Читать книгу Die Erinnerung an unbekannte Städte - Simone Weinmann - Страница 11

Alkohol

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Nathanael wurde von Samuels Weinen geweckt. »Was ist?«, fragte er. Vor dem Fenster war es dunkel, es musste mitten in der Nacht sein. Samuel lag zusammengerollt im Bett, seine Kerze brannte noch.

»Elias«, murmelte Samuel. »Er ist krank.«

»Was hat er?«

»Weiß nicht, er ist ohnmächtig.«

Nathanael sprang auf. Beim Abendessen am Dorffest hatte Elias noch gesund ausgesehen. Er öffnete die Tür zum Gang. Unten im Wohnzimmer hörte er leise Stimmen. Schnell stieg er die Treppe hin unter.

Die Eltern saßen bei Elias, der weich und schlapp auf dem Sofa lag. Der Vater blickte auf und schüttelte den Kopf. »Er hat eine Alkoholvergiftung.«

»Mit elf«, fügte die Mutter an. Ihre Augen waren gerötet. Sie streckte die Arme nach Nathanael aus, und er ging hin und umarmte sie. In ihren Kleidern hing der Geruch nach Holzfeuer und Alkohol.

»Er hat die herumstehenden Weingläser leer getrunken«, sagte sie. »Fang mir jetzt nicht mit deinen Bakterien an.« Die Mutter lächelte ein wenig.

»Wird er wieder gesund?«, fragte Nathanael.

Der Vater seufzte. »So Gott will.«

»Natürlich wird er wieder gesund.« Die Mutter stand auf. »Aber es ist zum Verrücktwerden. Da gehen wir herum und versuchen, mit den Leuten über den Glauben zu sprechen. Und zur gleichen Zeit …«

»Erst du«, sagte der Vater mit bitterer Stimme. »Und jetzt Elias.«

»Ich trinke doch nicht«, wehrte sich Nathanael. »Ich versuche nur, ein paar Dinge besser zu verstehen.«

Die Eltern schauten sich vielsagend an, dann wandte sich die Mutter ihm wieder zu und blickte ihn streng an. »Alles, was wir wissen müssen, steht in der Bibel und im Evangelium.«

»Hör auf deine Mutter«, fügte der Vater an. »Du bist jung. Du hast nicht gesehen, was wir gesehen haben.«

»Ich habe gesehen, wie sehr Rahel …«

»Nicht jetzt, Nathanael«, sagte die Mutter scharf.

»Und wenn Elias aufhört zu atmen?«, fragte Nathanael.

»Gott schaut auf uns. Er wird uns nicht noch ein Kind nehmen«, sagte die Mutter. Ihre Stimme klang entschieden. Der Vater sah Nathanael warnend an.

»Wenn wir einen Arzt hätten …«, sagte Nathanael trotzdem.

»Nathanael, wir haben das schon tausend Mal besprochen. Früher gab es so viele Ärzte«, sagte die Mutter. »Was hat es uns genützt?«

Nathanael dachte an Rahel. Als sie um Luft gerungen hatte, wollte der Vater doch noch bei der Zentrale einen Arzt holen, aber es war zu spät gewesen.

Elias’ Brustkasten hob und senkte sich langsam. Der Vater strich ihm vorsichtig über die bleichen Wangen.

»Geh ins Bett«, sagte die Mutter. »Wir bleiben wach und beten für Elias. Und für dich.«

Nathanael stapfte die Treppe hinauf, verharrte kurz und warf einen Blick zurück. Die Eltern beugten sich über Elias. Beide hatten den rechten Daumen auf ihre linke Handfläche gelegt, die Mutter murmelte ein Gebet. Die Worte verstand er nicht, aber er hörte das Vertrauen in ihrer Stimme und dahinter die Angst.

Im Zimmer war es dunkel, Samuel atmete ruhig. Nathanael legte sich ins Bett. Er blies die Kerze aus und starrte mit weit geöffneten Augen ins Dunkel. Jeden Moment erwartete er, dass die Eltern anfangen würden zu schreien. Er würde nach unten rennen und Elias beatmen, er hatte gelesen, wie es ging.

Doch es blieb still.

Die Erinnerung an unbekannte Städte

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