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Die Nation als gedachte Ordnung

M. Rainer Lepsius: Nation und Nationalismus in Deutschland, in: ders.: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1988, S. 232–246, 233.

Die Nation ist zunächst eine gedachte Ordnung, eine kulturell definierte Vorstellung, die eine Kollektivität von Menschen als eine Einheit bestimmt. Welcher Art diese Einheit sein soll, ergibt sich aus den Kriterien für die Bestimmung der nationalen Kollektivität in der Ordnungsvorstellung der Nation. Sind dies ethnische Kriterien, so bestimmt sich eine Nation als ethnische Abstammungseinheit; sind dies kulturelle Kriterien, so stellt sich die Nation als Sprachgemeinschaft dar. Sind es Kriterien staatsbürgerlicher Rechtsstellung, so ist die Nation eine Einheit von Staatsbürgern. Je nach den Kriterien und ihrer Mischung ergeben sich unterschiedliche Kollektivitäten von Menschen, die untereinander einen nationalen Solidaritätsverband formen sollen. Die Eigenschaften, die in einer gedachten Ordnung der Nation Geltung gewinnen, begründen daher unterschiedliche Arten von Nationen. Die Nation ist daher keineswegs eine naturwüchsige und eindeutige Ordnung des sozialen Lebens, sie ist über die Zeit veränderlich und an die realen Machtkonstellationen der geschichtlichen Entwicklung anpassungsfähig.

Wellen der Nationalstaatsbildung

In Europa entstanden Nationalstaaten während des langen 19. Jahrhunderts zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg: auf der Basis des Nationalitätsprinzips in Italien (1860) und Deutschland (1871), durch Anerkennung kleinerer Gemeinwesen und Trennung in Belgien (1830), in Griechenland (1822), in Serbien (1878), Rumänien (1862) und Bulgarien (1908), aber auch durch allmähliche Umgründungen in Frankreich, Großbritannien, der Schweiz, in Spanien, Portugal und in den skandinavischen Ländern. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der Nationswerdung zahlreicher europäischer Staaten. Nach dem Ersten Weltkrieg lösten die Pariser Friedensverträge eine zweite Welle von Nationalstaatsgründungen in Osteuropa (Polen, Tschechoslowakei, Österreich, Ungarn, Jugoslawien, Litauen, Lettland, Estland), aber auch in Irland (1921) aus. Frühere europäische Kolonien wie Indien oder Indonesien organisierten sich erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als Nationalstaaten. Die Entkolonialisierung nach 1945 etablierte das nationalstaatliche Prinzip als die typische Organisationsform in den neuen Staaten Afrikas und Asiens. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa 1991 dehnte sich dieser Prozess auch auf den Ostblock und die frühere Sowjetunion aus. Der Nationalstaat entstand als Organisationsform moderner Gesellschaften im 19. Jahrhundert in Europa und wurde im 20. Jahrhundert zu einem Exportschlager.

Primärer und sekundärer Nationalismus

Was für die Nation und den Nationalstaat galt, traf auch auf den Nationalismus zu. Die Nationalbewegungen der Entwicklungsländer übernahmen den Nationalismus als Staatsgründungs-, innere Konsolidierungs- und Modernisierungsideologie. Nach außen sicherten sie damit ihren Gebietsstand, nach innen begründeten sie so in der Regel ein Programm industrieller und gesellschaftlicher Modernisierung. Nation, Nationalstaat und Nationalismus wurden seit dem Zweiten Weltkrieg von ihrem Entstehungsort Europa in die Dritte Welt übertragen. Die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung gehört seitdem zu den international akzeptierten politischen Forderungen in der Völkergemeinschaft. Nationalisten in der Dritten Welt und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion machten regen Gebrauch davon. Diese neuen Staaten adaptierten damit eine politische Vorstellung, die für die gesellschaftliche Entwicklung ihrer Kolonialmächte entscheidend gewesen war. Das galt im Prinzip auch für die Sowjetunion, die das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten formell anerkannte. Der Nationalismus entstand in der Ersten Welt. Diesem primären Nationalismus folgte der sekundäre in der Dritten Welt.

