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ОглавлениеDer Sprachnationalismus Der Berliner Völkerpsychologe und Statistiker Richard Böckh (1824–1907) band die Existenz einer Nation an das Kriterium der „Volksprache“ (sic!): „Das charakteristische Zeichen der Völkerindividuen ist die Volksprache, weil die Sprache das naturgemäße gesellschaftliche Organ des Menschen ist; jede Nation erstreckt sich so weit, wie die Verständigung mittels einer Volksprache erfolgt. […] Die Sprache ist das unverkennbare Band, welches alle Glieder einer Nation zu einer geistigen Gemeinschaft verknüpft.“ Richard Böckh: Die statistische Bedeutung der Volksprache als Kennzeichen der Nationalität, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 4 (1866), S. 259–402, 264. „Mit dem Ausdrucke Volksprache kann man die Sprache bezeichnen, derer sich die zusammenlebenden Menschen im engsten Kreise der Familie und im weiteren Kreise des örtlichen und landschaftlichen Verkehrs zu ihrer Verständigung bedienen; sie ist das ihrem gemeinsamen Verständnisse entsprechende, ihr geistiges Gemeingut.“ Ders.: Der Deutschen Volkszahl und Sprachgebiet in Europa, Berlin 1869, S. 8.
Sprachnationalismus
Der Sprachnationalismus, der die Identität von Sprache und Nationalität behauptete, vergewaltigte die linguistische Karte Europas mehr, als dass er sie bewahrte. Selbst für die aufstrebende Statistik blieb das Sprachenkriterium zur Messung von Nationalität diffus. Nation und Nationalität tauchten als Zählgrößen für die Statistik erstmals im 19. Jahrhundert auf. Wissenschaftlich und methodisch geschult verwandten die Statistiker der europäischen Staaten ihren Scharfsinn darauf, dieses Kriterium auf die Zählung von Nationszugehörigkeiten anzuwenden. Die Sprache als Indikator für Nationalität bereitete jedoch die allergrößten Probleme. In der Praxis war nämlich oft nicht klar, welche Sprache gezählt werden sollte: die Familiensprache, die Behördensprache, die Kirchensprache, die Schulsprache etc.? Besonders Statistiker aus Österreich-Ungarn begegneten der Sprache als Nationalitätskriterium deshalb auch mit größter Skepsis und traten daher für die politische Zugehörigkeit zu einem Staat, für die Ersetzung des Individuums durch die Familie oder das Dorf als statistischer Zähleinheit ein. Bereits die bloße Messung des Nationalitätenkriteriums Sprache barg eine potenzielle Sprengkraft für die staatliche Einheit Österreich-Ungarns in sich.
In den letzten 50 Jahren des Habsburgerreiches steigerten sich die Sprachenkonflikte bis zur Zerreißprobe. Das Kaiserreich besaß cisleithanisch, d.h. in der österreichischen Reichshälfte, kein Gesetz über die Staatssprache. Dessen Rolle übernahm faktisch die Geschäftsordnung des Reichsrates. 1861 hielt zum ersten Mal ein dalmatischer Abgeordneter seine Rede in Serbisch, übergab jedoch eine deutsche Übersetzung für das Protokoll. Dieses Verfahren wurde nach 1867 zur Gewohnheit. Der Redenabdruck in den stenographischen Berichten basierte auf der deutschen Übersetzung. Die Wahlen von 1897 brachten zum ersten Mal eine nichtdeutsche Mehrheit im Reichsrat. Die formelle Gleichstellung der Sprachen in Rede und Protokoll erfolgte erst 1917, ein Jahr bevor die meisten der im Reichsrat nunmehr offiziell zugelassenen Sprachen zu Nationalsprachen wurden. Das übernationale Gebilde Österreich-Ungarn zerbrach nicht zuletzt an der Sprachenproblematik.
