglich, da die Sprache die geistige Konstitution von Persönlichkeit ausmachte. „Das Band der Zunge und des Ohrs knüpft ein Publikum. […] Wer in derselben Sprache erzogen ward, wer sein Herz in sie schütten, seine Seele in ihr ausdrücken lernte, der gehört zum Volk dieser Sprache. […] mittelst der Sprache wird eine Nation erzogen und gebildet, mittelst der Sprache wird sie Ordnung- und Ehrliebend, folgsam, gesittet, umgänglich, berühmt, fleißig und mächtig. Wer die Sprache seiner Nation verachtet, entehrt ihr edelstes Publikum; er wird ihres Geistes, ihres inneren und äußeren Ruhms, ihrer Erfindungen, ihrer feineren Sittlichkeit und Betriebsamkeit gefährlichster Mörder.“ Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität, Fünfte Sammlung, 57. Brief, in: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 7, Hrsg. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt a. M. 1991, S. 304f.
Herder und der Sprachnationalismus
Für Herder wurden Kollektive durch ihre Sprache konstituiert und gewannen erst dadurch ihre unverwechselbare Individualität. Über den sprachlichen Ausdruck wurde nicht nur individuelle Identität, sondern das typische Gepräge einer Gemeinschaft hergestellt. Herder ließ sich von einem religiösen und offenbarungstheologischen Verständnismodell leiten. So wie das Volk Israel durch göttliche Anrede (Offenbarung) konstituiert wurde, auf die es antwortete und in dieser Antwort seine Identität fand, so gestaltete sich auch ohne göttliche Anrede die Identität anderer Gemeinschaften. Erst durch Sprache entstand ein „Publikum“, Herders Begriff für ein Kollektiv, das öffentlich sichtbar und zu gemeinsamem Handeln fähig ist.
Die Welt war für Herder räumlich und zeitlich in Nationen eingeteilt. Die nebeneinander existierenden Völker besaßen alle jeweils eine Sprache. Zeitlich hatte jede Nation eine Periode „des Wachstums, der Blüte und der Abnahme“. Nationen galten ihm als Entfaltungen der Geschichte. Die geschichtliche Konkretion der Nation blieb an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit gebunden. Die Nationen waren nicht präexistent wie im Nationalismus des späten 19. Jahrhunderts. Als Theoretiker der nationalisierenden Wirkung der Sprachen wurde Herder zum Stichwortgeber der Nationalbewegungen der Litauer, Tschechen, Ukrainer etc. Besonders die osteuropäischen Nationalbewegungen hielten an der Sprache als Unterscheidungskriterium fest. Aus dem sprachphilosophischen Befund der nationalen Unverwechselbarkeit durch eine eigene Sprache wurde sukzessive eine nationale Ermächtigungsformel, die nicht mehr an der Unverletzbarkeit sprachlich integrierter Gruppen interessiert war, sondern an der Reinheit und Geschlossenheit sprachlicher Großgruppen.
Diese Reinheit der Hochsprache musste in den meisten Fällen erst geschaffen werden. Daran waren die Schulen und die Philologen maßgeblich beteiligt. Volksschulen mit einheitlichen Lehrplänen und in einheitlicher Sprache transportierten im 19. Jahrhundert die nationale Hochsprache bis in die letzte Region des Landes. Mit der Durchsetzung der Schulpflicht stieg daher auch der sprachliche Homogenisierungsdruck auf die verschiedenen Dialekte und Sprachen, die auf einem Staatsgebiet gesprochen wurden. Besonders erfolgreich war in dieser Hinsicht die französische republikanische Volksschule. Oftmals sprachen die Eltern Bretonisch, Baskisch oder Patois, während sich ihre Kinder für ihre Herkunft schämten und Französisch als ihre Alltagssprache annahmen (Eugen Weber). Auch in Spanien existierten nebeneinander Katalanisch, Baskisch, Galizisch und das kastilische Spanisch. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts setzten Nationalisten durch, dass das kastilische Spanisch zum „richtigen“ Spanisch wurde. Die anderen Sprachen galten dann nicht mehr als Spanisch. Der spanische Staat beachtete sie nicht weiter und ordnete sie den Regionen zu.
Nationalismus in Philologie und Linguistik
Im Habsburgerreich und in Osteuropa gewannen neben der Herderschen Sprachphilosophie die Philologie und die Linguistik an Bedeutung für die nationale Selbstbeschreibung. Sprachliche und ethnische Zugehörigkeit waren aber eng verflochten. Schon die spätaufklärerische Philologie entdeckte 1779 die gemeinsamen sprachlichen Wurzeln der Ungarn und der Finnen. Zuvor hatten die Ungarn ihre Ahnen eher bei den Türken und den Hunnen vermutet. Ihre nicht-indogermanischen Ursprünge lösten bei den Ungarn einen Sturm der Entrüstung aus. Die Gegner der magyarischen Nationsbildung hielten den Ungarn ihre asiatischen Ursprünge vor. Auch die Ungarn meinten, nunmehr verwundbar zu sein, weil sie jetzt alleine dastünden und von Fremden überschwemmt werden könnten. Das Bekenntnis zur politischen Einheit wurde identisch mit der ethnischen Einheit. Das ungarische magyar steht sowohl für die politische Zugehörigkeit zum Land (magyarország) als auch für das ethnische Bekenntnis zu Sprache und Kultur.
Eine slawische Nation?
Auch die anderen Nationalitäten im Habsburgerreich wie die Tschechen, die Kroaten, die Slowaken, die Slowenen und die Serben entdeckten ihre ethnischen Wurzeln. Es entstand aber keine gemeinsame sprachenübergreifende slawische Nation, obwohl sie von tschechischen Sprachforschern um Josef Jungmann (1773–1847) im Kampf gegen Napoleon ins Feld geführt wurde. Die „Göttin Slavia“ diente vielmehr der Abgrenzung gegenüber einer feindlichen, zumal deutschen Übermacht. Die slawischen Sprachen sollten sich so zueinander verhalten wie die ober- und niederdeutschen Dialekte. Eine bestehende slawische Schriftsprache sollte die Normsprache bilden.