Nationalismus in der Dritten Welt: „Modularität“ oder „endogene Entwicklung“

Unklar ist der sachliche Zusammenhang zwischen den Nationalismen in der Ersten und in der Dritten Welt. Hier steht die These der Nachahmung und Adaption gegen diejenige der endogenen Entwicklung. Soziologisch gesehen bildet die Nachahmung eines der großen und wichtigsten Prinzipien im Aufbau sozialer Ordnung. Der Anthropologe Benedict Anderson (geb. 1936) ging von einer „Modularität“ des Nationalismus aus. Die Befreiungsbewegungen in Südamerika standen unter dem Einfluss der Französischen Revolution und der Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten. Sobald der kreolische Nationalismus seine eigenen nationalen Mythen durch eine eigene Buchkultur und Druckindustrie aufgebaut hatte, was im 19. Jahrhundert geschah, bildete er ein „blueprint“, das von anderen Befreiungsbewegungen nachgeahmt werden konnte. „In effect, by the second decade of the 19th century, if not earlier, a model of the independent national state was available for pirating“ (Benedict Anderson). Das Modell einer durch den literarischen Betrieb erzeugten nationalen Vorstellung konnte auf andere Länder übertragen werden und sich neuen Bedingungen anpassen. Es war modular. Dagegen meinte der indische Nationalismusforscher Partha Chatterjee (geb. 1947), dass die Nationalismen in der Dritten Welt aus endogenen Ursachen heraus entstanden seien. Er bezweifelte, dass es sich dabei um einen Import handelte. Pandoras Büchse, die in Europa stand, scheint nach den nationalistischen Gewaltexzessen der 1990er Jahre weiter denn je geöffnet.

Die Geschichtlichkeit des Nationalstaates

Der Nationalstaat stellte die typische Organisationsform moderner Staaten dar. Moderne Gesellschaften sind normalerweise als Nationalstaaten innerhalb eines Systems von Nationalstaaten verfasst (Anthony Giddens). Dennoch zeichnet sich seit einigen Jahrzehnten ein Formenwandel, wenn nicht gar ein Bedeutungsverlust des Nationalstaates ab. Bereits die Vereinigten Staaten von 1776 bzw. 1788 waren kein klassischer Nationalstaat, wie er sich in Europa zu dieser Zeit bereits ankündigte. Die Globalisierung der Märkte und die Transnationalisierung der Politik begünstigen im 20. Jahrhundert neue Formen der Zugehörigkeit, die nicht mehr von der Geschäftsgrundlage des Nationalstaates ausgehen, der Identität von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt (Georg Jellinek). Auch die Europäische Union folgt nicht mehr der Logik des Nationalstaates, dessen politische Handlungsmöglichkeiten auf der Deckungsgleichheit von Territorium, nationaler Loyalität und politischem System beruhten. Sie ist nicht mehr als Nationalstaat beschreibbar. Das Zeitalter des Nationalstaates scheint damit einen Anfang und ein Ende zu haben. „Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden enden“ (Ernest Renan). Der Nationalstaat ist keine metageschichtliche Kategorie, sondern er ist historisierbar und ein Gegenstand der Geschichtswissenschaft.

Das 19. und auch das 20. Jahrhundert können als die Epoche der „Eroberung des Staates durch die Nation“ (Joseph Thomas Delos) verstanden werden. Staaten waren der Sache und der Selbstbeschreibung nach älter als Nationen. Ein französischer Staat existierte lange vor der französischen Nation. Das gleiche galt für Spanien und England. Aus der älteren Staatlichkeit führte dennoch kein gerader Weg in die moderne Nationalstaatlichkeit. Aus einigen Staaten wurden Nationalstaaten, aus anderen dagegen nicht. Ernest Renan (1823–1892) wies 1882 prägnant auf die Unterschiede zwischen historischen Staaten und modernen Nationalstaaten hin: „Warum ist Holland eine Nation und Hannover und das Großherzogtum Parma nicht? Wie kommt es, dass Frankreich weiter eine Nation bleibt, auch wenn das Prinzip, durch das es geschaffen wurde, verschwunden ist? Wie kommt es, dass die Schweiz mit drei Sprachen, zwei Religionen, drei oder vier Rassen eine Nation ist, während beispielsweise die Toskana keine ist? Warum ist Österreich ein Staat, aber keine Nation?“

Auch heute besitzt längst nicht jede konturierte Nationalität oder Region einen Nationalstaat. Europa kannte nach dem Ersten Weltkrieg 27 Nationalstaaten (mit Irland), alleine in Westeuropa aber gibt es heute 42 regionalistische Bewegungen, viele mit dem Anspruch auf eine eigene Nationalität. Aus den großen osteuropäischen Reichen, dem Habsburgerreich, dem Zarenreich und dem Osmanischen Reich, wurden nach dem Ersten Weltkrieg Nationalstaaten, ein Vorgang, der sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 wiederholte. Besonders das Vielvölkerreich Österreich-Ungarn hat die Nationalismusforscher immer wieder herausgefordert. Viele der einflussreichsten Theoretiker der europäischen Nationalismusforschung stammen aus Österreich-Ungarn. Sie besaßen aus eigener Anschauung einen geschärften Blick für die Nationalitätenpolitik. Hierzu zählten Karl W. Deutsch (1912–1992), Ernest Gellner (1925–1995) und Eric Hobsbawm (geb. 1917), dessen Mutter Wienerin war und der seine Kindheit in Wien verbracht hat.