Die Normierung von Sprachen
Im 19. Jahrhundert normierten national begeisterte Philologen die Sprachen ihrer Völker. Was später Hochsprache genannt wurde, entstand aus einem Gemisch aus Standardisierung und Abgrenzung. Der estnische Nationalismus etwa war besonders stolz auf seine Sprachenabgrenzung gegenüber den Deutschen, die in den Städten wohnten. Die eigenständige Bezeichnung für „estnisch“ war jedoch sehr jung. Sie kam erst ab 1860 in Gebrauch. Die ländliche Bevölkerung Estlands bezeichnete sich bis dahin überwiegend als maarahvas, d.h. Landleute. Auch in Russland war die Bezeichnung für die vom Zaren beherrschte politische Einheit, die rossija, relativ jung. Sie entstand im 17. Jahrhundert. Russland selbst blieb das alte rus, sein Bewohner der russkij. Der litauische Nationalismus war besonders stolz auf seine Sprache, die angeblich die natürliche Sprache Litauens gewesen war. Tatsächlich aber war der letzte litauische Großfürst, der noch einigermaßen Litauisch sprechen konnte, in dem Jahr gestorben, als Kolumbus Amerika entdeckt hatte.
Belgien und die Schweiz als Testfälle
Vom Kriterium Sprache aus gesehen bildeten Belgien und die Schweiz Testfälle des Nationsverständnisses. 1830 bzw. 1848 entstanden, waren beide Staaten kulturell und sprachlich äußerst heterogen. In Belgien lebten französischsprachige Wallonen und Flamen zusammen, in der Schweiz deutsch-, französisch-, italienisch- und rätoromanisch sprechende Bevölkerungsteile. Von einer gemeinsamen Sprache oder gar Abstammung konnte keine Rede sein. Belgien bildete bis zur Französischen Revolution die österreichischen Niederlande. Die Schweiz war ein loser Staatenbund von mächtigen und weniger mächtigen Kantonen. An der Frage, ob beide, Belgien und die Schweiz, Nationalstaaten waren, schieden sich die Geister. 1836 meinte die französische „Encyclopédie nouvelle“, Belgien besitze keine Geschichte, sei ein buntes Konglomerat von kleinen Einheiten ohne ein eigenes Gravitationszentrum. Geschichte sei in Belgien immer die Geschichte von anderen, nämlich Spaniern, Franzosen und Holländern, gewesen. Selbst den Namen des eigenen Landes habe man sich von den alten Galliern geborgt. Für Sprachnationalisten, Abstammungsanhänger und erst recht für Rassenationalisten stellten Belgien und die Schweiz in sich widersprüchliche Gebilde dar, die es eigentlich gar nicht geben konnte. Den nationalen Charakter der Staaten bejahten dagegen die Vertreter der Staatsbürgernation. Sobald die Zugehörigkeit zu einem Staatsverband und staatsbürgerliche Rechte das Kriterium des Nationalen bildeten, waren auch Belgien und die Schweiz Nationen.
Nationalsprachen
Nationalbewegungen veränderten die Sprachenlandschaft, die sie vorfanden. Im Zentrum des Sprachnationalismus stand die Vorstellung der Nationalsprachen. Ein besonders drastisches Beispiel hierfür bildet das Neuhebräisch, das Ivrit, das 1948 zur offiziellen Sprache des israelischen Staates wurde. Die Arbeit der Nationalbewegungen an der Nationalsprache konnte an ältere Institutionen anknüpfen. Die Normierung und Standardisierung von Hochsprachen geschah in Akademien wie der 1582 gegründeten „Academia della Crusea“ in Florenz, der 1635 gegründeten „Academie Française“ oder der 1713 gegründeten „Real Academia Espanola“. In England, wo es keine Akademie gab, wirkte das „King’s English“ in die gleiche Richtung. Das Neu-Norwegisch mit einer eigenen Schriftsprache wurde in den 1850er Jahren von dem Linguisten Ivar Aasen (1813–1896) aus verschiedenen westnorwegischen Dialekten entwickelt. Die andere Schriftsprache, das Buch-Norwegisch oder Bokmål, war unter der städtischen Bevölkerung verbreitet.
Generell galt: Die Nationalsprachen orientierten sich an der Bildungssprache der Eliten. Über das öffentliche Schulwesen und die Verwaltung wurde sie zur Landessprache. Die Nationalbewegungen leiteten aus dem Sprachkriterium mehrere Forderungen ab: Die Forderung nach dem Recht, seine eigene Sprache sprechen zu dürfen und bei Behörden in der eigenen Sprache reden zu dürfen und angesprochen zu werden, teilten alle Sprachnationalisten. Dieses Recht war ihnen so wichtig wie das Recht auf die freie Ausübung der Religion. Die Sprachengemeinschaft blieb lange wichtiger als die staatliche Gemeinschaft, die diese Rechte einschränkte oder gar verweigerte.