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Ernest Renan: „Was ist eine Nation?“

Ernest Renan: Qu’est-ce qu’une nation? Was ist eine Nation?, in: Hannah Vogt, Nationalismus gestern und heute, S. 137–143, 141f.

Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit eines sind, bilden diese Seele, dies geistige Prinzip. Das eine liegt in der Vergangenheit, das andere in der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Vermächtnisses an Erinnerungen; das andere ist die gegenwärtige Übereinstimmung, der Wunsch, zusammen zu leben, der Wille fortzufahren, jenes Erbe nutzbar zu machen, das man ungeteilt empfangen hat. Der Mensch, meine Herren, wird nicht improvisiert. Die Nation, wie das Einzelwesen ist das Ergebnis einer langen Vergangenheit voller Anstrengungen, Opfer und Hingebung. Der Kult der Ahnen ist der legitimste von allen; die Vorfahren haben uns zu dem gemacht, was wir sind. Eine heroische Vergangenheit, der Ruhm (ich meine den wahren), das ist das gesellschaftliche Kapital, auf dem man einen nationalen Gedanken aufbaut. […] Man liebt in eben dem Maße, in dem man Opfern zugestimmt und Übel erlitten hat. […] Ja, gemeinsames Leid einigt mehr als die Freude. Was die nationalen Erinnerungen anbetrifft, so wiegen die Schmerzen mehr als die Triumphe; denn sie legen Pflichten auf; sie fordern gemeinsame Anstrengung. Eine Nation ist mithin eine große Solidarität, beruhend auf dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat und derer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus; sie bestätigt sich dennoch in der Gegenwart durch eine fühlbare Tatsache: durch die Übereinstimmung, den klar ausgedrückten Wunsch, das gemeinsame Leben fortzuführen. Die Existenz einer Nation […] ist ein Alltagsplebiszit, wie die Existenz eines Individuums eine fortwährende Bejahung des Lebens ist.

Die Willensnation

Nation und Nationalität gründeten sich für Keleti auf einem individuell-voluntaristischen Moment. Er stellte sich damit in eine lange Tradition von politischen Publizisten, die im individuellen Selbstbekenntnis den Kern der Nationalität sahen. Diese Ansicht teilten der Stuttgarter liberale Statistiker Gustav Rümelin (1815–1888), der Publizist und Politiker Julius Fröbel (1805–1893), der Wiener Soziologe Ludwig Gumplowicz (1838–1909), der ungarische Politiker Joseph von Eötvös (1813–1871) und der Italiener Giuseppe Mazzini (1805–1872). Vor allem der Ungar Eötvös ordnete die Nation dem Gefühlsleben zu. Die Nationalität wurde zum acte du coeur. 1865 schrieb Eötvös: „Die Nationalität ist nichts anderes, als jenes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, welches unter einer größeren Anzahl von Menschen, durch die Gemeinsamkeit der Erinnerungen ihrer Vergangenheit, ihrer gegenwärtigen Lage und die daraus entspringende Gemeinsamkeit ihrer Interessen und Gefühle erzeugt wird.“ Diesem älteren Grundgedanken folgte Ernest Renan in dem wohl berühmtesten Text zu Nation und Nationalismus, seiner 1882 gehaltenen Vorlesung an der Pariser Sorbonne „Qu’est-ce qu’une nation?“. Er übersetzte die communauté de leurs intérêts et de leurs sentiments (Eötvös) in eine grande solidarité (Renan). Diese Solidarität war für Renan durch gemeinsame historische Erfahrungen gestiftet und musste jeden Tag erneuert werden. Sie war ein plebiscite de tous les jours. Renan bestritt damit, dass die Nation auf einer wie auch immer gedachten Substanz beruhte, sei es auf Sprache, Kultur, Rasse, Religion oder Staatszugehörigkeit. Nationen beruhten auf Vorstellungen von Gemeinsamkeit, die durch Opfer, Erinnerungen und den Bezug auf eine geteilte Vergangenheit, aber auch durch Vergessen hergestellt wurden. Die abstrakte Vorstellung der Nation benötigte die Bejahung im Alltag. Sie hatte keine außeralltägliche Substanz, sondern erhielt ihre Bedeutung durch Formen der Zustimmung und permanenten Wiederholung. Die neuere Nationalismusforschung hat diese schon im 19. Jahrhundert formulierte Einsicht in die Bedeutung von Emotionen und Erinnerungen für Nationen und Nationsbildung inzwischen analytisch weiter entfaltet. Die Idee einer kulturellen Konstruktion von nationaler Gemeinschaft wurde zum gemeinsamen Nenner ansonsten so verschiedener Nationstheoretiker wie Carlton Hayes (1882–1964), Hans Kohn (1891–1971) und Karl W. Deutsch.

Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa

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