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Spinnen

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Ludwig saß am Küchentisch und studierte ein Schaubild, das den Körperbau einer Spinne zeigte. Je länger er es betrachtete, desto weniger sah es aus wie ein Lebewesen. Stattdessen ähnelte es einem Wegnetz, das in viel zu viele verschiedene Richtungen verlief. Eine Kreuzung mit einem Vorderleib, einem Hinterleib und Tastorganen.

Dabei spürte er, wie seine Kehle langsam anschwoll. Schon am Morgen war er mit einem Kratzen im Hals aufgewacht.

Er wusste kaum etwas über Spinnen. Sein Biologielehrer am Gymnasium war ein verträumter, langsamer Mann mit Bart gewesen, dem er gerne zuhörte, solange es nicht um das Innere des Menschen ging. Und doch war ihm vom gesamten Biologieunterricht nichts geblieben. Das hatte er erst vor ein paar Jahren gemerkt, als er anfing, das Fach in der Dorfschule zu unterrichten.

Während des Studiums war er einmal bei einem Kollegen zu Hause gewesen, um zu lernen. In seinem dunklen und unaufgeräumten Schlafzimmer hatten mehrere Terrarien gestanden, in denen Vogelspinnen lauerten. Ihr Biss sei gar nicht so gefährlich, hatte der Kollege behauptet. Ludwig hatte sich die Vogelspinnen höflich angeschaut. Wie konnte der nur in diesem Zimmer schlafen? Er hatte ihn nie wieder besucht.


Ludwig hielt das Schaubild in der einen Hand und zeichnete es mit der anderen an der Tafel langsam nach. Die Tracheen, die Spinndrüsen und die Augen. Hinter sich hörte er das leise Schaben der Bleistifte. Er kam sich vor wie ein Hochstapler, als hätte er das Innere der Spinne frei erfunden, oder sei zumindest auf eine Erfindung hereingefallen.

Seine Kreide brach ab, er bückte sich danach und hörte die Schüler hinter sich tuscheln. Als er sich wieder aufrichtete, wurde ihm schwindlig. Er stützte sich mit der Hand an der kühlen Wandtafel ab und schloss kurz die Augen. Dann malte er weiter. Schweiß rann ihm über die Stirn, seine Nase kitzelte, und es war ihm egal, dass die Schüler lauter wurden. Nach einer Weile setzte er sich an sein Pult und sagte, sie sollten den Text aus dem Biologiebuch lesen, wenn sie mit dem Abzeichnen fertig waren. Sarah meldete sich.

»Ja, Sarah?«, sagte Ludwig.

»Spinnen sind eklig. Können wir stattdessen nicht lieber Schmetterlinge behandeln?«

»Schmetterlinge sind auch ekelhaft, wenn man sie sich genau anschaut«, warf Marion ein.

Marion saß neben Vanessa und schwieg meistens. Wenn sie doch einmal etwas sagte, schien es ein besonderes Gewicht zu tragen, und Ludwig hatte das Gefühl, darauf ermutigend reagieren zu müssen. Aber ihm fiel nichts ein.

Vanessa verdrehte die Augen. »Ich bringe ständig Spinnen auf der bloßen Hand nach draußen. Die beißen nicht.«

»Typisch«, sagte Sarah verächtlich.

Ihre Freundinnen lachten. Marion sank tief in ihren Stuhl. Vanessa schaute Ludwig wütend an. Aber was sollte er tun, er hatte keine Lust, noch mal eine Rede darüber zu halten, wie nützlich Spinnen waren und dass sie Wespen fingen, das hatte er alles schon gesagt.

Er bereute, keine Spinne in einem Glas mitgebracht zu haben, die er der Klasse zeigen konnte. Daran hätte er denken sollen. Aber jetzt im Winter gab es ohnehin nicht so viele. Ludwig unterdrückte ein Niesen, sein Kopf schmerzte immer stärker.

Sein Blick wanderte von der Klasse zur großen Landkarte an der Wand. Das Gebiet, in dem sich das Dorf befand, Nord 1, war blau eingezeichnet, daneben, verstreut über die Landschaft, die anderen Gebiete, Ost 2 in Gelb, Süd 1 in Rot, West 3 in Grün, dazwischen graue leere Landschaft. Im grauen Niemandsland lag auch die Stadt, in der er studiert hatte, er sah ihre Straßen noch vor sich, die Fassaden mit den eingemeißelten Statuen, die langen Busse, die Apotheken, in denen es diese kombinierten Grippemittel gab, die einen so wunderbar schlafen ließen.

»Pause«, verkündete er, obwohl es zu früh war.

Die Erinnerung an unbekannte Städte

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