Nation und Gesellschaft

Die Karriere des Begriffes der Nation ähnelt derjenigen der Gesellschaft. Beide dienten der Emanzipation vom Staat, beide wollten neue Formen des Selbstbewusstseins und der staatsfreien Selbstorganisation entwickeln. In den Begriffen der „Nation“ und der „Gesellschaft“ drückte sich die Emanzipation vom allmächtigen Staat des Absolutismus aus, einmal als politischer Anspruch, einmal als bürgerliches Selbstbewusstsein. Vorreiter dieses nationalen Selbstbewusstseins waren die gebildeten Schichten. Heinrich von Treitschke (1834–1896) verkörperte diesen Professorennationalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie kein anderer. Seine akademische Karriere hatte er mit einer Studie über den Gesellschaftsbegriff begonnen. Im Deutschen Kaiserreich wurde er zum Stichwortgeber für den radikalen Studentennationalismus. Auch der Begründer der modernen französischen Soziologie Émile Durkheim (1858–1917) verstand sich als ein französischer Patriot. Die Nation als Projekt nahm unterschiedliche Formen an und diente verschiedenen Funktionen. Sie bildete einerseits einen Identitätsentwurf einer nach außen abgegrenzten Wir-Größe. Die Nation erzeugte Wir-Bewusstsein. Andererseits unterstützte die Nation das Integrationsbemühen von Staaten in Zeiten rasanten gesellschaftlichen Wandels. Der Anspruch, eine Nation zu sein, ermöglichte ihnen eine bisher nicht gekannte Mobilisierung von Ressourcen in ihren Gesellschaften.

Nationalismus als Systemintegration und soziale Integration

Im Folgenden sollen die Nationalbewegungen und Nationalismen im Europa des 19. Jahrhunderts analysiert werden. Die Nation stellte das Ergebnis mindestens zweier gleichzeitiger historischer Prozesse dar: Systemintegration und soziale Integration. Nationsbildung bedeutete zum einen Systemintegration in ein neues politisches Ordnungsmodell, die Nation bzw. den Nationalstaat. Dieses Modell stand seit der Französischen Revolution bereit: Es legitimierte und organisierte die politische Herrschaft neu. Insofern war die Geschichte der Nationalbewegungen die Geschichte der Rezeption, Aneignung und Abwandlung eines Systemmodells. Erfolgreich konnte diese Systemintegration aber nur dort sein, wo zum anderen die soziale Integration Fortschritte machte. Ein Gewinn an sozialer Zusammengehörigkeit unter dem Leitbild der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Nation war die Voraussetzung für die Systemintegration in einen Nationalstaat. Die Geschichte der Nationalbewegungen kreiste so betrachtet um mehrere Formen der Integration durch neue nationale Wissensformen, Repräsentation, Demokratie, Vereine und Verbände und nicht zuletzt durch Mythen.

Der Zusammenhang zwischen beiden Formen der Integration, der Systemintegration und der Sozialintegration durch Nationalbewegungen und Nationalismus, soll im Folgenden dargestellt werden. Die ersten beiden Kapitel umreißen die beiden nationalen Funktionsweisen von Identität und Integration. Was ist nationale Identität? Wie geschieht nationale Integration? Das dritte Kapitel untersucht die zeitliche Entstehung der Nationalbewegungen. Wann entstand der moderne Nationalismus? Das vierte Kapitel wendet sich den sozialen Trägerschichten des Nationalismus zu. Wer war national? Wann wurden bestimmte soziale Gruppen national? Welches nationale Selbstverständnis brachten diese sozialen Gruppen mit sich? Wie änderte es sich? Die Nationalisierung der Massen, Gegenstand des fünften Kapitels, umfasste so unterschiedliche Bereiche wie die Wehrpflicht, den Gefallenenkult, Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht. Die europäischen Nationalbewegungen änderten ihre Mobilisierungsformen im Laufe des 19. Jahrhunderts gründlich. Der Nationalismus trat jetzt typischerweise in Vereinen auf. Seine radikalste Form war der integrale Nationalismus, der seine Loyalität nur noch dem obersten Wert Nation zuordnete. Abschließend werden die Geschichtsbilder und Mythen der Nationalbewegungen analysiert, wobei neben dem neuen Genre der Nationalgeschichten die Bedeutung von Religion für die Nation zentral war. Der Auserwählungsgedanke und der nationale Messianismus artikulierten zwei Formen der religiösen Aufladung des Nationalismus.

Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa

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